Aus Strömungen innerhalb der Piratenpartei entwickelten sich inzwischen Flügel. Die meisten dürften sich entweder dem sozialliberalen oder dem progressiven Flügel zurechnen. Gelegentlich entsteht der Eindruck, als seien die Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen größer und unüberwindbarer als die Unterschiede zu anderen Parteien. Wir fragten beim Frankfurter Kollegium und der Progressiven Plattform, den großen Organisationen dieser Gruppen, nach Einsichten und Ansichten ihres Selbstverständnisses.
Flaschenpost: Hallo Christian. Das Frankfurter Kollegium wurde im Dezember 2012 gegründet. Was sollte mit der Gründung erreicht werden?
Christian Bethke: Das Kollegium hat bei seiner Gründung das Bedürfnis der sozialliberalen und liberalen Piraten aufgegriffen, eine Umgebung zu schaffen, in der entsprechende Ideen kommuniziert und kontrovers aber höflich diskutiert werden können. Einer der Hauptinitiatoren war zum Beispiel Sebastian Nerz, der schon 2012 bemerkte, dass die Piraten einen sehr starken Schwenk in Richtung dogmatischer Linkspolitik machten. Innerhalb des damaligen Klimas in der Piratenpartei, bei dem jede E-Mail, die oft nur als Diskussionsgrundlage dienen sollte, sofort zerfleddert wurde und teilweise ein einzelnes Wort schon zu stundenlangen Diskussionen führte, wollten die Initiatoren des Kollegiums den desillusionierten Piraten eine Möglichkeit geben, wieder politisch diskutieren zu können.
Daher gründeten wir einen Verein, da wir nur so eine institutionalisierte Infrastruktur schaffen konnten, die außerhalb der Piratenpartei agiert. Diese Organisationsform erlaubt es uns, dass wir Mitgliedern, die sich nicht an die vereinbarten Umgangsformen halten, den Zugang zu unseren Mailinglisten entziehen können. Bei einer Piraten-AG, SG oder Crew ist dies ungleich schwerer, da hier Parteimittel genutzt werden und jeder Pirat immer das Recht hat teilzuhaben, was das Frankfurter Kollegium auch genauso unterstützt.
Das Kollegium ist heute auf einem guten Weg. Nach den Anfangsschwierigkeiten, die eine Neugründung eines Vereins mit sich bringen, haben wir nun eine stabile Mitgliederbasis von weit über 100 Mitgliedern, die nahezu alle auch aktive Piraten sind.
Der Umgang innerhalb des Kollegiums ist freundlich, gut und wenn jemand doch einmal über die Stränge schlägt, helfen die Mitglieder untereinander, die Situationen zu deeskalieren. Das machen wir entweder durch direkte Ansprache auf unserer internen Mailingliste (die fast immer akzeptiert wird und nicht in Selbstbeschäftigung mündet) oder durch direkte Klärung über das gute alte Telefon.
Flaschenpost: Ist die Piratenpartei sozialliberaler geworden, seitdem es das Kollegium gibt?
Christian Bethke: Die Frage ist ja vielmehr, war die Piratenpartei im Kern jemals nicht sozialliberal?
Oder wurde sie nur von lautstarken Kräften in eine linke Richtung verschoben? Ich denke nicht, dass wir sozialliberaler geworden sind. Die Piratenpartei war schon immer sozialliberal, ohne sich dieses explizit ans Revers geheftet zu haben. Diese Einordnung war auch lange Zeit nicht notwendig, denn mit dem Grundsatzprogramm und dem Piratenkodex war hinreichend beschrieben, für welche Dinge die Piraten stehen und für welche nicht. Dieser Konsens wurde dann von Mitgliedern aufgekündigt, die Demokratie offensichtlich nicht als bestmögliche Herrschaftsform verstehen und die Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung ablehnen. Dass weder kollektivistische noch anarchistische Ideologien mit der Partei kompatibel sind, ist eigentlich den meisten Mitgliedern klar. Jedoch schafften es viele Mitglieder aus dem linken Parteiflügel nicht, sich von dem radikalen Habitus dieser Menschen zu distanzieren. Da diese Ideologien beständig, laut und über die Köpfe der Parteimitglieder hinweg durch exponierte Mitglieder aus Fraktionen und dem Bundesvorstand als jene der Piraten ausgegeben wurden, kam es irgendwann zu Gegenreaktionen. Viele Parteimitglieder führen eben auch ein bürgerliches Leben, haben Familie und stehen auch sonst, wie man so sagt, mit beiden Beinen fest im Leben. Was politisch im Berliner Kiez en vogue ist, kann bei Piraten aus z.B. Wolfsburg oder Landshut auf Ablehnung stoßen.
Diese Empathie habe ich in der Vergangenheit leider vermisst.
Flaschenpost: Worin besteht die Hauptaufgabe des Kollegiums?
Christian Bethke: Wie beschrieben, war die erste Funktion, wieder Strukturen zu schaffen innerhalb derer man über Meinungen diskutieren kann ohne sich für jedes nicht gegenderte Wort angreifen lassen zu müssen. Im Moment ist das Kollegium vor allem auch ein Netzwerk von sozialliberalen Menschen, die sich über Themen austauschen und sich gegenseitig helfen, wenn Anträge geschrieben werden müssen oder sonstige Probleme zu lösen sind. Mittelfristig wollen wir aber verstärkt Ideen entwickeln, wie sich unsere Gesellschaft im liberalen Fokus weiterentwickeln kann. Wir haben angefangen Positionspapiere zu entwickeln, Anträge auszuarbeiten und wir werden auch offene Diskussionsveranstaltungen durchführen. Alles in allem wollen wir ein Netzwerk für piratige Politk sein.
Flaschenpost: Was hat sich seit dem aBPT in Halle in der Piratenpartei verändert?
Christian Bethke: Ich denke, die Ergebnisse auf dem aBPT in Halle haben vor allem deutlich gemacht, was die Piratenpartei Deutschland nicht möchte. Eine einseitige Ausrichtung als linksdogmatische Partei fand keine Mehrheit und wurde mit Nachdruck abgewehrt. In der Folge sind nun Mitglieder ausgetreten, die nicht verstanden haben, dass es den gemäßigten und liberalen Piraten nicht darum geht, eine rückwärtsgewandte Politik zu machen. Natürlich, die Werte des Grundgesetzes sind etwas, das es als Piratenpartei zu verteidigen gilt. Was an diesen Werten jedoch unmodern sein soll, das konnte mir bisher keiner der selbsternannt Progressiven beantworten.
Diesen Menschen mit guten und festen Überzeugungen macht es dann natürlich auch keinen Spaß, als „apolitisch“ oder gar „rechts“ bezeichnet zu werden, nur weil man in Hinblick auf Feminismus und Antifaschismus eine differenzierte Haltung einnimmt. Streben nach Gleichberechtigung und Engagement gegen rechts gehören selbstverständlich zu unserer Partei, das bedeutet jedoch nicht, dass wir jede radikale Forderung oder jede Form des Aktivismus gut heißen müssen.
Insgesamt hoffen wir, dass durch die Richtungsentscheidung in Halle unsere Partei wieder den Augenmerk auf unsere Kernanliegen richten kann. Denn diese Kernthemen haben eine außerordentliche Bedeutung für den Erhalt unserer Bürgerrechte, einer solidarischen, aufgeklärten, gebildeten Gesellschaft und letztlich für die Demokratie insgesamt. Wir setzen auf Argumente und Diskurs und nicht auf Dogmatismus. Diesen Ansatz in breite Kreise der Bevölkerung hineinzutragen kostet alle Energie, die wir aufwenden können, und wir freuen uns über jede politische Unterstützung, die wir in diesem Sinne bekommen!
Flaschenpost: Welche Pläne gibt es für die nächste Zeit?
Christian Bethke: Das Kollegium engagiert sich weiter in der Piratenpartei und wird durch sein Engagement versuchen, die von der Mehrheit in der Piratenpartei getragenen Kernthemen weiter und wieder in den Vordergrund zu rücken. Außerdem wollen wir nachhaltig die Art der Kommunikation verbessern, dies in erster Linie durch Vorleben und Einbindung möglichst vieler in Projekte. So habe ich dieses Interview mit dem gesamten Frankfurter Kollegium abgestimmt und wir haben solange daran gearbeitet, bis auch wirklich jeder, der sich an der Diskussion beteiligte zumindest “damit leben” konnte. Dieser Workflow setzt natürlich Strukturen mit verantwortungsbewussten Admins, aber vor allem ein gemeinsames Selbstverständnis und Selbstdisziplin beim Einzelnen voraus, um piratige Basisdemokratie leben zu können. Und wenn das funktioniert, dann macht es auch richtig Spaß und motiviert.
Dies sind auch Ziele des aktuellen Bundesvorstandes, den wir darin natürlich unterstützen. Wir gehen davon aus, nächstes Jahr wieder in ruhige See zu gelangen, damit sich die ehrenamtlichen Piraten auch mal einige Tage erholen können. Für mich persönlich wird das Jahr 2015 wohl im Zeichen der Kommunalwahl 2016 in Hessen stehen, hier gibt es viel vorzubereiten.
An dieser Stelle möchte ich gerne auch noch einmal allen engagierten Piraten für ihre Arbeit danken und sie bitten, jetzt nicht aufzugeben und weiterhin wachsam und kämpferisch zu sein. Nachdem wir innerhalb der Piratenpartei wieder auf die richtigen Schwerpunkte setzen können und die programmatische Arbeit durch den Weggang von Selbstdarstellern und kommunikativen Amokläufern überhaupt erst wieder möglich geworden ist, sollten wir uns alle auf unsere realen politischen Gegner konzentrieren. Denn diese sitzen außerhalb der Piratenpartei, sind bestens vernetzt, finanziell hervorragend ausgestattet und haben von unseren Querelen der letzten Jahre nur profitiert. Dies muss und wird sich umkehren! In diesem Sinne – Klarmachen zum Ändern
Flaschenpost: Danke Christian für die Beantwortung der Fragen und dem Kollegium viel Erfolg.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.