Ein Gastartikel von Enno Lenze.
Seit mehreren Tagen liefern sich Aktivisten und Polizisten in vielen Städten der Türkei Straßenschlachten. Inzwischen wird in über 50 Städten demonstriert, es wurden über 2.000 Menschen festgenommen, tausende verletzt und vermutlich zehn getötet. Auf der anderen Seite hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in weiten Teilen der Bevölkerung großen Rückhalt und sieht jeden Protest gegen Entscheidungen der Regierung als Gefahr für das ganze Land.
Grund der Proteste war eine lange Kette von Ereignissen in der Türkei, die durch die Ankündigung, ein Einkaufszentrum im Gezi-Park zu bauen, eskalierte. Der Gezi-Park ist die einzige Grünfläche im Stadtzentrum von Istanbul und somit wichtiger als zum Beispiel der Tiergarten in Berlin. Zudem hat die Regierung zunehmend religiös begründete Ver- und Gebote auferlegt. So sollte man sich nicht mehr in der Öffentlichkeit küssen; der Verkauf von Alkohol wurde (auch in den Regionen, die vom Tourismus leben) eingeschränkt.
In den westlichen Medien sind die Berichte rar. Es gibt wenige AlJazeera- und CNN-Reporter, die von Anfang an berichtet haben. Die aktuellsten Nachrichten erhält man bei uns immer noch über Twitter, z.B. unter dem Hashtag #occupygezi.
Doch ohne Kontakt zu Leuten vor Ort kann man sich kein gutes Bild der Lage machen. Ich habe mehrfach versucht, mit Leuten im türkischen Innenministerium ein Interview auszumachen; leider besteht dort derzeit kein Interesse. Stattdessen sprach ich mit Altug Özsoydas vor Ort. Der 38-Jährige lebte lange in Österreich und kennt somit unsere und die türkische Kultur gut. Er war selber in den vergangenen Tagen vor Ort und berichtet auf Facebook umfangreich über das Erlebte.
Enno: Wie hast du den Anfang der Ausschreitungen erlebt?
Altug: Im Gezi-Park waren viele Aktivisten, welche friedlich gegen den Bau demonstrierten. Die Stimmung war gut. Es waren keine vermummten Demonstranten, Hooligans oder Ähnliches da. Nach und nach rückte Polizei an, die sich aber friedlich verhielt. Ohne Vorwarnung und ohne einen Grund flogen auf einmal Gasgranaten und die Leute wurden von den Polizisten mit Schlagstöcken verprügelt (am 3. Tag, um 5.00 Uhr in der Früh, ohne Warnung, mit Tränengas!).
Enno: Wie haben sich die Aktivisten daraufhin verhalten?
Altug: Die meisten waren total überrascht und wussten erst mal nicht, was sie machen sollten. Viele versuchten erst mal wegzurennen. Später begannen einige zum Schutz gegen die Polizei Barrikaden zu bauen. In der Nacht gab es große Ausschreitungen, bei denen die Journalisten und der Rettungsdienst durch die Polizei an der Arbeit gehindert wurden. Die Medien, bis auf 2 kleine Kanäle (einer von der Oppositionspartei CHP) ulusal kanal und Halk Tv, wurden durch die Regierung erpresst und haben bis letzten Sonntag nur kurz die Ereignisse erwähnt als “Ausschreitungen der Demonstranten im Park”.
Enno: Du warst selber direkt in der Menschenmenge. Was hast du da erlebt?
Altug: Man bekommt sehr viel von dem CS-Gas ab und kann kaum atmen. Durch die Atennot fängt man an, schneller zu atmen, und es wird immer schlimmer. Man sieht unglaublich viel Polizei, Wasserwerfer und es fliegen Gasgranaten. Man kann es dort kaum aushalten. Ich habe versucht, meine Frau zu schützen und schnell weiter weg in Sicherheit zu kommen. Es gibt auch immer wieder Probleme mit Anwohnern, die Asthma haben und keine medizinische Versorgung erhalten.
Enno: Weißt du, wie viele Menschen festgenommen, verletzt oder getötet wurden?
Altug: Inzwischen sind etwa 2.000 Menschen festgenommen worden und 10 getötet. In den Polizeistationen ist aber zu wenig Platz für alle Festgenommenen. Oft werden sie auf der Straße brutal zusammengeschlagen. In den Wachen aber auch. Man hört Schreie und Hilferufe aus den Gefangenensammelstellen. Es wurden offiziell nur 2 Tote bestätigt. Einer davon in Hatay durch Schläge auf den Schädel . Es gibt mehrere, die durch Gummigeschoße oder Gasgranaten ein Auge verloren haben.
Enno: Wie ist es in den vergangenen Tagen weitergegangen?
Altug: Auf dem Taksim Platz haben die Leute am Wochenende lange bis in die Nacht gefeiert. Es war eine gute, ausgelassene Stimmung, fast wie bei der Loveparade. Aber die Zusammenstöße zwischen Polizei und Aktivisten wurden immer schlimmer. Die Polizei veranstaltet richtigen Menschenjagden durch die Straßen.
Enno: Es sieht so aus, als wird von der Polizei alles verschossen, was sie noch im Lager haben. Was hältst du von der Aktion, Fotos davon zu sammeln und die Waffen zu identifizieren?
Altug: Ich habe die Gase am Freitag und die vom Samstag (nach der Agent Orange Warnung) miterlebt. ich weiß natürlich nicht, ob das Agent Orange war, aber es war 100% was anderes als am Anfang. Es wurden abgelaufene Gaspatronen auf den Straßen gesammelt. Aber jeder weiß, dass das, was in den letzten 4 Tagen geworfen wurde, komplett was anders, starkes ist. Freiwillige Ärzte sagen, dass die Menschen (ohne Kopfverletzungen) durch die Gase nicht wissen, wo sie sind, und Aggressionswirkungen zeigen. Man berichtet auch, das Gummigeschosse benutzt werden, was bei einigen Demonstranten den Verlust eines Auges zur Folge hatte.
Enno: Es gab aus Izmir Bilder von Truppentransportern der Armee, später Bilder, wie Soldaten verletzte Demonstranten versorgen. Weißt du etwas dadrüber?
Altug: Dieses Foto von dem nachrückenden Militär ist eine Fälschung. Bzw. ein altes Foto, das mit den Ereignissen nichts zu tun hat. Es stimmt allerdings, und wurde gefilmt und fotografiert, dass das Militär “menschlich” mitgeholfen hat und zum Beispiel einfache Schutzmasken verteilt hat. Ist aber eher eine Einzelaktion einiger Soldaten.
Enno: Inzwischen finden die Proteste in über 50 Städten statt, in den deutschen Medien kommt immer noch nicht viel an. Gibt es eine Nachrichtensperre?
Altug: Das ist genau das, wogegen wir demonstrieren und kämpfen. Das ist eine Angstpolitik, die solche Existenzängste schürt, dass große Medien Angst haben, gegen die Regierung zu berichten mit der Existenzangst. Es ist schon mal passiert, dass ein Oppositionskanal eine Steuerkontrolle und schließlich Strafen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bekommen hat.
Daher kommunizieren wir über Facebook und Twitter. Ist aber nicht immer sicher, da dort jeder mitlesen und schreiben kann. Die gefürchteten Provokateure haben schon falsche Infos dort verbreitet. Es kam sogar vor, dass die Polizei verfolgt hat, wer Notnummern und Nothäuser, die sich zur Hilfe oder zur Aufnahme von Verletzten freiwillig erklärt haben, gepostet hat, und diese dann in Untersuchungshaft genommen wurden.
Enno: Vielen Dank für das Interview!