Am 15. Juni 2012 ließen Politiker der Opposition feststellen, dass der Bundestag nicht beschlussfähig ist. Von 622 Abgeordneten waren weniger als die Hälfte anwesend. Aus diesem Grund konnte das von erzkonservativen Kreisen der CSU initiierte Betreuungsgeld nicht beschlossen werden.
Am 29. Juni saßen um 21 Uhr noch knapp 30 Abgeordnete im Bundestag und beschlossen das “Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens.
Nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags gilt folgendes:
“Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden. Wird sie auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen dabei mit.”
Wir sprechen mit Benjamin ‘crackpille’ Siggel über die Beschlussunfähigkeit des Bundestages und wie sie festgestellt wird.
Flaschenpost: Braucht die Sitzungsleiterin Petra Pau eine Fernsichtbrille, um leere Stühle von Abgeordneten unterscheiden zu können?
Benjamin: Wahrscheinlich hat sie die schon gesehen. Der Punkt ist, dass das Verfahren nicht so vorgesehen ist dass es eine Grenze gibt, bis zu der man beschlussfähig ist -und man die Sitzung abbrechen muss, wenn weniger Abgeordnete anwesend sind.
In der Geschäftsordnung ist festgesetzt, dass mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Sitzungssaal anwesend sein müssen. Es gibt 2 Varianten zur Feststellung der Beschlussunfähigkeit:
1. bezweifeln 5% der Abgeordneten die Beschlussfähigkeit und der Sitzungsvorstand bejaht sie nicht einmütig,
2. oder der Sitzungsvorstand bezweifelt selbst die Beschlussfähigkeit.
Tritt einer der Fälle ein, kommt das spezielles Verfahren zum Einsatz, um die Beschlussunfähigkeit festzustellen (oder eben nicht). Das bedeutet nicht, dass die Anwesenden gezählt werden, es kommt das Hammelsprungverfahren zum Einsatz: alle Abgeordneten verlassen den Saal und werden beim wieder reinkommen laut gezählt. Wenn man das betrachtet, ist es drauf ausgelegt, unterhalb der Beschlussfähigkeit zu arbeiten. Und wenn doch jemand die Beschlussfähigkeit bezweifelt, bleibt oft genug Zeit, um die eigenen Leute herbeizurufen. Man kann natürlich tricksen und besonders langsam durch die Tür gehen.
Flaschenpost: Eine Sitzung um 21 Uhr, während die Nation vor dem Fernseher verfolgt, wie Deutschland und Italien miteinander Fussball spielen. Hat das etwas anrüchiges?
Benjamin: Es zeigt, dass die Abstimmung im Plenum eine reine Formalität ist. Dass es ein Gentleman-Agreement gibt. Wenn von der CDU die Hälfte fehlt, geht auch die Hälfte der SPD Leute raus.
Flaschenpost: Wie häufig sind solche Abstimmungen im kleinen Kreis zu später Stunde?
Benjamin: Darüber gibt es keine offiziellen Statistiken. Und da es vom Sitzungsvorstand nicht festgestellt wird, muss jeder die Videoaufnahmen selbst auswerten.
Flaschenpost: Die Frankfuter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) beschrieb ein Szenario, bei der sich die LINKE in der Silvesternacht in den Plenarsaal schleicht und per Gesetz die Unrechtstaten des SED-Regimens für verjährt erklärt. Das wird so sicher nicht passieren, aber welche Voraussetzungen müssen für eine gültige Sitzung gegeben sein?
Benjamin: Es braucht dazu eine Sitzung, die einberufen ist, die eröffnet wurde, die Punkte müssen auf der Tagesordnung stehen. Das kann sich jeder vorstellen, der schon mal auf einem Parteitag war. Es kann sich niemand mal schnell Schlüssel zum Sitzungssaal besorgen und dort Politik machen.
Flaschenpost: Vielen Dank für den Einblick in diese parlamentarische Gepflogenheit.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.