Stelle Dir vor, es ist Aufstellungsversammlung der Piratenpartei – und vieles passt nicht ins Klischee. Treffpunkt ist eines der ältesten Häuser Rosenheims, ein Patrizierhaus. Seine Räume zeigen im Erdgeschoss noch frühgotischen Charakter. In der Lounge befinden sich an diesem Abend keine trolligen Milchgesichter mit Augenklappen, keine Burn-out-gefährdeten Studierenden mit Enterwaffen, auch keine Karrieristen. Na gut, die meisten sind männlich. Ein Drittel der Anwesenden hat einen Laptop dabei. Manche von ihnen tragen PIRATEN-Hemden. Zugestanden, ein weiteres Drittel wischt immer wieder mal übers Smartphone. Per Beamer werden auf einer Leinwand laufend Tweets angezeigt. Doch Endlosmonologe wilder Gesellen oder Formfehler von Trunkenbolden sind hier nicht zu erwarten.
In der Tat wählen die PIRATEN schließlich aus ihren Reihen einen profilierten Akademiker: Professor Dr. Hartmut Ernst wird Direktkandidat der Piratenpartei in Stadt und Landkreis Rosenheim für die nächste Bundestagswahl. “Sechs Prozent plus x” will Ernst im Wahlkreis 223 für die politischen Freibeuter erreichen. Der Dozent an der Fakultät für Informatik der Hochschule Rosenheim setzt sich damit gegen den gelernten Wachpolizisten und Sicherheitsmitarbeiter Carl-Heinz Holz durch. Beide Bewerber engagieren sich seit drei Jahren für die PIRATEN, haben niedrige vierstellige Mitgliedsnummern. Ihr Profil muss also den Ausschlag geben.
Bei der Vorstellung unterstreicht Ernst sein breites programmatisches Wirken in der Piratenpartei und nennt als Schwerpunkte Energie- und Umweltpolitik, Bildung und, endlich: das Urheberrecht. Ernst war viele Jahre Mitglied bei, ja, den Grünen, sei aber “ohne Technikfeindlichkeit und ideologische Vorurteile”. Holz wiederum nennt als Leitmotive seiner politischen Tätigkeit erwartungsgemäß: Basisdemokratie und, genau: Antikorruption. Inhaltlich seien Gesundheit, Landwirtschaft und Sport seine Schwerpunkte. In anderen Parteien hat sich Holz noch nicht engagiert. Für ein Mandat wäre er gewillt, seinen Beruf aufzugeben.
Unterschiedliche Positionen vertreten die Bewerber in der Drogenpolitik. Während Holz eine grundsätzliche Legalisierung “für sich” ablehnt, plädiert Ernst für eine “Freigabe im gesetzlichen Rahmen von Jugendschutz und Arzneimittelgesetz verbunden mit umfassender Aufklärung”. Nuancen zeigen sich auch beim für die PIRATEN sensiblen Thema des öffentlichen Vertretens parteipolitischer Meinungen. Hier betont Holz, richtig, ein Maximum an basisdemokratischer Rückversicherung leisten zu wollen. Ernst, der auch Generalsekretär des KV Rosenheim ist, erklärt, gelegentlich doch auch seine eigene Meinung kundtun zu wollen. Die Piratenpartei sei seine “politische Heimat” und “unser Rahmenprogramm ist das Grundgesetz”.
Die Versammlung entscheidet sich nach 90-minütiger Kandidatenbefragung mit großer Mehrheit für Ernst als Bundestagsdirektkandidaten. Sein erster Weg wird ihn nach Stephanskirchen führen, wo er die Gründung eines weiteren Stammtisches der PIRATEN im Landkreis begleitet. Dort tagen die Parteimitglieder künftig jeden vierten Mittwoch im Monat und diskutieren mit Gästen über aktuelle Themen, etwa den “Europäischen Stabilitätsmechanismus” oder den “Datenhandel der Meldebehörden”. Ziemlich “etabliert”, diese PIRATEN, scheint’s. Wären da nicht die politischen Gegner, die es, flankiert von Sozial- und Politikwissenschaftlern, eigentlich doch “besser wissen”.