Während wir dieser Tage auf Twitter nahezu im Stundentakt von Parteiaustritten zu lesen ist, trat Stefanie Talaska jetzt in die Partei ein – ganz leise. Die Berlinerin aus Pankow lies sich für diese Entscheidung Zeit und tat es wohl überlegt.
Flaschenpost: Stefanie, herzlich willkommen in der Piratenpartei. Du hast die Piraten schon länger im Blick und bist jetzt eingetreten. Das geht ein wenig gegen den Trend.
Stefanie: Abgesehen davon, dass ich Opportunismus noch nie reizvoll fand, hat das verschiedene Gründe. Zum einen war ich kurze Zeit davor Teil einer sehr großen Studie, die sich mit dem Politikverständnis von jungen Menschen beschäftigte. Das wichtigste Ergebnis daraus war, dass die jungen Menschen weniger politik- als parteiverdrossen sind. Sie neigen aufgrund der wahrgenommenen fehlenden Identifikationsmöglichkeit mit der Parteienlandschaft zu sehr harten Ansichten, die meiner Meinung nach zu einer Welt führen, in der zumindest ich nicht leben möchte. Und es war einfach furchtbar zu sehen, wie desillusioniert so jungen Menschen schon sein können. Sie verstehen Politik auch zum großen Teil nicht mehr als etwas das sie betrifft, obwohl sich das ganze Leben in Möglichkeiten abspielt, die natürlich zum großen Teil auf politische Entscheidungen zurückzuführen sind.
Auch ich hab mich oft sehr beschränkt gefühlt in dem Rahmen, in dem ich handlungsfähig bin. Nicht immer und nicht zu jeder Zeit, aber manchmal schlug es mir wirklich heftig ins Gesicht, wie begrenzt meine Handlungsmöglichkeiten sind. Und deswegen musste ich etwas tun – einfach um mitbestimmen zu können, wo meine Ohnmacht anfängt und endet. Oder zumindest den Versuch gemacht zu haben.
Zu den Piraten kam ich dann tatsächlich durch riesige Zufälle. Ich lernte immer mal wieder Menschen kennen, die dort aktiv sind. Und ich fing an, mich mit ihnen zu beschäftigen. Auch zu der Zeit gab es schon Gates, aber das war für mich nicht so entscheidend. Für mich war entscheidend zu einer Partei zu gehen, die sich bemüht, völlig anders zu denken. Nicht zu argumentieren mit „das war immer so, deswegen sind Dinge so wie sie sind und müssen immer so bleiben.“
Es ging mir deswegen vor allem um den Mut, Dinge neu zu denken. Zu fragen: warum müssen immer noch alle Vollzeit arbeiten? Wieso will irgendwer irgendwem vorschreiben, was eine Familie ist? Wann ein Mensch etwas wert ist und wo darf er leben? Wieso müssen sich die Bedürfnisse der Menschen der Politik anpassen? Warum passt sich die Politik nicht den Bedürfnissen und Umständen an?
Auf dem Parteitag 2012 in Bochum war ich dann von der Leidenschaft, mit der Menschen für das kämpfen, an das sie glauben, einfach berührt. Danach war der entscheidende Moment für mich das Ereignis in Mahrzahn-Hellersdorf und der Flüchtlingsunterkunft, bei dem es aus meiner Wahrnehmung vor allem Piraten waren, die nicht hingenommen haben, welchen Anfeindungen und wirklichen Bedrohungen die Menschen dort ausgesetzt waren.
Piraten sind für mich diejenigen, die Realität nicht als etwas begreifen, womit man sich abfinden muss. Piraten sind diejenigen, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass egal zu welchem Thema, Positionen entwickelt und verabschiedet werden, diese sich am Menschen und seiner Entfaltung orientieren. Solange das so bleibt, sind mir Gates relativ egal. Auch wenn es natürlich schöner für die Außen- und auch Innenwirkung wäre, wenn anders damit umgegangen würde. Und vor allem wäre es schöner, wenn Menschen darauf achten, was sie sagen und mit welcher Heftigkeit. Twitter ist 1000 mal heftiger als eine normale Reaktion.
Flaschenpost Du hast dir einen spannenden Zeitpunkt ausgesucht. Die Bundestagswahl ist verloren, kurz vor der Europawahl konzentrieren viele Piraten ihre Kraft in das #flaggengate, das #bombergate und den #orgastreik.
Stefanie: Ich bin grundsätzlich sehr, sehr vorsichtig damit, Menschen und Handlungen von Menschen zu bewerten, in deren Haut ich nicht stecke. Ich sehe darin auch keinen Sinn. Menschen handeln, das kann ihnen innerhalb rechtlicher Grenzen niemand verbieten.
Ich konzentriere mich lieber auf Dinge, auf die ich Einfluss habe und die mich Zielen näher bringen.
Mich interessiert auch eher die Vogelperspektive: Was regt Menschen auf? Warum regt es sie auf? Welche Mittel damit umzugehen, wählen sie? Welche Mittel stehen ihnen überhaupt zur Verfügung?
Und für mich sind die Gates der letzten Wochen vor allem eins: Ein riesiges Experiment der Organisationssoziologie in dem sich zeigt, wie sich Menschen ohne explizite Hierarchie organisieren, wie Macht entsteht, wie Kommunikationsmuster verlaufen und Entscheidungen getroffen werden.
Nichtsdestotrotz sage ich auch: Wenn Menschen – aus welchen Gründen auch immer – Entscheidungen treffen, die nicht normkompatibel wirken oder verwirrend scheinen, ist doch das sinnvollste Mittel nicht, einen Shitstorm auszulösen. Zu glauben, sich zu allem, was passiert, sofort einen Standpunkt bilden zu können und diesen bewerten zu können, spricht meiner Meinung nach den Menschen die Fähigkeit ab, sich zu entwickeln. Es sollte sehr viel öfter darum gehen, etwas zu begreifen als etwas zu bewerten. Natürlich gibt es auch Positionen, die ich nicht vertretbar finde. Und es gibt Menschen, die nicht lernen wollen. Ich beschäftige mich aber damit nicht bei Twitter oder auf Mailinglisten. Ich ziehe daraus nur die Konsequenzen, diesen Menschen dann einfach keine Plattform zu geben. Meinen Teil dazu beizutragen, diesen Positionen kein Sprachrohr zu sein. Allerdings ist mir auch sehr klar: diese Entscheidungsmöglichkeit zu haben, ist ein Luxus. Ich verstehe ebenso Menschen, die aufgrund ihres Wissen, ihren Erfahrungen und ihrer Situation radikaler handeln.
Ich kann aber das Bedürfnis, Menschen zu beleidigen oder sogar zu bedrohen nicht nachvollziehen. Jedoch frage ich mich dabei natürlich: Warum empfinden es einige als sinnvolles Mittel, mit etwas umzugehen, was ihnen nicht gefällt?
In Bezug auf die Europawahl wäre es natürlich wichtig gewesen, gerade jetzt andere Signale zu senden. Aber wenn es nun einmal so ist, ist die Zeit vielleicht noch nicht reif. Die Aufgabe der Piraten sehe ich eigentlich darin, Menschen Hoffnung zu geben, ihnen Alternativen zu bieten – das sollte ihr Schwerpunkt sein. Gerade wegen der Ergebnisse der Studie, die ich anfangs ansprach. Sie sollten Menschen einen Grund geben, sich mit Politik zu beschäftigen, überhaupt sich als relevanten Bestandteil dieser Welt zu begreifen, ohne die Relevanz eigener Befindlichkeiten zu überschätzen. Die Gates und der Umgang damit waren diesem Ziel nicht sonderlich zuträglich.
Flaschenpost: Dich begeistert der Dadaismus, der 1916 in Zürich als Kunstform gegen die bestehende Kunst entstand. Erklärt das dein Eintreten in die Piratenpartei, die sich zumindest bei ihrer Gründung als Anti-Partei verstand?
Richard Huelsenbeck
Stefanie: Also Begeisterung wäre vielleicht schon etwas viel gesagt 🙂 Ich weiß, du spielst auf meine Tweets an, in denen ich den Dadaismus mit der Piratenpartei verglich. Als es die letzten Tage so laut wurde auf Twitter und aus jeder Ecke noch ein Statement kam, hatte ich irgendwann das Gefühl, dass es völlig egal ist, was im Text steht. Dass es wortwörtlich nicht mehr gelesen werden kann, als würden Menschen in unterschiedlichen Sprachen miteinander reden. Und so dachte ich an den Dadaismus und war sehr überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten es doch zwischen dieser Kunstform und den Piraten gibt. Zum einen der Protestcharakter, der gängige Methoden in Frage stellt. Aber auch die Ausdrucksweise und der Inhalt – Richtungen, die Menschen manchmal vor den Kopf stoßen, die vereinfacht, banal, verträumt oder verwirrend wirken, die aber eine grundsätzlich Kritik und Haltung ausdrücken wollen. Es half sehr, die Ereignisse in einen größeren Kontext einzubetten.
Zu deiner Frage noch einmal: ich empfinde die Piratenpartei nach wie vor als großartige Chance, den Blick auf Dinge zu verändern. Nicht immer wieder gleichen (Un-)Logiken zu verfallen, zu sagen: es geht auch anders und die Chancen der Zeit zu nutzen.
Flaschenpost: was sind die Themen die dich bewegen?
Stefanie: Mir sind vor allem der möglichst niederschwellige Zugang zu Bildung, Wissen und Teilhabe wichtig. Das schlimmste, was einer Welt passieren kann ist, dass ihre Bewohner*innen nicht eigenständig denken können und sich ohnmächtig fühlen, weil sie keine Handlungsmacht empfinden. Insofern empfinde ich Wissen & Teilhabe als effektivste Lebensversicherung. In diesem Zusammenhang ist mir deswegen auch besonders wichtig, das Verständnis von Wirtschaft zu verändern. Es ist einfach unhaltbar, welchen Bedingungen Menschen ausgesetzt sind aufgrund einer verqueren Wachstumslogik . Wenn technische Veränderungen kaum einen positiven Einfluss auf Wirtschaft und Erwerbsarbeit haben, finde ich jeden technischen Fortschritt extrem demotivierend. Dass sich Erwerbsarbeit als Konzept seit Jahrzehnten kaum verändert hat bei gleichzeitigem technischen Fortschritt und Überproduktion ist einfach nicht zu rechtfertigen. Aber das ist ein riesiges Thema und fängt schon mit dem Konzept der Börse an und der Frage, was Wirtschaft heute leisten soll, kann und muss.
Die Prioritäten des Fortschritts sollten beim sozialem Fortschritt liegen. Und das gilt für jedes Thema. Sozialen Fortschritt mit den technischen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, zu verknüpfen, ist dabei besonders wichtig. Und deswegen fühle ich mich bei den Piraten gut aufgehoben. Vermutlich bis ich für dieses Interview einen Shitstorm bekomme :).
Letztendlich bewegen mich alle Themen, die Menschen Angst nehmen. Das hört sich jetzt bestimmt banal an, aber das ist meine Prämisse, mein Blick auf die Welt, aus dem ich alles andere ableite.
Und am Ende geht es auch immer um den großen Sinn hinter dieser Partei – und der ist für mich, Menschen glauben lassen zu können, dass Dinge sich ändern können.
Flaschenpost: vielen Dank für die ausführlichen Antworten. Der Shitstorm wird wohl ausbleiben, dafür braucht es dann doch etwas mehr.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.