Nachdem gestern gegen 23 Uhr die Etherpad-Dienste der Piratenpartei unvermittelt heruntergefahren wurden, herrschte zunächst Verwirrung ob der Abschaltung der beliebten Piratenpads. Die Piratenpads stellen einen Ableger bzw. Weiterentwicklung (Fork) der freien Software Etherpad dar und sind nicht nur bei Piraten und Freibeutern zur kollaborativen Erstellung von Texten wie Protokollen, Pressemitteilungen bis hin zu ganzen Parteisatzungen beliebt – sondern auch bei zahlreichen Vereinen und NGOs jenseits der Piraten wie zB. der Occupy-Bewegung oder gar anderen politischen Parteien. So nutzt beispielsweise die Berlinder Abgeordnetenhausfraktion der LINKEN das PiratePad-Angebot der schwedischen Schwesterpartei Piratpartiet.
In die Verwirrung von gestern Abend brachte der kurze Tweet der Piraten-BundesIT kaum Erhellung. Hier hieß es lediglich, dass die Padserver abgeschaltet wurden. Innerhalb von Minuten kamen Erinnerungen an #servergate im Mai hoch, das Meme #padgate war geboren und wurde zum Trending Topic auf Twitter. Zu diesem Zeitpunkt war außer den an der Abschaltung Beteilgten, also der BundesIT und dem Bundesvorstand der Piraten, kaum jemand im Bild was wann wo mit welchen Hintergründen geschah.
Man vermutete jedoch schnell einen Zusammenhang mit einem Artikel des Tagesspiegels bzgl. Kinderpornographie und deren angeblichen Verbreitung mittels Piratenpartei Deutschland und Anonymous. Dies ist mehr als fragwürdig vor dem Hintergrund der langjährigen Forderung der Piraten nach „Löschen statt Sperren“ – also kein leicht umgehbares Sperren von kinderpornographischen Inhalten, sondern ein direktes und dauerhaftes Löschen durch den Dienstanbieter.
Jedoch führte bereits das von Anonymous-Mitgliedern angelegte PiratenPad zur Koordination des DDoS-Angriffes auf die Homepage des französischen Energiekonzern Elektrizitätsgesellschaft Électricité de France (EDF) zu #servergate und damit zur Beschagnahmung der bundesweiten IT-Systeme wenige Tage vor der Landtagswahl in Bremen. Vor kurzem lief die Anonymus-Operation #op-innocence, eine von den deutschen Ermittlungsbehörden unabhängige Unteraktion deutscher Mitglieder des losen Internetaktivistenbundes gegen Internetpornographie im Rahmen der globalen #Operation Darknet. Es wäre also denkbar, dass auch hier auf öffentliche Infrastruktur der Piratenpartei zurückgegriffen wurde.
Ca. 20 Minuten nach der Abschaltung der Pad-Server gab es ein kurzes Statement des Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz, in dem der Verdacht, dass die Abschaltung von einer Nutzung der Pirateninfrastruktur im Zusammenhang mit Kinderpornographie stehe, bestätigt wurde und in Kürze eine ausführliche Pressemitteilung folge. Diese ging um 0.15 Uhr online und besagt gleich lautend, dass Pirateninfrastruktur von Unbekannten missbräuchlich genutzt wurde. Der Bundesvorstandes habe Strafanzeige gemäß § 184b StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften) gestellt. Seitens des LKA Berlin wurde darüber hinaus nahe gelegt, die gesamte Pad-Infrastruktur abzuschalten um nicht selbst der Verbreitung von Inhalten beschuldigt zu werden.
Wäre die Abschaltung der Piratenpads nicht erfolgt, hätte seitens der Staatsanwaltschaft argumentiert werden können, dass die Verbreitung entsprechenden rechtswidrigen Materials trotz Kenntnis hierüber nicht wirksam unterbunden werden wollte.
Während auch nach der Pressemitteilung noch im Nebel gestochert wurde, gelang es ein paar Mitglieder von Anonymous in den Dicker Engel, die Online-Kneipe der Piraten, zu bekommen um zumindest von dieser Seite Informationen zu erhalten. In einem sehr angeregtem Gespräch bis nach 3 Uhr nachts wurde einerseits der Inhalt des wahrscheinlich für die Anzeige maßgeblichen Pads (relevante Links bereinigt) bekannt gegeben und eine Entschuldigungsmail an die Bundesgeschäftsstelle der Piraten für Unannehmlichkeiten, sofern wirklich die Operationen Darknet oder Innocence der Auslöser waren, veröffentlicht. Diese lautet im Volltext:
Hallo Piraten, hier ist Anonymous.
Wir haben euer Pad als Plattform genutzt, um untereinander Informationen für die #OP Innocence zu sammeln und zu ergänzen.
Diese „#OP Innocence“ richtet sich, anders als von der Presse dargestellt, klar _gegen_ Kinderpornographie.
Wir hatten _nicht_ die Absicht, die Piratenpartei in irgendeiner Weise mit Kinderpornographie in Zusammenhang zu bringen. Es war ein Fehler von uns, welchen wir sehr bedauern. Es war nicht beabsichtigt, dass dieses Pad an die Öffentlichkeit gelangt und somit die Links zu den gefundenen Seiten weiter verbreitet werden.
Allerdings haben die auf dem Pad vorhandenen Links _nichts_ mit Kinderpornographie direkt zu tun. Es waren Links zu Foren, in welchen sich pädophile Menschen treffen und austauschen. Zudem wurde eines der genannten Foren in Schweden gehostet, was wir nicht tolerieren.
Wir bedauern diesen Fehler zutiefst und versichern, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Anonymous
Über weitere Entwicklungen im Zusammenhang mit #padgate wird die Flaschenpost alle Interessierten auf dem Laufenden halten.
Update 25.11.2011, 12.20 Uhr:
Die Rechtslage kommentiert der Jurist Patrick Breyer von der Piratenpartei Schleswig-Holstein wie folgt: „Nach Paragraf 10 des Telemediengesetzes ist die Piratenpartei als Betreiberin der Piratenpads für von Dritten eingestellte Informationen nicht verantwortlich, solange sie keine Kenntnis von erkennbar rechtswidrigen Inhalten hat und solche nach Kenntniserlangung unverzüglich löscht. Strafbare Inhalte von vornherein zu verhindern, ist im Fall des Piratenpads unmöglich, unzumutbar und von der Rechtsordnung nicht gefordert. Umgekehrt ist das Recht zum Angebot und zur Nutzung von Internet-Veröffentlichungsdiensten wie dem Piratenpad grundrechtlich geschützt. Auch wenn die Meinungsfreiheit und Dienste wie das Piratenpad mitunter zu Straftaten missbraucht werden, überwiegen die Vorteile des freien, anonymen und unbefangenen Meinungs- und Informationsaustauschs für uns alle und für die Gesellschaft insgesamt bei weitem.“