Nach dem Wahlsonntag gab es viele Erklärungen für das 2,2%-Desaster. Analysen kamen vom Vorstand selbst, von einzelnen Piraten und aus piratennahen Kreisen. Der Großteil der 1 Mio. Wählerstimmen kam von Nichtpiraten, wir hatten uns mehr als eine weitere Mio. Stimmen von Nichtpiraten gewünscht. Neben der Angst vor einer “verschenkten Stimme” für eine kleine Partei, gab es für Piratensymphatisanten viele Gründe, das Kreuz nicht bei uns zu machen.
Thomas Steier schrieb im Heise-Forum einen lesenswerten offenen Brief an “Liebe Piratinnen und Piraten, liebe Eichhörnchen und was auch immer”. Darin werden Punkt für Punkt Fehler aufgelistet, die in ihrer Summe zu unserer Abwertung beitrugen. Wir wollten es noch genauer wissen und Fragen bei Thomas nach.
Flaschenpost: Vielen Dank für die ehrlichen Worte in deinem offenen Brief an die Piraten. Wie lang hast du daran geschrieben?
Thomas Steier: Gute Frage. Ich habe das so nebenher zusammengetippt, als ich mich in Sachen “Wahlausgang” (allgemein) und “Piraten” (speziell) durchs Internet gekämpft habe. Auf die Uhr habe ich dabei natürlich nicht geschaut, aber eine Stunde dürfte sicher zusammenkommen. Wobei – am längsten hat es eigentlich gedauert, das Ganze so auf die 10.000-Zeichen-Begrenzung bei Heise einzudampfen, so dass der Sinn einigermaßen erhalten und die Polemik draußen blieb.
Flaschenpost: Du schreibst, dass du 2009 fast eingetreten wärst. Bist du heute froh, es nicht getan zu haben?
Thomas Steier: Ja. Aber vor allem, weil ich – was aktive Mitarbeit angeht – inzwischen eh’ nur noch eine “Karteileiche” wäre. Der Job lässt irgendwie kaum noch Platz für Privatleben, geschweige denn für ernsthaftes Engagement jenseits von “Online-Weltverbessern”. Und der Bedarf an Letzterem ist doch mehr als gedeckt.
Allerdings fiele es mir inzwischen auch schwer, mich mit der Piratenpartei zu identifizieren – vor allem, weil sie sich meiner Meinung nach seit 2009 von einer orangenen Truppe Idealisten mit wenigen klaren Zielen zu einem bunten Sammelsurium aus ‘zig Winz-Parteien … äh … Landes- und Kreisverbänden mit jeweils eigener Agenda entwickelt hat, ohne dass für einen Außenstehenden noch klar erkennbar wäre, für was sie in ihrer Gesamtheit eigentlich steht. Oder wenigstens stehen will. Und es bringt nichts, als (Neu-)Mitglied mit an einem Strang ziehen zu wollen, wenn dabei jeder eine andere Richtung meint.
Flaschenpost: Richtungsstreit und Parteiflügel mit unterschiedlichen Schwerpunkten gibt es nicht nur bei den Piraten.
Thomas Steier: Stimmt. Das Problem ist nur, dass das einerseits bei keiner anderen Partei so extrem nach außen dringt (bzw. dass es dort gefühlt zwei, drei Flügel gibt und nicht gleich einen pro Kreisverband oder Stammtisch) und andererseits die Informationen über die Piratenpartei bisher fast ausschließlich im Netz zu finden sind. Und dort setzen sich offenbar nicht die sachlichsten, sondern die lautesten Stimmen durch. Oder die, die die meisten “Meinungs-Multiplikatoren” mobilmachen können. Eine Google- oder Twitter-Suche zum Thema “Piraten” bringt beispielsweise bei Weitem mehr Streitigkeiten als echte Informationen zum Vorschein.
Kurz: Andere Parteien schaffen es irgendwie, sich trotz Flügelstreitereien erst auf eine Linie zu einigen und diese dann an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Piratenpartei erweckt dagegen häufig den Eindruck von “Wir wissen nicht, was wir wollen – aber das mit ganzer Kraft!”
Ich hatte es schon mal irgendwo geschrieben – das mit der Transparenz scheint bei der Piratenpartei genau verkehrt herum zu funktionieren. Alles, was der Partei auf die Füße fallen könnte, wird breitgetreten – und Informationen, die einen positiven Eindruck vermitteln könnten, findet man nur schwer oder muss sie sich über ‘zig Stellen verstreut zusammensuchen. Nur – die Mühe macht sich leider kein Journalist, der nimmt das, was ihm als Erstes in den Schoß fällt.
Flaschenpost: Ein Hauptkritikpunkt, auch von der Presse, an den Piraten lautete “ihr habt ja gar kein Programm”. War es ein Fehler innerhalb von vier Jahren ein Vollprogramm zu verabschieden?
Thomas Steier: Jein. Die Fokussierung auf einige wenige Themen (Bürgerrechte, neue Medien, sozialer Liberalismus usw.) der Anfangszeit kam meiner Meinung nach konkreter und irgendwie auch glaubwürdiger rüber. Die Piratenpartei steckt in der Öffentlichkeit häufig noch in einer “das sind so Technik- und Computerfuzzis”-Schublade – sprich, man spricht ihr bei diesen Themen fast automatisch Kompetenz zu und rechnet damit, dass sie bei diesen Themen zu einem hartnäckigen “pain in the ass” [Anm. d. Red.: in etwa “Stachel im Fleisch”] der alteingesessenen Parteien werden könnte. Kurz – man wusste, wer die sind und was sie wollen.
Ein Vollprogramm dürfte dagegen sicher viele Leute ansprechen, die eine “rundum-sorglos-Partei” erwarten. Allerdings erweckt das etwas den Eindruck, es möglichst allen recht machen zu wollen bzw. sich zu verzetteln. Und das Piratenimage führt dann häufig zu Äußerungen wie “… gut und schön, aber was verstehen die denn eigentlich z. B. von der ganzen Sozialgeschichte? Oder von rechtlichen Dingen?” . Mal überspitzt gesagt: Ein Informatikprofessor oder eine Sozialpädagogin mögen in ihrem jeweiligen Fachgebiet Koryphäen sein – aber das heißt noch lange nicht, dass ich sie auch mit dem Messer auf meinen Blinddarm loslasse … Sprich, ein Problem sehe ich darin, ein Vollprogramm nicht nur zu haben, sondern auch glaubhaft rüberzubringen.
Und das “Themen statt Köpfe” macht das meiner Meinung nach nicht leichter. Der Piratenpartei fehlen in meinen Augen ein paar Personen, die doch etwas weiter in der Öffentlichkeit stehen. Solche, mit denen sich ein potenzieller Wähler identifizieren oder zu denen er eine Art Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Solche, bei denen man mit Kompetenzen für die jeweiligen Problemfelder rechnet. Die wenigsten Leute, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind oder den Großteil des Tages in irgendeiner Form online verbringen, können zu einer anonymen Masse (kreative Pseudonyme hin oder her) als Gegenüber die gleiche Beziehung aufbauen wie zu “realen” Personen. Denen fällt es noch schwer zu verstehen, was z. B. @BuBernd glaubwürdiger macht als “I’m Toko Mungabi, senior chairman of the Bank of Nigeria”.
“Themen statt Köpfe” funktioniert meiner Meinung nach erst dann, wenn es irgendwann auch eine funktionierende Basisdemokratie gibt (sei es via SMV oder was auch immer) und deren Ergebnisse nach außen kommuniziert werden können. Aber bis dahin braucht es irgendeine andere Schnittstelle zwischen Piratenpartei und Umfeld – eine Abkehr von traditionellen Strukturen benötigt eine funktionierende Alternative.
Die Kombination aus Vollprogramm und Streiterei wirkt noch zusätzlich irritierend. Ich habe im Bekanntenkreis mehrfach Äußerungen in Richtung “Wie wollen sie auch nur irgendetwas davon durchsetzen, wenn sie sich noch nicht einmal untereinander grün sind? Dort weiß doch einer nicht, was der andere tut.” gehört. Soll heißen, der Zeitpunkt für das Vollprogramm kam meiner Meinung nach zu früh. Die Piratenpartei hätte erst einmal essentielle Punkte des Kernprogramms, z. B. eine funktionierende Basisdemokratie, umsetzen und damit zeigen können, dass sie arbeitsfähig ist. Aber wenn auf der einen Seite nichts wirklich klappt bzw. alles zerpflückt und zerredet wird und auf der anderen Seite immer mehr gewollt wird, erweckt das nach außen einen etwas merkwürdigen Eindruck – aber sicher keine Glaubwürdigkeit.
Bei anderen Themen fehlt wiederum eine wenigstens ansatzweise Erklärung, wie man sie umzusetzen gedenkt. Etwas, das erkennen lässt, dass man nicht nur ein paar gutklingende Begriffe in den Raum kippt (das machen die “alteingesessenen” Parteien schon mehr als genug), sondern sich wirklich damit beschäftigt hat.
Das meiner Meinung nach beste Beispiel ist das BGE: Dass Vollbeschäftigung zunehmend illusorisch wird, ist vielen Menschen klar. Aber wenn man dann kommentarlos ein BGE anbietet, reagieren die Leute skeptisch – viele sind durch die aktuelle Politik und die Medien so weit beeinflusst, dass die erste Reaktion ein “Na prima, jetzt soll ich für noch mehr Faulpelze bezahlen …” ist. Sie wissen es ja nicht besser (woher auch?) und reagieren prompt ablehnend.
Flaschenpost: Wir müssen demnach massiv unser Auftreten verbessern und daran arbeiten, unsere Forderungen glaubwürdiger zu präsentieren?
Thomas Steier: Ja. Wobei die Forderungen meiner Meinung nach sogar noch Zeit haben – das Auftreten halte ich momentan für wichtiger. Weil: Die Forderungen sollen ja ernst genommen werden – und das fällt im Moment vielen Leuten schwer.
Das “Rauschen” im Netz wird sich nicht vermeiden lassen, aber eine funktionierende Streitkultur würde schon viel bewirken. Argumente statt “ad hominem” und “shitstorm”. Nehmt doch die gute alte “Netiquette” in die Parteistatuten auf, im Sinne von “Willkommen ist, wer bereit ist, Diskussionen sachlich zu führen.”
Ein ganz blöder Brauch ist auch, Streitigkeiten via Twitter auszutragen. Mit 140 Zeichen, von denen in der Regel noch die Hälfte für #hashtags abgehen, kann man sich zwar gegenseitig irgendwelche Dinge an den Kopf knallen, aber nicht argumentieren, geschweige denn diskutieren. Das erinnert – sorry für den Vergleich – eher an typische “Schüler-in-der-Straßenbahn”-Gespräche à la “Alda! Dei’ Mudda…!” – “Immer zweimal mehr wie Du!” Ein Außenstehender, der über so etwas stolpert, greift sich im günstigsten Fall an den Kopf …
Und nachdem es jetzt auch N-TV geschafft hat, Katharina Nocun unter “GroeKatZ” [Anm. d. Red.: ein Satireaccount, @kattascha ist der richtige.] zu verorten: ihr habt Pressemappen – aber gehen die auch an die Redaktionen (vom lokalen Karnickelzüchter-Vereinsblatt bis zu ARD und ZDF) raus oder wartet ihr darauf, dass die sie sich selbst suchen? Falls Letzteres: siehe oben, Journalisten sind faul 😉 Bombardiert die damit! Einfach, um solche Dinge wie “GroeKatZ”/”GroeVaZ” zu vermeiden und den Medien wenigstens einen Anhaltspunkt zu geben, wer für die Piraten spricht und was eher Rauschen ist.
Habt ihr eure Presseerklärungen nur auf eurer Homepage abgelegt, oder gehen sie auch gezielt und flächendeckend raus? Gibt es Ansprechpartner für Rückfragen, und wie sind diese zu erreichen? So funktioniert es jedenfalls nicht.
Der nächste Punkt ist, dass ihr wieder ein klares Profil braucht. In den letzten Monaten und Jahren konnte man den Eindruck bekommen, dass als Folge des 2009er Erfolges immer mehr Menschen in die Piratenpartei eintraten, die versuchten, auf der Welle mitzuschwimmen und die Partei nach ihren Vorstellungen zu verbiegen, anstelle die ursprünglichen Ziele zu verfolgen. Aber “Der Feind meines Feindes ist mein Freund.” funktioniert in den seltensten Fällen, dazu ist die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten in der Regel zu klein und man arbeitet gegen- statt miteinander.
Fiktives Beispiel: Wenn jemand Mitglied bei den Grünen war und zur Piratenpartei gewechselt ist, weil ihm die Grünen bei allen anderen Gemeinsamkeiten nicht linksradikal genug waren – wäre es nicht besser gewesen, innerhalb der Grünen daran zu arbeiten, anstelle zu versuchen, aus den Piraten eine grüne MLPD zu machen? Der Nächste kommt von der FDP, weil ihm die nicht sozialdarwinistisch genug war, und zerrt in die nächste Richtung. Oder von der NPD, weil er sich doch mit dem Gedanken an ein gemeinsames Europa anfreunden könnte…
Da bleiben kaum Gemeinsamkeiten übrig – und das Resultat sieht man. Leider.
Was die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit angeht: die Piratenpartei spielt immer noch in einer anderen Liga als die “großen” Parteien. Sprich, ihr habt keine “Hofberichterstatter”, sondern müsst aggressiv auf die Medien zugehen. Kontakte auch “offline” aufbauen und euch dort nicht nur untereinander, sondern auch mit Menschen vernetzen, die mit euch sympathisieren oder auch nur eure Standpunkte weitertragen können. Ein Vorbild könnten da Bürgerinitiativen sein – dort schaffen es oft wirklich kleine Gruppierungen, ein breites Medienecho zu erzeugen. Gibt es da eventuell etwas, das ihr euch abschauen könntet?
Von der Reihenfolge der Aufgaben her würde ich das so sehen:
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1. Diskussions- und Streitkultur aufbauen.
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2. Ein einheitliches Profil gewinnen.
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3. Öffentlichkeitsarbeit – gerne auch penetrant.
Und wenn das alles funktioniert:
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4. Fordern.
Ich weiß, das schreibt sich alles weit einfacher, als es umzusetzen ist. Und ich bin so ziemlich der Letzte, der ein Patentrezept mit Erfolgsgarantie anbieten kann. Ich versuche nur das auszudrücken, was mich in Bezug auf die Piratenpartei bewegt, und was ich in Gesprächen im Bekanntenkreis aufgeschnappt habe – andere Leute mögen wieder andere Ansichten haben.
Wichtig ist nur, dass die Piratenpartei zu einem aktiven und funktionierenden Bestandteil der Politik wird. Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen bieten einigen Grund zur Sorge – da ist es umso wichtiger, dass jemand da ist, der nicht nur das Wohl diverser Lobbygruppen im Auge hat, sondern eben auch Dinge wie Bürgerrechte, die bei den “Alteingesessenen” (wenn überhaupt) offenbar nur noch Feigenblattfunktion haben …
Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn die PP nicht am “Wahlkater” zerbricht, sondern die Gelegenheit nutzt, gestärkt und profiliert wieder aufzustehen.
Flaschenpost: Vielen Dank für die ehrlichen Worte in deinem offenen Brief und für dieses Interview.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.