Man kann das ja niemandem mehr zumuten: Immer wieder Berichte von den Demos in Stuttgart. Vor einem Jahr war das vielleicht interessant, aber um Himmelswillen, können die nicht endlich mal Ruhe geben?
Stuttgart 21 ist schwer verkäuflich geworden. Das hindert die betroffenen Bürger nicht daran, immer wieder Demos anzuzetteln, was wiederum die Akteure des Bahnhofsumbaus nicht hindert, das Projekt munter weiterzutreiben. Inzwischen sind die Schreihälse im Schlossgarten nur mehr lästig, aber nicht mehr Titelthema. Und so dürfen die Apparate wieder das tun, was sie tun sollen.
Welch ein Glück! Keine Störungen mehr. Wobei wir uns nicht darin täuschen sollten, was genau der Apparat als Störung auffasste: nicht die Tatsache, dass da ein abgrundtief widersinniges Projekt durchgesetzt wird, sondern dass das Fortschreiten des Verwaltungsvorgangs ins Stocken geriet. Das war das eigentlich Schlimme – denn dem Apparat sind Inhalte gleichgültig, interessant sind nur die Abläufe und Strukturen.
Es ist natürlich nicht so, dass den Bahnhofsgegnern ein monolithischer Moloch gegenübersteht – wie bei allen bürokratischen Großorganismen sieht das nur von außen so aus. Selbst die Deutsche Bahn AG, die sich gern geschlossen und undurchdringlich gibt, besteht aus konkurrierenden Fürstentümern und Klein-Potentaten, denen es vor allem um die Wahrung und Erweiterung ihrer Einfluss-Sphären geht.
Eine Verwaltung, egal ob sie hoheitliche Funktionen ausübt oder in der freien Wirtschaft operiert, ist vor allem mit dem eigenen Fortbestehen beschäftigt. Wenn ein Funktionär dank unglücklicher Umstände aus der Anonymität des Apparats herausgerissen wird, zeigen sich erschreckende Merkmale. Zwei davon sind Mittelmäßigkeit und Unterwerfung unter die Vorgesetzten. Zentral ist auch der Verlust eines Menschenbilds, wie der auch immer das zustande kommt – seien es abstrakte Volumenberechnungen für die Kapazität eines Bahnsteigs oder die schiere Zahl an Fällen, die ein Sachbearbeiter bei einer Behörde zu bearbeiten hat, ohne dass er je den dahinterstehenden Menschen begegnet. Klar, es kann auch ein emotionaler Schutz sein, wenn der Sachbearbeiter nur noch Fälle sieht anstelle von Menschen.
Die Objekte der Verwaltung sind ihr gleichgültig. Dieselben Apparate, die sich mit Stuttgart 21 befassen, könnten ebenso gut Schulen verwalten, Brieftauben oder die Stromversorgung. Die Voraussetzung für eine funktionierende Verwaltung nach klassischem Zuschnitt ist ihre Entkopplung vom Verwalteten, von Schule, Brieftaube oder Stromzähler.
All das ist alltäglich und banal. Unangenehm wird es, wenn der Apparat fehlgeleiteten Idealen nachstrebt. Doch, Verwaltungen folgen Idealen, und die kommen von den oberen Ebene ihrer Hierarchien. Die Deutsche Bahn zum Beispiel hat das Ideal eines funktionierenden Bahnbetriebs aufgegeben zugunsten einer marktanarchischen Vision (man nennt das gern „Privatisierung“). Für diese Vision ist ein Projekt wie Stuttgart 21 von zentraler Bedeutung, und nur für sie.
Das Ergebnis ist Gewalt. Die entsteht aus der Eigendynamik des Apparats vereint mit den marktanarchischen Vorgaben des Managements. Diese Gewalt erhält ihre Bestätigung von einem Dienstherren, dem Bundesverkehrsminister, der sein Amt erworben hat durch Aufstieg in einem ähnlichen Apparat, der Hierarchie seiner Partei. Der Minister wiederum liegt voll auf der Linie seiner Chefin, die sich die Arbeit möglichst zu vereinfachen sucht, indem sie die Qualen der Ebene vermeidet. Die Kanzlerin gibt sich möglichst wenig mit der unsteten Legislative ab, um sich mit einer überschaubaren Gruppe von Akteuren (man könnte auch sagen: „Klüngel“ oder „Oligarchen“) zu befassen.
Das bringt Eindeutigkeit. Keine Alternative! Damit wiederum trifft sie beim bürokratischen Funktionär auf volles Verständnis. Der Apparat muss laufen. Da gibt’s keine Alternative. In der Gewissheit, dass die oberste Dienstherrin es genauso sieht, schwinden ihm die Hemmungen.
Nur mit einem enthemmten, apparatefixierten Selbstverständnis kann ein Normalbürger imstand sein, mit völlig kühlem Kopf und reinem Herzen zu entscheiden, ob drei Euro sechzig mehr im Monat für Hartz-IV-Empfänger gerechtfertigt sind. Jedem Hartz-IV-Empfänger bleibt angesichts solcher Kaltblütigkeit nur der hilflose Zorn.
Wer also ist schuld (im Sinne von haftbar) an dem S21-Salat? Nicht die Angehörigen der Apparate – die sind nur kleine Rädchen, die ihre von oben gesegnete Pflicht tun. Nicht die Manager – denen drohen keinerlei Konsequenzen für ihr Tun. Nicht die Politiker – die sind sowieso von jeglicher Haftung befreit.
So bleibt nur eine mögliche Gruppe von Schuldigen: die Objekte der Verwaltung, die Bürger. Das ist dann doch ein wenig erschreckend, denn solche Schuld könnte jeden von uns treffen. Zum Glück lässt sich das gut sortieren: Schuld an dem Ärger sind nur solche Bürger, die sich nicht pflichtgemäß verwalten lassen.
Und deshalb sind die Stuttgarter, die sich gegen das Verwaltungs-Unmaß wehren, nur die ersten, die untergebaggert werden. Immerhin – sie zumindest, die sich heute empören, werden zu den wenigen zählen, die sich von ihren Kindern nicht die brutale Frage gefallen lassen müssen: Ihr habt es gewusst, ihr habt es gesehen – warum habt ihr nichts dagegen getan?