
Sunship, Reykjavik | CC BY 2.0 Tijl Vercaemer
Ein Gastartikel von Fabio Reinhardt und Torge Schmidt.

Am 31.5. waren in Island Kommunalwahlen. Die Wahlen finden landesweit statt, aber der Fokus lag natürlich auf der Landeshauptstadt Reykjavik, in der etwa ein Drittel der 320.000 Einwohner des Landes leben. Im Herbst 2013 entschieden sich die Piraten, an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Trotzdem war die Entscheidung nicht unumstritten. Es hieß, die Partei sei so kurz nach den nationalen Parlamentswahlen noch nicht bereit dazu. Auch gab es nicht wenige Konflikte. Aus zahlreichen kleineren Gemeinden wurde über Konflikte berichtet. In einer Stadt trat einer der Listenersten aus Frustration aus, was mehrere Tage in den Medien war. Dies war sicherlich auch einer der Faktoren dafür, dass die Umfragen von zwischenzeitlich 12% auf letztlich 6% absank. In Reykjavik selbst war es zu dieser Zeit friedrlich und man war dabei, sich zu professionalieren. Die Stadt wurde zur besseren Übersicht in bestimmte Bereiche geteilt und zur besseren Motivation umbenannt.
Einzelne Straßenzüge wurden kategorisiert und Zuständigkeiten eingeteilt. Im Fokus stand zusätzlich eine detailliert durchgeplante Medien- und Internetkampagne. Die unter anderem für den Social Media-Bereich verantwortliche Thorlaug Augustdottir (@thorlaug) brachte sogar den Besuch von Torge, Jan und mir in die Medien.
Bei unserer Ankuft am Donnerstag Abend, dem 29.05., war zumindest ich sehr überrascht. Abends um 23 Uhr (1 Uhr nachts deutscher Zeit) war es noch taghell. In den ganzen vier Tagen, die wir dort waren, ging nicht ein einziges Mal die Sonne unter, wie es über den Sommer in Polarkreisnähe üblich ist und was die nächtlichen Kneipentouren interessant gestaltete. (Foto)
Die Wahlkampfaktivitäten hatten in den letzten Tagen einen müden aber willensstarken Höhepunkt erreicht. Am Freitag konnten wir uns davon in der Wahlkampfzentrale vor Ort überzeugen. Ein ständiges Gewusel und Begrüßen von Gästen und Interessierten sprach Bände. Und immerhin gibt es in Reykjavik ca. 500-1000 Piraten. Das entspricht immerhin einer Quote von 7 Piraten auf 1000 Einwohner (zum Vergleich: Selbst der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, der regelmäßig die bundesweit besten Wahlergebnisse erzielt, hat nur 2 Piraten auf 1000 Einwohnern.). Zur Kampagne selbst machte ich mit Thorlaug zusammen noch einen Podcast.
Am Samstag war dann großer Tag der Entscheidung. Auf den letzten Metern mussten noch Wahlunterstützer für Menschen organisiert werden, die ihren Ausweis nicht finden konnten. (Dann ist das Wählen nämlich dennoch möglich, wenn sich zwei Menschen vor Ort für die richtige Identität bürgen.) Überhaupt ist Island ein Ort, der mit Daten und Identität…naja…anders umgeht. Alle Isländer sind in einer zentralen Datenbank gespeichert, die sowohl genutzt wird, um Sozial- und Steuerprozesse (natürlich öffentlich einsehbar) zu managen. Aber die Daten lassen sich auch nutzen, um die Bürger einzubinden in Bewertungs- und Beteiligungsprojekte. Wer so etwas programmiert, muss sich um die Zertifikation nicht viel Gedanken machen. Über Schnittstellen lässt sich die zentrale Datenbank umstandlos dafür nutzen. Helgi (@Helgihg) zeigte mir einige Projekte. Einige Nachfragen von mir konnte er nicht zufriedenstellend beantworten, hatte sich darüber anscheinend auch noch nicht so viel Gedanken gemacht. Man merkte: Mit so einer Superdatenbank aller Einwohner kann man sich auf entscheidendere Fragen konzentrieren, aber gleichzeitig sinkt die IT-affinen Menschen angeborene Misstrauensschwelle gegenüber Nachvollziehbarkeit und Akkreditierungsfragen.
Am Samstag abend war dann die Wahlparty. Samstag? Ja, die Isländer wählen traditionell Samstags, damit man danach schön gemeinsam feiern kann und am Sonntag ausschlafen. Das hört sich eigentlich vernünftig an. Im Gegensatz zu Deutschland wird der Wahlgang in Island aber auch wesentlich stärker als Pflicht, Privileg und gemeinsame soziale Aktivität angesehen. Traditionell ziehen sich ganze Familien schick an und gehen dann gemeinsam wählen, um sich danach mit Bekannten zu treffen. Die Wahlbeteiligung ist traditionell hoch, auch wenn sich dies seit dem Vertrauensverlust in die öffentlichen Institutionen durch die Bankenkrise leicht geändert hat. Das Wählen ist von 10 bis 22 Uhr, damit z. B .Menschen mit Schichtdienst bequem daran teilnehmen können. Piratenwähler sind meist Spätaufsteher. Daher wurde die erste Durchsage gegen 22.45, dass es mit 5,1% knapp am 1. Mandat (um 12 Stimmen zu dieser Zeit) scheitern würde, zwar verhalten, aber nicht verzweifelt aufgenommen. Im Laufe des Abends schwankte das noch stark, auch ins Negative. Letztlich war dann aber Sonntag früh klar, dass durch die Spätaufsteher- und die Briefwahlstimmen entschieden worden war, dass es doch ein Mandat geben würde.
Mit dem ersten kommt aber in Island auch gleich noch ein weiteres Mandat. Ähnlich mancher deutschen Kommunen gibt es nämlich so etwas wie „Bürger mit Expertise“, die weniger Geld bekommen und in Ausschüssen mitreden und mitentscheiden können. In Berlin heißt so etwas Bürgerdeputierte. In Island sind dies oft Menschen, die weiter hinten auf den Wahllisten stehen, nach einiger Zeit nachrücken und bis dahin noch Erfahrungen sammeln können und neben dem z. B. halben bezahlten Mandat noch eigene Projekte abschließen können. Das Mandatssystem hat mir so gut gefallen, dass ich mit dem Gedanken spiele, ähnliches als Vorschlag für die deutsche Landes- und Bundesebene zu durchdenken.
Betont werden sollte auch, dass mit dem einen Mandat gleich auch spannende und fruchtbare Koalitionsverhandlungen ins Haus flatterten. Die (mit 6 Mandaten) 2010-Wahlsieger „Best Party“ von Jon Gnarr hatten sich ja erfolgreich aufgelöst. Die Quasi-Nachfolgepartei „Bright Future“ errang nur ein Mandat. Die Sozialdemokraten, die auf Bundesebene stark geschwächt sind, steigerten sich aus der Regierungsbeteiligung mit Gnarr („Unser Koalitionspartner muss alle Staffeln ‚The Wired‘ gesehen haben!“ Link zu Tagesanzeigerartikel) von 3 auf 6. Diese beiden wollten ihre Regierungstätigkeit fortsetzen und sondierten mit den Linksgrünen und den Piraten, um mit 9 von 15 Mandaten eine starke Mehrheit im Rat zu bilden. Dass Koalitionsbildungen bei 15 Mandatsträgern und einer Insel, auf der jede jeden kennt, schnell gehen, könnt ihr euch sicher vorstellen. Der Koalitionsvertrag soll nach ersten Berichten sehr gut aussehen.
Am Sonntag machten wir dann noch den berühmten Golden Circle. Das ist wohl die beste Möglichkeit, Islands Naturphänomene mit einem begrenzten Zeitaufwand kennenzulernen. Ich habe dazu ein Album mit Bildern angelegt.
Wer wollte nicht schon immer ein Selfie auf der Erdspalte zwischen der amerikanischen und europäischen tektonischen Platte machen? Der Abschied fiel uns schwer. Island wird uns fehlen und ist sicherlich nicht nur eine weitere Reise wert. Ich habe zudem vor, mit Thorlaug noch weitere Themen in Podcastform zu besprechen.