Mit der Erfindung des Mitmachnetzes (manche sprechen von Web 2.0, andere von AJAX) ging ein Menschheitstraum in Erfüllung: endlich mitreden! Nicht nur in E-Mails, Chatrooms oder auf der eigenen Webseite, sondern auch in der Rolle als Kommentator bei Online-Zeitungen.
Mittels einer Kommentarfunktion, die von den meisten Zeitungen und Blogs angeboten wird, kann über Artikel, Blogeinträge und natürlich auch über andere Kommentatoren und ihre Einlassungen geschrieben werden. Das Internet ist überall, auch schläft es nie. So redet jeder mit. Zuhause vom Sofa, vom Schreibtisch, oder mit dem Pad aus der U-Bahn heraus. Doch egal wo ein Kommentar entsteht – gelesen werden kann er später auf der ganzen Welt. Gerade Kommantare, die zu später Abendstunde geschrieben werden, erreichen nicht immer die geistige Höhe eines früheren Leserbriefes. Denn an dessen Formulierung feilte der Schreiber vergangener Jahrzehnte meist lange – in der nicht immer begründeten Hoffnung, die eigenen Gedanken würden veröffentlicht. Dafür können heute ungleich mehr Personen ihre Meinung kund tun. Denn anders als eine Zeitung kennt das Internet keine wirkliche Größenbeschränkung – der wirklich limitierende Faktor ist die Geschwindigkeit, in der Finger über eine Tastatur huschen können.
Ein Forum im Internet ist für die Betreiber in Deutschland ein juristischer Drahtseilakt. Nicht wenige Kommentare führten in der Vergangenheit zu einem Nachspiel vor Gericht. Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg steht im Ruf Urteile zu fällen, bei denen Meinungs- oder Pressefreiheit nur wenig, das Persönlichkeitsrecht des Klägers aber stark berücksichtigt werden. Unter dem Suchbegriff Forenhaftung findet sich so manches rechtskräftige (oder auch von der nächsthöheren Instanz kassierte) Urteil. Durch den “fliegenden Gerichtsstand” klagen viele, die sich durch Äußerungen von Kommentatoren in ein falsches Licht gerückt sehen, eben in Hamburg.
Die Verlage und Zeitungen mussten auf die ausgesprochene Pflicht zur Aufsicht (Kontrollpflicht) reagieren und entwickelten unterschiedliche Formen des Umgangs mit Leserkommentaren.
- Vorabkontrolle vor der Veröffentlichung
- Realnamenpflicht
- Accounts mit Nennung von Name und Anschrift
- Löschroutinen
- Vollständige Abschaltung der Kommentarfunktion
- Einfrieren des Forums außerhalb der Bürozeiten
Schaut man sich in den verschiedenen Foren im Netz um, fällt schnell ins Auge welcher Seite ihr Forum eigentlich ein eher ungeliebtes Kind ist, das möchtlichst unattraktiv gestaltet wird. Andere wiederum treiben einigen Aufwand um den Lesern das Verfassen und Lesen von Kommentaren möglichst angenehm zu gestalten. Gelegentlich werden Kommentarfunktionen nach erfolgreicher Einführung auch wieder abgeschaltet. Nicht aus Angst von juristischen Folgen, sondern weil sich Foren gelegentlich zu Trollwiesen entwickeln, in denen keine sinnvolle Diskussion mehr stattfindet.
So schaltete das radikal-libertäre ef-magazin die Kommentarfunktion zum Jahreswechsel 2010/2011 wieder ab. Unter dem Titel Gute Küche statt öffentlicher Toilette wurde dieser Schritt von der Redaktion begründet. Bemängelt wird darin eine “Rüpel-Kultur anonymer Tunichtgute” die meinen, “ein Recht darauf zu haben, das Eigentum anderer zu beschmutzen”. Ob die in diesem Artikel zur Ausdruck gebrachte Hoffnung, dass der eine oder andere (kluge) Kommentator zum Autor werden solle, wahr wurde, ist von hier aus nicht zu beurteilen.
Wir stellen im Folgenden die Online-Foren und deren Besonderheiten einiger Online-Zeitungen vor.
DIE ZEIT ONLINE
Im Internet ist DIE ZEIT seit 1996 zu finden. Kommentieren kann jeder, der sich zuvor einen Account anlegt (keine Klarnamenpflicht). Die Kommentarfunktion ist rund um die Uhr und auch am Wochenende verfügbar. Mit anderen Worten: 24/7. Offensichtlich kennt das Redaktionsteam, das neu eingestellte Kommentare im Auge behält, keinen Schlaf; unbotmäßige Äußerungen haben keine Chance das Morgengrauen zu erblicken.
Auf ZEIT-Online existieren drei Abstufungen des moderierenden Eingriffs: die einfache Rüge, die Entfernung bestimmter Teile eines Leser-Kommentars und die vollständige Löschung, wobei der gelöschte Kommentar, dann als ein solcher sichtbar bestehen bleibt. Stillschweigendes Löschen scheint es nicht zu geben. Man möchte dem irregeleiteten Kommentator offenbar helfen, seinen Diskussionsstil zu verbessern oder bittet darum, sich direkt an die Redaktion zu wenden:
Entfernt. Wenden Sie sich bei Fragen oder Hinweisen zur Moderation bitte an community@zeit.de . Bitte äußern Sie sich wieder zum Thema des Artikels. Danke. Die Redaktion/is
Was treibt sie um, die Redaktion der Online-Ausgabe der ZEIT, wenn sie Forenbeiträge kürzt, moderiert, streicht und dabei nicht selten das Unverständnis, bisweilen auch den Zorn, der Teilnehmer auf sich zieht? Ein Blick in die Netiquette der Zeit-Online offenbart gute Absichten. Dort heißt es:
“Unser Anspruch ist, dass Ihre Diskussionen für alle Besucher von ZEIT ONLINE interessante und relevante Erkenntnisse liefern. Außerdem wollen wir ein Umfeld schaffen, in dem alle Besucher der Website gerne mitdiskutieren”
Die Rüge, die bei allen Abstufungen in kursiver Schrift dem Kommentar hinzugefügt wird, lässt sich auf eine Grundform herunterbrechen: Bitte argumentieren Sie sachlich. Danke. Die Redaktion. Darauf folgt das Kürzel des Bearbeiters. Nur in ganz seltenen Fällen weicht man von dieser Form ab. Eine Ausnahme bildete beispielsweise der Tod von Steve Jobs. Ein missliebiger Kommentar wurde ohne weitere Begründung gelöscht: Entfernt. Die Redaktion/sh.
Es existieren Variationen und Mischformen des moderierenden Eingriffs. Hier eine kleine Auswahl. Da sind zunächst die, die dem Kommentator ein gewisses Geschick in seinem Tun unterstellen, es aber für ausprägenswert halten:
- Bitte formulieren Sie Ihre Kritik sachlicher. Danke, die Redaktion/vv
- Formulieren Sie Ihre Kritik bitte sachlich und weniger beleidigend. Danke, die Redaktion/vv
- Bitte begründen Sie Ihre Meinung etwas ausführlicher. Danke. Die Redaktion/sh
“Sachlich”, “konstruktiv”, mitunter “differenziert” – was ist das überhaupt? Soweit Sprache im Sinne der Habermasschen Diskurs-Ethik aufgefasst wird, liegt ihre Vernunft darin begründet, dass jederzeit von jedermann einer von drei Redebestandteilen kritisiert werden darf. Dabei muss Kritik und Gegenkritik jeweils intersubjektiv rekonstruierbar sein, um als (a) wahr, als (b) richtig (oder: angemessen vorgetragen) und als (c) authentisch gemeint zu gelten. Dies gelingt nicht, wenn Teile des kommunikativen Aktes dem intersubjektiven Nachvollzug vorenthalten werden. Das, was als “sachlich” gelten soll, muss vom lesenden Publikum als ebendies akzeptiert werden können. Ansonsten wird es in das Klassenzimmer versetzt, in dem einem Schüler ein “Setzen, sechs!” entgegenschallt. Aus Protest gegen die allgegenwärtigen Eingriffe erstellen einige Forlisten ihre Kommentare gleich so, als sei der Beitrag bereits von der Redaktion gekürzt wurde. Die Redakteure selbst sehen das mit Humor.
heise.de
Die Seiten des heise-Verlags gehören zum Urgestein des deutschen Internets. Der heise-Ticker ist die Anlaufstelle Nr. 1 für IT-Informationen. Meldungen kommentieren kann jeder, der einen Account besitzt (keine Klarnamenpflicht). Die Kommentatoren bei heise.de gehören zu den fleißigsten in der deutschen Presselandschaft. Es gab durchaus Artikel, die mehr als 2.500 Kommentare bekamen. Beliebt ist es, auf Kommentare anderer zu antworten. Ein einzelner Thread kann dadurch sehr viele Beträge enthalten.
Finden die Redakteure beanstandenswerte Beiträge, werden diese vollständig gesperrt. Teilentfernungen gibt es nicht. Ob Beiträge gesperrt werden, die auf einen später gesperrten Beitrag antworten, hängt unserer Beobachtung nach davon ab, ob die beanstandeten Stellen zitiert werden oder nicht. Gelegentlich wird auch der Titel eines Beitrages durch den Text „der Beitrag ist gesperrt“ ersetzt. Redakteure sperren Beiträge auch auf Hinweise von Benutzern hin. Über den „Leser-Feedback zum Beitrag“ können Leser einen Beitrag als „zu beanstanden“ melden
Im heise-Forum können Teilnehmer die Beiträge anderer Kommentatoren mit einem Ampelsystem bewerten. Diese Möglichkeit wird gelegentlich auch für Umfragen bzw. Meinungsbilder genutzt. Auch kann der Titel, das Subject, einer Antwort geändert werden, was es leicht macht, die Übersicht zu behalten.
Die Süddeutsche
Die Süddeutsche aus München ist seit Dezember 1996 im Netz präsent. Artikel kann jeder kommentieren, der sich angemeldet hat. Dabei gibt es eine kleine Nebenbedingung zu beachten: Die Kommentarfunktion ist in den Abend- und Nachtstunden im Read-Only-Betrieb. Seitdem diese Offnungszeiten eingeführt wurden, hat die Süddeutsche viele Kommentatoren verloren. Die Süddeutsche selbst schreibt zur Begründung für die Zeitbeschränkung:
Wir wollen die Qualität der Nutzerdiskussionen stärker moderieren. Bitte haben Sie deshalb Verständnis, dass wir die Kommentare ab 19 Uhr bis 8 Uhr des Folgetages einfrieren. In dieser Zeit können keine Kommentare geschrieben werden. Dieser “Freeze” gilt auch für Wochenenden (Freitag 19 Uhr bis Montag 8 Uhr) und für Feiertage.
Die Kommentare selbst werden von unten nach oben weggeschrieben, was selbst eingefleischte Kommentatoren gelegentlich verwirrt. Ein Ampelsystem erlaubt es Artikel zu bewerten. Ein Knopf „petzen“ erlaubt es auch Lesern ohne Account Kommentare zu melden. Allerdings funktioniert dieser Knopf nicht mit allen Browsern zuverlässig.
taz
Auch die seit Juli 1998 aufrufbare taz kennt Kommentare ihrer Leser. Besonders benutzerfreundlich ist die Kommentarfunktion leider nicht gestaltet. Die Kommentare selbst sind unter dem Artikel nur in einer Kurzform zu sehen, wer alles lesen will, muss eine weitere Seite aufrufen. Artikel in der taz lassen sich ganz ohne Account abgeben, allerdings machen nur wenige Leser Gebrauch davon. Um SPAM zu vermeiden wird ein CAPTCHA abgefragt, große Akzeptanz bei den Usern besitzen diese jedoch nicht. Denn auch mit viel Phantasie sind diese Buchstabenbildchen oft nicht zu entziffern. Auch fehlt die Möglichkeit dem Kommentar eine Überschrift zu geben.
Flaschenpost
Unter https://die-flaschenpost.de hat das Nachrichtenmagazin der Piratenpartei seit August 2010 einen Hafen gefunden. Die einzelnen Artikel können vom Leser kommentiert werden, wofür weder ein Account noch die Eingabe eines Captcha notwendig ist. Zwar können Kommentare jederzeit verfasst werden, allerdings werden sie erst nach Freigabe durch ein Redaktionsmitglied veröffentlicht. Akzeptiert wird alles, das nicht SPAM oder offensichtlich rechtswidrig ist. In der Flaschenpost werden nur wenige Artikel kommentiert. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass der Autor oder ein Redaktionsmitglied auf den Kommentar eingeht. Ein Abgesang auf den Datenschutz erreichte die einsame Spitzenmarke von 60 Kommentaren. Eine Artikel über unsinnige Verbotsforderungen von Axel E. Fischer wurde von einigen Lesern mit weiteren Einfällen fortgeführt. Das der Flaschenpost zugrunde liegende WordPress schreibt die Kommentare nach unten hin weg, Antworten auf vorherige Kommentare werden an passender Stelle etwas eingerückt. Leider wird deshalb eine ausufernde Diskussion schnell unübersichtlich.
Viele andere Seiten im Netz bieten ebenfalls die Möglichkeit Kommentare zu hinterlassen. Dabei sind manchmal Öffnungszeiten zu berücksichtigen, mancher Kommentar erscheint auch nie, falls er der Redaktionsmeinung zuwider läuft. Wer sich in Onlineforen tummelt wird Strategien entwickeln, um die eigene Meinungsäusserung an der Redaktion vorbei zur Öffentlichkeit zu bekommen.
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit einem Flaschenpost-Leser, der anonym bleiben möchte. Für seine Mitarbeit möchte ich ihm jedoch danken.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.