Tausende von Webseiten passen der türkischen Regierung nicht ins Konzept – und werden zensiert. Sei es Pornografie, Fetisch, Homosexualität oder einfach nur die «falsche» Meinung: ein neues Gesetz macht es noch einfacher, unliebsame Inhalte zu blocken und politische Gegner zu unterdrücken. Dazu ist ein Gang zum Richter künftig nicht mehr nötig. Das Zensurgesetz wird begleitet von landesweiten Protesten und kommt passend zu einem Korruptionsskandal um Ministerpräsident Erdogan.
Protestwellen in der Türkei
Die Idee, Inhalte zu kontrollieren, geht ins Jahr 2007 zurück. Damals wurde in der Türkei das erste Zensurgesetz eingeführt. Im Anschluss kam es immer wieder zu Sperren ganzer Plattformen wie Youtube und WordPress – unter anderem wegen »Beleidigungen des Staatsgründers Atatürk« in einzelnen Videos und Blogbeiträgen. Für solche Sperren war dem Gesetz zufolge ein Gang zum Richter nötig.
Letzten Sommer begann sich die Situation zu verschärfen. Die Türkei war weltweit in den Schlagzeilen, als in Beyoğlu, einem Stadtteil von Istanbul, der Gezi-Park mit einem Einkaufszentrum überbaut werden sollte. Am 27. Mai 2013 stellten sich ein paar Männer einem Bagger entgegen und lösten damit friedliche Proteste gegen die Zerstörung des Parkes aus. Als die Polizei mit exzessiver Gewalt eingriff und dabei viele Menschen verletzte, formierte sich eine landesweite Protestwelle gegen die Regierung Erdogans.
Die Piraten waren mittendrin: »Während Gezi merkten die Leute, dass die Piraten nicht nur für digitale Rechte und Internetfreiheit, sondern allgemein für Menschen- und Bürgerrechte eintreten«, so Şevket Uyanık zur Flaschenpost. Er ist im Vorstand der Korsan Parti. Seit den Protesten haben er und seine Mitpiraten alle Hände voll zu tun, denn soziale Medien sieht Regierungschef Erdogan als »Plage«, wo Lügen verbreitet werden. Sie seien die schlimmste Bedrohung für Gesellschaften und »müssen deshalb kontrolliert werden«. So wurden während der Proteste Dutzende von Twitterern festgenommen, weil sie »irreführende und beleidigende Informationen« verbreitet haben sollen.
»Da alle Medien, Kommunikationsplattformen und der öffentliche Raum stark überwacht wurden, war der einzige Ausweg, sich über soziale Medien zu organisieren«, sagt Uyanık. »Die sozialen Medien haben es den Menschen ermöglicht, sich frei zu äussern.« Dank der Proteste, die sich massiv in den sozialen Medien wiederspiegelten, überwanden die Menschen ihre Angst und fanden »ein Ventil, um all die unterdrückten Gefühle des vergangenen Jahrzehnts zu entfesseln.«
Die Situation bleibt bis heute angespannt: »Würden wir unsere Mitteilungen in einem schärferen Ton formulieren, lenkte dies wahrscheinlich Aufmerksamkeit auf uns und wir bekämen Ärger.« Wie alle Regierungskritiker sind auch die Piraten der Zensur und Repression Erdogans ausgesetzt. Sie sind sich deshalb unsicher, ob sie überhaupt eine offizielle Partei werden wollen: »Teil des Systems zu sein ist in der Türkei kein vernünftiger Weg, um das System zu ändern.« Zu den anstehenden Wahlen treten sie jedenfalls nicht an. Sie unterstützen stattdessen unabhängige Kandidaten.
Zensur ohne Gericht
Auch Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung will Inhalte kontrollieren. Sie hat deshalb ein Zensurgesetz geschrieben, welches es der Telekommunikationsbehörde erlaubt, ohne richterlichen Beschluss Webseiten zu sperren. Das Gesetz wurde im Parlament angenommen und trat in Kraft, nachdem es Staatspräsident Abdullah Gül vor einem Monat unterzeichnet hat – trotz persönlicher Bedenken, die er zuvor per Twitter äußerte. Der Entscheid führte zu neuen Protesten, die Opposition wirft der Regierung »Faschismus« vor.
Kaum beschlossen, kam das Gesetz letzte Woche auch schon zur Anwendung. Der Druck auf Erdogan stieg an, weil über Twitter und Co. Links zu Telefonmitschnitten verbreitet wurden, die im Zusammenhang mit einer Korruptionsaffäre stehen. Prompt ließ er Twitter sperren (die Flaschenpost hat berichtet). Twitter bot darauf hin an, Tweets über SMS zu verschicken. Zensurgegner reagierten mit der Bekanntmachung von Möglichkeiten, die Maßnahmen zu umgehen. Sie malten beispielsweise 8.8.8.8 auf Wände – Googles unzensierter Auflösungsdienst für Domainnamen (DNS).
Laut Uyanık gibt das den Piraten Auftrieb: »Heute erhalten wir viele Fragen dazu, wie man im Internet anonym bleibt oder wie man die Sperren umgeht.« Die Piraten helfen gerne und wollen künftig »weit offensiver agieren, um Bewusstsein zu schaffen und die Rechte im Internet zu verteidigen.« Sie organisieren Workshops, teilweise in Zusammenarbeit mit Universitäten. Außerdem arbeiten sie an einer Zensurumgehungslösung und sind auf der Suche nach Servern für deren Umsetzung. Spendewillige können sich per Twitter bei Serhat Koc melden.
Kritik aus Strassbourg und Brüssel
Die Entwicklungen in der Türkei werden auch international schon länger kritisch beobachtet. »Die zunehmende Verletzung der Meinungsfreiheit gibt Grund zur Sorge«, stellt die EU-Kommission in einem Fortschrittsbericht zum Beitritt der Türkei in die Europäische Union fest. Die Gerichte seien nicht unabhängig und schränkten die Meinungs- und Pressefreiheit ein. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam zum Urteil, dass Sperren in der Vergangenheit gegen die Meinungsfreiheit verstießen und zu Unrecht durch ein türkisches Gericht bestätigt wurden.
Auf die Blockierung von Twitter reagiert die deutsche Regierung zurückhaltend; sie sieht diese nicht als Zensur, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Wirtz letzten Freitag mitteilte. Deutschland werde aber das Gespräch suchen und die Türkei wissen lassen, dass die vorliegende Situation nicht dem Verständnis Deutschlands von freier Kommunikation entspreche.
Trotz dieser Geschehnisse sind die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gemäß Außenamtssprecher Martin Schäfer nicht gefährdet – denn Defizite bei der Presse- und Meinungsfreiheit sähen sowohl Deutschland als auch die EU schon lange.
Dank geht an Ali Utlu, der den Kontakt zu den türkischen Piraten hergestellt hat.