
Von Guillaume zu Snowden | ( Brandt und Guillaume: CC BY SA 3.0 Pelz & Merkel: Gemeinfrei (Bundestag) & Snowden: CC BY SA 2.0 Robert Douglass)

Geschichte wiederholt sich nicht, das wird dieser Tage deutlich. Was vor 40 Jahren geschah, ist mit der heutigen Situation nicht vergleichbar. Die Intensität der Spionage ist 2014 um Grössenordnungen höher als 1974. Bei der Entrüstung verhält es sich genau umgekehrt.
Am 7. Mai 1974, genau vor 40 Jahren, trat der damalige Bundeskanzler Willy Brand zurück. Wikipedia schreibt dazu: „Am 24. April 1974 wurde mit Günter Guillaume einer der engsten Mitarbeiter des Bundeskanzlers Willy Brandt als DDR-Agent enttarnt. Brandt übernahm die politische Verantwortung und trat am 7. Mai 1974 von seinem Amt als Bundeskanzler zurück“. Guillaume war bis zu seiner Verhaftung wie ein Schatten seines Kanzlers. Er begleitete Brandt auf vielen Reisen, das Ehepaar Brand selbst in den Urlaub. Dabei hatte er jeweils Einblick in geheime Staatspapiere. Es lag in Guillaumes Aufgabenbereich, diese Unterlagen zu verschicken. Er nutzte seine Vertrauensposition, um seinem Führungsoffizier jeweils Kopien zukommen zu lassen. Der Verdacht gegen Guillaume bestand schon vor 1974, jedoch unternahm das Umfeld Brandts in der Hoffnung auf verwertbare Beweise wenig bis gar nichts, um den Abfluss von Informationen nach Ost-Berlin einzudämmen. Am 24. April 1974 wurde Guillaume schliesslich wegen Spionageverdacht festgenommen, Brandt zog zwei Wochen später die Konsequenzen für diese Nichttätigkeit und trat als Kanzler zurück.
Die Situation heute stellt sich völlig anders dar. Anfang Juni 2013 erfuhren wir von Edward Snowden, dass die USA hemminungslos spionieren, auch bei Freunden. Schon wenige Wochen später wurde bekannt, dass auch deutsche Regierungskreise betroffen sind, dass selbst das Mobiltelefon der Kanzlerin angezapft wurde. Frau Merkel reagierte gelassen und erklärte lediglich, dass das „unter Freunden gar nicht ginge“. Von Snowden erfuhren wir inzwischen, dass die NSA und auch der Geheimdienst des EU-Mitglieslandes England faktisch alles abhört, was erreichbar ist. Die Spionage unserer Freunde betrifft E-Mails, Twitter und andere soziale Medien, alle Kontobewegungen, Telefongespräche und vieles mehr. Wahrscheinlich sind das aber nur die Daten, die die NSA standardmässig abgreift. Was alles ausgehorcht wird, wenn der US-Geheimdienst sich genauer für jemanden interessiert, ist auch heute noch unbekannt. Wir wissen nur: Alles, das in Null und Eins gewandelt wird, geht nicht nur zwischen Sender und Empfänger hin und her, sondern in Kopie auch in die USA.
Die Regierung reagierte derart butterweich, dass das Satieremagazin Der Postillon einen Besuch der Kanzlerin bei unseren amerikanischen Freunden mit den Worten „Merkel reist in USA, um sich bei Obama für NSA-Skandal zu entschuldigen“ kommentierte. Eine Befragung Edward Snowdens vor dem NSA-Untersuchungsausschuss wird von der Regierung aus Sorge um das Staatswohl abgelehnt. Die Union fordert gar das Ende des Snowden-Klamauks.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Unterschied zwischen 1974 und 2014. Das Ausmass der Entrüstung reichte 1974 für einen Kanzlerrücktritt. Heute ist die öffentliche Aufregung klein. Knapp 50% der Befragten gaben in einer Umfrage an, dass sie „nichts zu verbergen hätten“. Wenn Frau Merkel die Sache also aussitzen will, weiss sie die Bevölkerung hinter sich. Derweil stilisiert die CDU den Überbringer der schlechten Nachrichten zum Kriminellen. Erika Steinbach, Sprecherin der CDU für Menschenrechte, möchte ihn gar an die USA ausliefern. Diese Vorstellung ist so verwirrend, als hätte man nach Brandts Rücktritt Stasichef Markus Wolf zum Bundeskanzler gemacht.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.