Ein Gastartikel von Jens Kuhlemann
Das neue Beteiligungsinstrument setzt Maßstäbe bei der innerparteilichen Partizipation der Mitglieder.
„Habemus Beo – Basis Entscheid Online“ titelte der Spitzenkandidat der bayrischen Piraten zur Bundestagswahl, Bruno Kramm, unmittelbar nach dem Bundesparteitag in Neumarkt in seinem Blog. Bruno sah sich veranlasst erst einmal klarzustellen, dass die Piratenpartei als erste Partei Deutschlands die Einführung verbindlicher Online-Abstimmungen beschlossen hat. Im Trubel der kontroversen Diskussion um die zahlreichen Varianten unter dem Titel „SMV“ war dieses Novum nämlich beinahe untergegangen. Auch etliche Journalisten hatten offensichtlich den Gehalt der angenommenen Satzungsänderung „Basisentscheid und Basisbefragung“ noch nicht erfasst und schrieben bereits von den „Offline-Piraten“.
Dabei ermöglicht der Basisentscheid sowohl regelmäßig stattfindende Online-Abstimmungen im Internet als auch geheime Abstimmungen mit dezentralen Urnen. Dies ist ein großer Schritt vorwärts in der Weiterentwicklung der innerparteilichen Demokratie. Die Parteimitglieder können künftig in kurzen Abständen online politische Erklärungen, Grundlinien der Parteipolitik und weitere Angelegenheiten von besonderer Bedeutung beschließen, die rechtlich den Entscheidungen des Bundesparteitags gleichstehen.
So würde eine Piratenfraktion im Bundestag zahlreiche Orientierungen für ihre parlamentarische Arbeit erhalten, ohne auf den nächsten Bundesparteitag warten zu müssen. Dabei könnten endlich auch diejenigen Piraten mitbestimmen, denen es aus zeitlichen, finanziellen oder sonstigen Gründen nicht möglich ist, an herkömmlichen Mitgliederversammlungen teilzunehmen. Der so entstehende hohe Grad an Rückkopplung lässt es zu, den direktdemokratischen Anspruch der Mitmachpartei Piratenpartei noch besser mit Leben zu füllen – zumindest bei denjenigen Fragen, die die Mitglieder am stärksten bewegen.
Worin liegen nun die Unterschiede zwischen dem neuen Instrument des Basisentscheids und den Vorschlägen, die in Neumarkt unter dem Begriff „SMV“ kursierten? Es gibt hier aus meiner Sicht nur vier nennenswerte Merkmale. Dabei waren diese bei manchen SMV-Anträgen sogar schon im Grundsatz enthalten oder problemlos zu ergänzen:
Abstimmungen in regelmäßigen Abständen
- Mehrere Abstimmungen können parallel durchgeführt werden und enden dabei an dem gleichen Stichtag. Zwischen zwei Stichtagen müssen mindestens vier Wochen liegen. Bei der Online-Abstimmung können alle Teilnehmenden innerhalb von zwei Wochen bis zum Stichtag ihre Stimmen abgeben. In besonders dringenden Fällen lässt sich die Frist zwischen Einbringung eines Antrags und Ende des Abstimmungszeitraums auf eine Woche verkürzen.
Geheime Urnenabstimmung auf Antrag
- Zu einer Initiative, die genügend Unterstützung gefunden hat, findet auf Antrag von 5% der angemeldeten Parteimitglieder eine geheime Abstimmung statt. Durch diese Art Widerspruchsregelung kann eine Minderheit unter anderem sicherstellen, dass niemand das Abstimmverhalten anderer Personen öffentlich verbreiten, kritisieren und schlimmstenfalls kaufen oder sogar bestrafen kann. In diesem Fall entfällt die Online-Abstimmung. Es gibt stattdessen eine Abstimmung per Urne oder auf dem nächsten Parteitag. Außerdem können Stimmberechtigte in begründeten Ausnahmen bei Basisentscheiden – selbst wenn sie online erfolgen – für sich persönlich eine Stimmabgabe per Brief beantragen. Dies ermöglicht auch Mitgliedern ohne Computerkenntnisse sich zu beteiligen.
Abstimmungen im Netz mit Pseudonym
- Für jede Online-Abstimmung erhalten die Akkreditierten ein Einmal-Token als unverwechselbares Pseudonym, mit dem sie ihre Stimme abgeben. Direkt nach der Stimmabgabe bekommen die Teilnehmenden dann eine kryptographisch signierte Bestätigung. Sie können damit überprüfen und nachweisen, wie die eigene Stimme gezählt wurde. Selbstverständlich ist man während des gesamten Vorgangs frei, die eigenen Token und Stimmabgaben freiwillig zu veröffentlichen. Nach der Abstimmung ist abschließend für alle einsehbar, welches Token wie abgestimmt hat. Darüber hinaus befragt die Abstimmungsleitung stichprobenartig Mitglieder, ob ihre Stimmen zutreffend im Ergebnis erfasst wurden. Eine parteiweite Offenlegung der bürgerlichen Identität der Abstimmenden ist damit nicht verbunden. Die Zuordnung von Stimmen zu konkreten Mitgliedern ist jedoch für die gewählten Angehörigen der Abstimmungsleitung und ggf. das Schiedsgericht möglich. Diese können so bei Bedarf die Echtheit von Stimmen abermals überprüfen. Nach Beendigung aller Verfahrensschritte (inklusive eventueller Einsprüche) werden die Daten über die Zuordnung von Pseudonymen und Teilnehmenden gelöscht.
Einholen von Abstimmungsempfehlungen
Die Übertragung des Stimmrechts auf andere Personen (Delegation), wie es viele Piraten aus Liquid Feedback kennen, ist zwar ausgeschlossen. Deren Grundidee, Experten oder anderen vertrauenswürdigen Personen die Entscheidungsfindung zu überlassen, lässt sich aber sinngemäß verfolgen. Denn die „Delegierenden“ werden vor der Stimmabgabe über das beabsichtigte Abstimmverhalten der „Delegierten“ informiert und können sich maßgeblich daran orientieren. Man kann dabei Abstimmungsempfehlungen dauerhaft im Abonnement beziehen. Grundsätzlich dürfen alle Teilnehmenden unverbindliche Empfehlungen abgeben und begründen. Diese Empfehlungen lassen sich vergleichen, weiterempfehlen oder ggf. unmittelbar als eigene Stimme übernehmen. Auf diese Weise liegt der Akt der Stimmabgabe rechtlich bei den einzelnen Mitgliedern, während sie gleichzeitig ihr Votum am Ratschlag eines kundigen Mitglieds ausrichten können.
Das Abstimmungsgeheimnis (bei Urnengängen) bzw. eine weitgehende, selbstbestimmte Anonymität (bei Online-Abstimmungen) bleibt gewahrt. Verzerrungen des Wählerwillens durch Offenlegung bürgerlicher Namen sind praktisch ausgeschlossen. Die Parteimitglieder, die Abstimmungsleitung und ggf. das Schiedsgericht nehmen zu mehreren Zeitpunkten Überprüfungen vor, um Manipulationen oder Fehler zu verhindern. Anstatt die eigene Stimme einfach pauschal an andere abzugeben, kann man Abstimmungsempfehlungen je nach Vertrauen direkt übernehmen. Ein Moment, der Gelegenheit bietet noch einmal selbst nachzudenken, sich eigenständig eine Meinung zu bilden und eventuell das geplante Votum eigenverantwortlich zu korrigieren. Dieses Verfahren sollte für alle Piraten akzeptabel sein.
Der Umstand, dass per Basisentscheid noch keine Programm- und Satzungsänderungen verbindlich beschlossen werden, erscheint weniger erheblich. Auch etliche SMV-Konzepte gingen bei den zulässigen Themen nicht darüber hinaus. Im Gegenteil: Während Letztere oft keinerlei Abstimmungen über die Satzung oder Programmanträge vorsahen, erlaubt der Basisentscheid darüber immerhin Abstimmungen mit empfehlendem Charakter. Bei großer Beteiligung und ausführlicher Debatte hätte ein solcher Beschluss faktisch sogar eine höhere demokratische Legitimation als der eines Bundesparteitags. Er müsste aus rechtlichen Gründen aber noch auf einem Parteitag bestätigt werden. Dabei dürfte der Unterschied zwischen „Programm“ und „politischer Position“ für die Mitglieder und Öffentlichkeit in der Praxis wenig Bedeutung haben.
Warum also die verhaltenen Reaktionen vieler Piraten? Ist es die geringere Frequenz, mit der abgestimmt wird? Muss es wirklich täglich ein Mausklick sein oder sollte man lieber ab und zu ein paar Tage Zeit für eine Diskussion dazwischenschalten? Immerhin ergab ein Meinungsbild unter den Anwesenden des Parteitags in Neumarkt, dass die meisten gar nicht „ständig“, sondern nur „regelmäßig“ votieren wollen. Durch die Bündelung von Anträgen können außerdem Diskussionsveranstaltungen über die einzelnen Themen zusammengelegt werden. Die Ergebnisse lassen sich anschließend als Paket veröffentlichen und an die Presse weiterleiten. Der Basisentscheid erlaubt also regelmäßige Voten über eine Anzahl von Anträgen, die im Vorfeld eine relativ profunde Debatte unter allen Mitgliedern ermöglicht.
Dabei gibt es bei der Verbesserung der Diskussion über abzustimmende Anträge noch deutlich Luft nach oben. Es sollte künftig viel mehr Zeit zur Verfügung stehen, um Vorlagen parteiweit zu besprechen und zusätzlich Stellungnahmen von externen Sachverständigen einzuholen. So ließe sich nachhaltig das Fundament stärken, auf dem eine gut durchdachte Meinung steht. Die Zahl der pro Termin zu entscheidenden Vorlagen ist daher auf ein Maß zu reduzieren, das eine Fokussierung auf verhältnismäßig wenige Themen beinhaltet, die dafür jedoch umfassend reflektiert werden. Dafür sind Debattierwerkzeuge wie z.B. wikiarguments hilfreich. Denn sie vermeiden die Wiederholung von Redebeiträgen und gewichten die Bedeutung einzelner Argumente.
Der Basisentscheid geht zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht nicht ganz so weit, wie es sich einige gewünscht hätten. Aber er muss ja nicht der Weisheit letzter Schluss sein: Die Piraten werden ihre Erfahrungen mit dieser neuen Beteiligungsmöglichkeit machen, die bereits jetzt ihresgleichen unter den anderen Parteien sucht. Sie werden sie optimieren und womöglich in Richtung eines virtuellen Parteitags weiterentwickeln, der dann noch häufigere Voten ermöglicht – auch über bislang nur konsultativ abzustimmende Themen. Wir brauchen nur etwas Geduld und Spucke. Bis dahin bleibt der Basisentscheid das innovativste Entscheidungsinstrument, das es auf dem Markt gibt, und wird noch auf viele politische Akteure ausstrahlen.
Hier die Anlaufstellen und weitere Infos:
Überblick auf (fast) alles, was in Sachen Demokratie bei den Piraten läuft: wiki.piratenpartei.de/Demokratie
Basisentscheid in der Satzung:
wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2013.1/Antragsportal
Entscheidsordnung zum Basisentscheid:
wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2013.1/Antragsportal/
Häufige Fragen und Antworten:
wiki.piratenpartei.de/Basisentscheid/FAQ
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Sehr interessant ist auch der Blog-Post von Bruno Kramm vom 14.05.2013 und (wie ich finde) mein Interview über SMV und Basisentscheid vom 15.05.2013. Letztlich gibt es noch die Pressemitteilung des BuVo vom 16.05.2013.