Als die deutschen Piraten zum ersten Mal die Idee vom kostenlosen öffentlichen Nahverkehr vorbrachten, wurden sie von vielen Politikern anderer Parteien dafür ausgelacht. Was die anderen Politiker zu diesem Zeitpunkt nicht wussten: So unrealistisch ist diese Vorstellung nicht. In Tallinn ist sie fast schon Wirklichkeit geworden.
Nach einer gewissen Zeit wurde die Idee Teil des Programms der Piratenpartei Deutschland mit dem Ziel, nachhaltige Vorteile für Gesellschaft und Wirtschaft zu schaffen. Das Argument dafür war, dass der öffentliche Nahverkehr dadurch attraktiver und von Besuchern sowie Einheimischen mehr benutzt werden würde. Auf diesem Weg sollten schließlich weniger genutzte Strecken wiederbelebt und die Kosten gesenkt werden können, da kein Personal mehr zum Verkaufen und Kontrollieren von Fahrscheinen gebraucht werden würde. Dieses Personal könnte dann dazu eingesetzt werden, um den Service zu verbessern.
Dieses Szenario ist seit Januar 2013 in Tallin, der Hauptstadt Estlands, zum Großteil Realität geworden. In der Stadt wurde der öffentliche Nahverkehr von der Estnischen Zetrumspartei für alle registrierten Einwohner der Stadt kostenlos zugänglich gemacht. Um den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, erhalten alle Einwohner eine „Green Card“, die sie zu kostenlosen Nutzung berechtigt.
Diese Karten funktionieren genau wie normale Fahrscheine: Steigt man in den Bus ein, muss man seine Karte „abstempeln“ und damit nachweisen, dass man zum kostenlosen Fahren berechtigt ist. Interessanterweise muss man dennoch ein Bußgeld bezahlen, sollte man seine Karte einmal vergessen – obwohl man das Recht hat, kostenlos zu fahren. Dazu traten auch Probleme beim Datenschutz, verbunden mit der verwendeten Technologie, auf. Direkt nach der Einführung wurden Nutzer-Informationen öffentlich, die Sammlung der Daten wurde eingeschränkt, sodass heute nur noch nachvollzogen werden kann, wie häufig welche Buslinien genutzt werden.
Das Programm wird hauptsächlich aus Steuern finanziert. Bereits zuvor wurde der Nahverkehr stark subventioniert und wird nun komplett von der Stadt bezahlt. Das einzige direkte Einkommen stammt von Besuchern von außerhalb, die immer noch für Fahrscheine bezahlen müssen. Eine andere Einnahmequelle ist das Steuergeld von neuen Einwohnern der Stadt, die nach Tallinn ziehen, um den kostenlosen Transport verwenden zu können. Das Problem dabei ist allerdings, dass dieses Steuergeld nun in kleineren Städten und Gemeinden fehlt, die diese Einnahmequelle brauchen.
Dies ist einer der Punkte, der von Märt Põder und Eero Elvisto von der Estnischen Piratenpartei kritisiert werden. Eero Elvisto sagte dazu:
„Ironischerweise kann man argumentieren, dass ein Fortschritt im öffentlichen Nahverkehr in kleineren Orten notwendiger ist, da er genau dort fehlt oder sich verschlechtert, während der öffentliche Nahverkehr in der Hauptstadt sein bereits effizientes Modell noch mehr subventioniert (wenn auch nur gering).“
Weiterhin kritisieren sie die juristischen Folgen und Bußgelder, die auf einen zukommen, sollte man seine Karte zuhause vergessen haben oder nicht daran denken, sie „abzustempeln“, obwohl man eigentlich das Recht hat, den Nahverkehr kostenlos zu nutzen. Zudem sind sie immer noch besorgt über die Datenschutz-Probleme des Systems, da es die Möglichkeit bietet, die Wege jedes einzelnen Nutzers nachzuverfolgen. Außer diesen Kritikpunkten wird das Modell des öffentlichen Nahverkehrs von den estnischen Piraten hauptsächlich unterstützt.
Jetzt, nach mehr als einem Jahr Probe, ist es Zeit für eine Bewertung. Abhängig vom Standpunkt sind Teile der Umsetzung gelungen, andere allerdings nicht. Mit Sicherheit wurde die nachlassende Nutzung des Nahverkehrs gestoppt; es konnte sogar laut des Zentrums für Verkehrsstudien (PDF) der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm eine Erhöhung der Nutzung um 3% festgestellt werden. Der kostenlosen Nutzung können jedoch nur 1,2% davon zugeschrieben werden, die anderen 1,8% der Erhöhung ist der Verbesserung der Servicequalität zuzuschreiben. Auch betreffend anderer Punkte ist das Projekt ein Fehlschlag: Die Anzahl der Autos in der Stadt sowie die Häufigkeit der Nutzung ist fast dieselbe wie vor der Einführung. Vorteile in Bezug auf die Umwelt gibt es demnach nicht.
Grund dafür könnte es sein, dass der öffentliche Nahverkehr in Tallinn bereits relativ billig war und mit einem Anteil von 40% am Verkehr bereits viel genutzt wurde. Nichtsdestotrotz wird das Projekt laut Olga Sõtnik, die Mitglied der Partei und des Parlaments ist, weitergeführt, solange die Estnische Zentrumspartei an der Spitze steht. Ende 2013 wurde das Programm sogar noch für Zugfahrten innerhalb der Stadtgrenzen erweitert. Aber auch hier gibt es noch viel Raum für Verbesserungen.
Diese Umsetzung kommt der Idee, die im Programm der Piratenpartei Deutschland zu finden ist, schon sehr nahe, unterscheidet sich aber in vielen Kernpunkten von dieser. Es gibt Einschränkungen für die Anwohner, Fahrscheine müssen immer noch kontrolliert und Verkaufsstellen für Besucher und Touristen betrieben werden. Aber vielleicht sind das annehmbare Kompromisse für die Piratenbewegung und das Projekt trägt dazu bei, die Idee zusammen mit anderen Parteien weiterzuverfolgen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Pirate Times. Die englische Originalfassung von Daniel Ebbert finder ihr hier.