Einige Buchtitel mit Piratenbezug erschienen in der letzten Zeit. “Das Betriebssystem erneuern. Alles über die Piratenpartei” von Stefan Appelius und Armin Fuhrer empfiehlt sich dabei als sehr umfassender Überblick zur deutschen Piratenpartei. Laut Autor seien ein paar tausend Kilometer bei der Recherche zum Buch zurückgelegt, Veranstaltungen von Bundes- und Landesparteitagen bis zu zahlreichen Stammtischtreffen in der Republik besucht und Gespräche mit über 50 Akteuren geführt worden. Heraus kamen im Print 330 Seiten voll Information (Ebook-Versionen in verschiedenster Form gibt es auch), die – Achtung, Spoiler – Spaß beim Lesen und Spaß auf Piratenpolitik machen und nebenbei deutlich mehr als nur das Basiswissen über Piraten, Akteure, Positionen und Diskurse schaffen, die bis heute die Parteigeschichte prägten.
Folgende Hauptteile sind jeweils unterteilt in Kapitel und werden aufgelockert durch überall eingestreute Vorstellungen von Einzelpiraten verschiedener Couleur und Hintergründe:
- Die digitale Revolution – Neue Politik in einer neuen Zeit
- Die Piratenpartei – Aktivisten aus dem Internet
- Das Piraten-Programm – Mut zur Lücke
- Flüssige Demokratie – Das Betriebssystem erneuern
- Piraten in der analogen Welt – Streit um die Inhalte
- Die Piraten in den Ländern – Berlin und die anderen
- Kommunalpiraten – Pragmatiker vor Ort
- Die Pirateninternationale
- Ausblick – eine Chance für die Demokratie
Kapitel 1 und 2 beschäftigen sich mit der Entstehungsgeschichte der Piraten und der jeweiligen Anlässe, die solide, kenntnisreich und meines Erachtens nach vollkommen korrekt geschildert werden. Schon hier werden einige Besonderheiten der Partei, nämlich die internationale Ausrichtung, Begrifflichkeiten wie “Politik aus Notwehr” und einige Grundideen vorgestellt.
In den Kapiteln 3 bis 5 werden Tools, Inhalte, Strömungen und Akteure vorgestellt – von den “Kernis” und “Vollies” und den verschiedenen Mobilisierungsanlässen der deutschen Piraten über LiquidDemocracy und dem Stand der Debatte um die Ansprüche an das Tool bis hin zur aktuellen Programmdebatte, inhaltlichen Profilierungen, Strömungen, Diskussionen und Shitstorms. Anders als in dieser gedrängten Vorstellung allgemeinverständlich und anschaulich. Die eingestreuten Personenvorstellungen lockern dabei einerseits auf, darüber hinaus geben sie vielen Themen und Thesen auch Gesichter und zeigen Weltbilder, die nochmal zum Verständnis beitragen. Zum Schluss hat man einen Überblick über den Stand der Diskussion, die Argumente und Ziele der jeweiligen Strömungen, der zumindest nachhaltiges Stammtisch- und Mailinglisten-Basiswissen vermittelt.
Kapitel 6-8 stellen die unterschiedlichen Facetten der Partei auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene, politische Gestaltungsziele und typische Akteure vor. Hier und bei den vorhergegangenen Programmkapiteln kommt die eine große Stärke des Buchs zum Tragen: je facettenreicher sich das “Piratentum” und seine Diskurslinien herauskristallisieren, desto mehr tritt auch der Grundgedanke der Piratenpolitik hervor – der Wille zu einer transparenten, offenen Demokratie, das Ziel, Partizipationsmöglichkeiten mit den heutigen modernen Mitteln neu zu denken und zu schaffen, eine neue demokratische Beteiligungskultur zu etablieren, in der die technischen, materiellen und informationsbedingten Schranken der Partizipation so weit wie möglich aufgehoben werden.
Die zweite große Stärke des Buchs ist seine immer (und besonders in den Kapiteln 6-8) über den Wassern schwebende “Man kann mitmachen!” Botschaft. “Das erklärt doch nur bekannte Grundsätze des Piratentums”, sagt sich leicht. Über die unterschiedlichen Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten in einer subsidiär strukturierten Bundesrepublik, eingebettet in internationale Strukturen, ein Buch zu schreiben, in dem dann tatsächlich der rote Faden durch die Seiten läuft – man kann etwas gestalten, die Möglichkeiten sind überall vorhanden – und dazu Beispiele und Strategien liefert, wie das bereits geschieht: das ist eine Herausforderung. Der wird das Buch gerecht.
Im Schlusskapitel werden vorsichtige, aber berechtigte Hoffnungen auf eine runderneuerte demokratische Gesellschaft geweckt, im Anhang folgen neben Personenverzeichnis und umfassendem Quellenteil noch eine Liste von 100 Twitternamen, die sicher ein guter Twittereinstieg in piratige Diskussionen sind, andererseits hier leider ein wenig quer zum Einsteigermotivieren sind – besser wäre möglicherweise ein Verzeichnis der “Erstanlaufstellen” auf Landes- und Kommunalebene gewesen statt der Namen der hundert Leute, die ohnehin wahrscheinlich die meisten Anfragen abkriegen.
Abgesehen von Schönheitsfehlern wie diesem: wo bleibt die Kritik? Einige Punkte schmälern den umfassend guten Gesamteindruck, das aber ebenso im marginalen Rahmen.
Wertungen und Kritik: Vieles wird – möglicherweise unbeabsichtigt – erfreut bis begeistert konnotiert. Vermeidbar sind diese Wertungen kaum, wenn man anerkennt, dass die Piraten durchaus eine ganze Reihe guter Ideen haben und umsetzen. Naturgemäß saurer aufstoßend geraten manche kritische Anmerkungen: in der Regel angemessen und die tatsächlichen Diskurse und Streitlinien in der Partei nachzeichnend, sind diese gelegentlich auch teilweise verkürzt oder verzerrt. Gelegentlich klingt ein “Da muss noch Kritik bei” an. Beispielsweise wenn im Spannungsfeld zwischen Transparenz und Privatsphäre, bei Gegenüberstellung der verpflichtenden Datenerfassung durch den Staat und der freiwilligen Informationsüberlassung an Google plötzlich unmotiviert und kaum begründbar eine datenschutzrechtliche Vollkaskomentalität attestiert wird. Im Gesamtbild indessen vernachlässigbar.
Formales und Korrektur: Zumindest dem E-Book, welches hier reviewt wurde, sieht man die schnelle Fertigstellung an. Layout, Les- und Benutzbarkeit sind durchgehend prima, ein Lektorat mehr hätte es aber gebraucht, um die doch des Öfteren den Lesefluss störenden Fehler (meist nicht fertigkorrigierte Satzumstellungen) vollends zu eliminieren. Eine Handvoll auf über 300 Seiten ist ok, aber geht natürlich besser.
Dass man sich an solchen Punkten abarbeiten muss, wenn es um die Kritik geht, kann auch schon wieder als Lob durchgehen, und mit einem solchen soll die Rezension auch beschlossen werden: der beste, umfassendste und vor allem viel Lust aufs Mitmachen auf vielen Ebenen machende Überblick über Piratenpartei, piratige Politik, ihre Instrumente und Akteure, den ich bisher lesen konnte. Dazu ein angenehmer Schreibstil und gute Verständlichkeit, die das Lesen sowohl auf dem heimischen Sofa als auch kapitelweise in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit öhne Verständnisprobleme möglich macht. Daher uneingeschränkte Empfehlung für alle Zielgruppen – ob Pirat, Sympathisant, im Medien- oder Politikbereich wie auch immer engagierter Mensch, mit oder ohne tiefergehende Piratenvorbildung, whatever. Man sollte es lesen und man wird was davon haben.
Disclosure: Ich war mit Enno geschäftlich und bin mit ihm freundschaftlich verbunden. So freundschaftlich, dass ich ohne Bedenken auch öffentlich verkünden könnte, ein Buch seines Verlags scheiße zu finden, wenn es denn so wäre. Weiter bin ich Piratenparteimitglied und Agitator in Piratenangelegenheiten seit recht früh am Anfang.
Stefan Appelius , Armin Fuhrer
Das Betriebssystem erneuern. Alles über die Piratenpartei.
ISBN 978-3-86368-056-5
Berlin Story Verlag, Juni 2012
336 Seiten, Broschur
eBook via verschiedene Anbieter.
Print: 19,80
eBook: 9,99