Ein Gastbeitrag von Andi Popp.
Einige erinnern sich vielleicht noch an die Situation auf dem Bochumer Bundesparteitag, als ein Pirat zum ersten Mal den neu eingeführten GO-Antrag auf Ende der Debatte stellte. Nicht zuletzt, weil ein prominenter Pirat im Mittelpunkt des Geschehens stand. Diese Änderung an der Geschäftsordnung hat einige Kritik ausgelöst.
Das Problem
Einerseits war da die Tatsache, dass nicht mehr jeder Pirat zu jedem Antrag seine Meinung kundtun kann. Ich kann diese Kritik nachvollziehen, aber teile sie nicht. Ein Journalist hat einst unseren BPT treffend mit den Worten »Basisdemokratie heißt, dass alle auch mal mir zuhören müssen« umschrieben. Das kann bei der Größe unserer Parteitage durchaus zum Problem werden. Die Arithmetik ist einfach: Wenn 30 Leute je 2 Minuten zu einem Antrag sprechen, dann ist eine Stunde weg. Da sind Antragsvorstellung und -verteidigung noch gar nicht mit eingerechnet und 30 Redebeiträge sind schon niedrig geschätzt. Dies führt zu dem Phänomen, dass auf unseren Parteitagen hunderte von Anträgen vorliegen, aber nur eine geringe zweistellige Zahl beschlossen wird. So sehr ich ein Freund davon bin, die Antragsflut zu reduzieren, denke ich, dass die Intention der Versammlungsleitung die Debatte begrenzen zu können, durchaus gerechtfertigt ist.
Dennoch ist es so, wie es umgesetzt wurde, eher nicht so gut gelaufen. Im Wesentlichen wurde die Frage wer reden darf zu einem Windhundrennen: first come first serve. Und plötzlich war die Tatsache, wo man sich zur Eröffnung der Aussprache im Raum befand, der entscheidende Faktor, ob man zu einem Antrag reden durfte oder nicht. (Ich muss mich outen, mich sogar bewusst an den Tisch hinter dem Saalmikro gesetzt zu haben). Ich denke, wenn man die Debatte schon begrenzt, muss eine fairere Lösung her.
Die theoretische Lösung
Auf dem LPT in Bayern am 12. und 13.01.2013 in Unterhaching haben wir eine Alternative ausprobiert. Diese geht auf einen Vorschlag des Kegelklub auf dem Offenbacher BPT zurück, den Wilm Schumacher, Sylvia Poßenau, Julia Schramm und ich etwas aufbereitet haben. Zum einen wurden die Redebeiträge in Pro und Contra getrennt, so dass sowohl Befürworter als auch Gegner eines Antrags gleichermaßen zu Wort kommen. Zum anderen wurde bei jedem Redebeitrag ein Kreuz auf der »Nein«-Stimmkarte des Redenden vermerkt. Die Redelisten wurden dann anhand der Kreuze sortiert. Wer schon viel gesprochen hatte, musste sich weiter hinten einsortieren. Um stetige GO-Anträge auf Ende der Debatte zu vermeiden, wurde die Redeliste weiterhin grundsätzlich beschränkt. Nach dem Ende der vorgesehenen Redebeiträge konnte die Versammlung dann noch beschließen ob sie die Debatte noch um ein paar Redebeiträge fortsetzen will.
Der Praxistest
Ich hab für den LPT einen entsprechenden Paragraphen in die Geschäftsordnung eingefügt, der mit möglichst wenig Eingriff in die aktuelle Geschäftsordnung auskommen sollte. Entsprechend waren auch zwei Mikros vorbereitet. Es gab abwechselnd jeweils 5 Redebeiträge, danach durfte die Versammlung entscheiden, ob sie noch jeweils zwei weitere hören wollte. Ungenutzte Redebeiträge auf einer Seite verfielen.
Der Landesparteitag hat sich dazu entschieden, das Experiment zu wagen, gerade im Hinblick auf den Bundesparteitag. Bei den ersten Anträgen war das Konzept noch vollkommen unwichtig, weil die möglichen Redebeiträge nicht ausgeschöpft wurden. Die Texte waren unstrittig und schnell durchgewunken. Als schließlich zum ersten Mal die Redeliste abgebrochen wurde, machte sich leichter Unmut bei denen breit, die jetzt erst verstanden, dass ihre vielen Kreuze gerade dafür gesorgt haben, dass sie nicht mehr reden durften. Die ersten Schwierigkeiten kamen, als die Anträge zur Quote debattiert wurden. Es war sehr umstritten und es gab drei Anträge, die konkurrierend debattiert werden sollten. Das Originalkonzept sah wegen der Pro/Contra-Trennung keine Antragskonkurrenzen mehr vor, die GO schon. Wir entschieden für eine sehr komplexe Variante des Systems, die aber mehr Verwirrung als Nutzen stiftete. Schlussendlich ließen wir die Leute sich einfach selbst einreihen, je nachdem ob sie eher für oder gegen einen Antrag sprechen wollten, was überraschend gut geklappt hat.
Eine weitere Diskussion entbrannte um den GO-Antrag auf Schließung der Redeliste. Rein technisch hat er eine andere Funktion als die Beschränkung der Debatte, nämlich zu verhindern, dass sich noch jemand anstellt. Das Argument, dass durch die Beschränkung die Debatte eigentlich genug geregelt ist, war dennoch nicht von der Hand zu weisen. Der Parteitag entschied sich schließlich, den GO-Antrag auf Schließung der Rednerliste beizubehalten. Ich denke dennoch, dass wir die Diskussion noch fortführen könnten.
Ein zu erwartendes Problem war die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn sich Leute an der falschen Schlange anstellen (z. B. weil die andere kürzer ist). Tatsächlich hielt sich das beim Landesparteitag sehr in Grenzen. Ich erinnere mich an einem Fall, bei dem ein Sprecher am Pro-Mikro einen ironischen Pro-Redebeitrag (sprich Contra-Beitrag) hielt, er war dort aber auch der Einzige in der Redeliste. Erwähnenswert ist sicher auch noch, dass viele Leute sich trotz weniger Kreuze eher hinten anstellten. Zum Beispiel weil sie jemand anderen der »auf ihrer Seite« war, auf jeden Fall noch sprechen lassen wollten. Häufig stellten sich auch Leute viel später in der Diskussion an. Auch wenn sie dann nicht mehr sprechen durften, gab es zum Schluss wenig Unmut. Jeder hätte ja sprechen können, wenn er gewollt hätte.
Der Parteitag gab am Sonntag Abend ein einheitlich positives Meinungsbild über das neue System ab. Erwähnenswert ist wohl auch, dass der Parteitag selbst für einen LPT erstaunlich produktiv war (ca. 80 Anträge an zwei Tagen). Und das, ohne auch nur einmal die Redezeit zu begrenzen.
Das Fazit
Alles in allem hat das neue Redesystem im ersten Praxistest besser abgeschnitten als erwartet. Es waren weniger Redebeiträge als sonst, die zwar z. T. länger waren, aber im Ergebnis wurde die Produktivität des Parteitags gesteigert. Die Frage ist, ob die Qualität der Beschlüsse unter dem Weniger an Diskussion gelitten hat. Ich persönlich empfand die Redebeiträge im Mittel als besser als vorher: Sie waren qualitativ wertvoll und Wiederholungen hielten sich in Grenzen, was wohl daran lag, dass man für Wiederholungen ja auch ein Kreuz bekommen hätte.
Eine wichtige Neuerung war eine aktive Wikiarguments-Instanz für diesen LPT. Die vorgebrachten Argumente wurden dort stichpunktartig eingetragen und mit einem Beamer sichtbar gemacht. Wahrscheinlich nahm dies positiven Einfluss auf die Länge der Diskussionen. Die Frage, wie mit den Antragskonkurrenzen umzugehen ist, bleibt in meinen Augen auch trotz der guten Erfahrungen auf dem Landesparteitag offen. Ich persönlich wäre ein Freund davon, komplett darauf zu verzichten, konkurrierende Anträge gleichzeitig zu behandeln. In vielen Fällen sehen wir, dass der im Vorfeld populärste Antrag, der entsprechend zuerst dran kommt, auch die besten Chancen hat. Wer dennoch einen konkurrierenden Antrag vorzieht, kann mit Contra-Beiträgen dafür sorgen, dass der erste Antrag abgelehnt wird. Später wird dann entsprechend der konkurrierende Antrag vorgezogen.
Letztendlich bleibt die Frage nach der Skalierung auf einen Bundesparteitag noch offen. Das System lief wohl allein deswegen schon sehr rund, weil die behandelten Anträge im Vorfeld gut ausgewählt wurden. Ob das beim Bundesparteitag genauso gut klappt bleibt abzuwarten. Und ob die Leute sich anhand von Strichen/Kreuzen auf ihren Stimmkarten in einer Redeliste aus 40 Piraten genauso gut selbst sortieren wie bei 10, ist eher fraglich. Bei der Größe eines Bundesparteitags wäre hier vielleicht eine Lösung mit Software besser, bei der die Redewilligen sich bei einem Helfer melden und die Redelisten auf einem Beamer angezeigt werden. Hier kann dann auch bei Gleichheit an »Kreuzen« gelost werden. Die Lösung mit den Stimmkarten kann dennoch als Fallback herhalten.