Das Nest war wieder hübsch, so ganz ohne Sicherheitsvorrichtungen. Die Sonne schien, der Kaffee war lecker und das neue Notebook war mit einem Kabel gesichert. Notebook? Ja, der Sperling hatte sich entschlossen, die Papierzeitung nicht mehr zu abonnieren, ihm war die Einseitigkeit in der Berichterstattung zu blöd geworden – außerdem hegte er die Hoffnung, dass er lockerer bliebe, wenn er das Notebook beim Lesen auf dem Nestrand balanciert.
Er begann zu surfen und stieß auf einen Artikel über den SPIEGEL. Er schluchzte. Und bekam einen Weinkrampf, bei dem ihm das Notebook direkt aus dem Nest fiel – zum Glück gehalten vom Kabel. Was war passiert?
Das „Ehemalige Nachrichtenmagazin“, wie es der dicke Blogger immer nannte, näherte sich immer mehr dem Niveau des Focus an – also ganz unten. Wie in der Presse überall zu lesen war, versuchte der neue Chef einen der führenden Ideologen der BILD als seine Stellvertreter zu installieren.
„Wie dumm ist der denn?“ dachte sich der Sperling, „so offensichtlich zu machen, dass der SPIEGEL immer mehr zum Schmierblatt mit seriösem Anstrich verkommt“.
Der SPIEGEL, ehemals Vorreiter für die Pressefreiheit, galt lange Zeit als integer und war relativ frei von parteipolitischer Einflussnahme. Jeder, der Mist baute, bekam sein Fett weg – ob SPD oder CDU, FDP, Grüne und besonders die CSU – alle fürchteten sie den Montagmorgen und lasen, was drin stand. Investigativer Journalismus war sein Markenzeichen und man konnte gut erkennen, dass der Leser als mündiger Bürger geachtet wurde.
„Jaja, die ‚Gute alte Zeit‘ “ sinnierte der Flattermann, „Damals hatte er den SPIEGEL abonniert und las mit großem Vergnügen so gut wie jeden Artikel.“
Doch heute? Nach einem langem Niedergang, ausgelöst durch das Erscheinen des FOCUS auf dem Markt und befördert durch absolut hirnrissige strategische Entscheidungen ist kaum noch ein Journalist von Format bereit, den Chef zu markieren – nicht mal Klaus Kleber wollte den Chefposten als man ihm das vor Jahren anbot.
Man stelle sich vor, von den 50er Jahren bis in die 90er war der Posten des Chefredakteurs oder in der Chefredaktion des SPIEGEL heiß begehrt – nicht nur weil man eines der renommiertesten Nachrichtenmagazine der Welt führen konnte bzw. über den Kurs mitbestimmte, sondern auch, und ganz wesentlich, weil man damit Macht hatte. Und heute? Heute hat man nur noch Macht, zwar nicht mehr so viel wie früher, aber immer noch. Das Renommee ist endgültig verloren gegangen, selbst dem bequemsten SPIEGEL-Leser dürfte jetzt aufgefallen sein, dass es sich nicht mehr um ein Nachrichtenmagazin, sondern nur noch um eine Illustrierte mit hohem Textanteil und einem nicht mehr sehr hohen Anteil an guten, investigativen und informativen Artikeln handelt.
„Was für eine Schande“ dachte sich der Sperling, als er sein Abo kündigte. „Ich hab zwar gesehen wie der Laden langsam an Qualität verlor, aber dass Axel Springer jetzt jemand in die Chefetage hebelt, hätte ich mir früher nie träumen lassen“.
Nicolaus Blohme wird zwar jetzt nicht mehr stellv. Chefredakteur, sondern „Mitglied der Chefredaktion“ – aber dass die Mitarbeiter KG damit den Machtkampf verloren hat und nun eine BILD-Mann in ihrer Mitte sitzen hat, ist ein Faktum, das den mündigen Leser den letzten Rest von Respekt vor dem „Sturmgeschütz der Demokratie“ verlieren lässt. Das schlimmste ist, dass die Kollegen vom SPIEGEL, auch aus Angst um Ihren Job, kaum etwas dazu zu sagen werden.
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂