Mainz – 17.12.2014 im Jobcenter. Eine kleine Gruppe von Aktivisten feiert Geburtstag. Der Anlass ist etwas Besonderes: das Hartz IV Gesetz hat Geburtstag und wird 10 Jahre alt. Im trostlosen Wartebereich des Jobcenters schneiden die Vertreter der Mainzer Initiative gegen Hartz IV die Geburtstagstorte an und verteilen die Kuchenstücke zusammen mit einem Flugblatt „Birthday??? – 10 Jahre Hartz IV… und schlimmer denn je!” an die wartenden „Kunden“. Die Menschen freuen sich über die „subversive Geburtstagsfeier“, etwas Behaglichkeit war laut der Aktivisten zu spüren und dann: „flogen wir auf und haben das Jobcenter Mainz gesittet verlassen – mit leuchtenden Augen im Rücken und einem breiten Grinsen im Gesicht!“
Die kleine Aktion, bei der auch ein Sozialpirat beteiligt war, erinnert uns an das 10 Jahre-Hartz-IV-Jubiläum – denn zum 1.1.2005 trat das umstrittene Gesetz in Kraft! Wie kein anderes Gesetz spaltet es bis heute die Bundesrepublik in euphorische Befürworter und hartnäckige Kritiker.
Fördern und fordern
Ursprünglich sollte das damals neue SGB II im Zuge der von Bundeskanzler Gerhard Schröder angestoßenen Reform -besser bekannt unter dem Schlagwort „Agenda 2010„- den Arbeitsmarkt von Grund auf verändern, den Sozialstaat reformieren und Deutschland als Wirtschaftsstandort flott für die Konkurrenz aus Billiglohnländern machen.
Unter der Devise „Fördern und Fordern“ setzte sich VW-Manager Peter Hartz mit seinem Reformpaket durch, das bis heute seinen Namen trägt.
2005 machte das Kabinett Schröder im Rahmen der neuen Gesetze kurzen Prozess mit den hehren Prinzipien des Sozialstaats. Beschlossen wurde die radikale Kürzung des Arbeitslosengeldes I auf 12 bis maximal 18 Monate, die komplette Abschaffung des Arbeitslosengeldes II, das vor dem 2005 geltenden Niveau 53% des Nettogehalts betrug, und die Kürzung der Sozialhilfe durch die Einführung des ALG II. Das AlG II ist besser bekannt unter dem Begriff Hartz IV.
In einem Kraftakt der Regierung wurden so die ehemaligen Arbeitsämter mit den damaligen Sozialämtern zusammengelegt und das neue Konstrukt der Jobcenter geschaffen und dazu ein Heer von sogenannten Kunden, den Menschen, die am 1.1.2005 als stigmatisierte Hartz IV-Empfänger aufwachten. Darunter viele gut qualifizierte Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitslosengeld II bezogen, eine Versicherungsleistung, für die sie über Jahre der Berufstätigkeit bezahlt hatten. Nun also Grundsicherung: Als Bodensatz der Gesellschaft waren sie ganz unten angekommen. Ein harter Aufprall, eine staatlich verordnete Entwertung der Lebensleistung zahlreicher Arbeitnehmer.
„Fördern und Fordern“ – und das aus einer Hand, plante die Regierung. Die frisch umetikettierten ehemaligen Mitarbeiter der Sozialämter und Arbeitsämter, nun Fallmanager oder Persönlicher Berater getauft, sollten die rosaroten Regierungsversprechen umsetzen: Weg von der zu hohen Zahl der Arbeitslosen – hin zur Vollbeschäftigung. Mit dem vollmundigen Versprechen die Arbeitslosenzahlen in den vier Folgejahren zu halbieren, hatte Peter Hartz der Bevölkerung die Reform schmackhaft gemacht. Damit war der Erfolgszwang vorgegeben: die Schaffung von Arbeitsplätzen um jeden Preis. Die Folgen waren gravierend. 2004 konnte sich noch niemand vorstellen, dass es in Deutschland einmal Menschen geben würde, die für einen Euro pro Stunde arbeiten. Heute ist dies Alltag geworden. Die Einführung der Null-Euro-Jobs in Hamburg verursachte nicht mehr als ein leises Wispern des Protests in der Presse. Man hat sich arrangiert.
Das wahre Ziel der Hartz-IV-Reform und der bestens umgesetzteste Kern der neuen Gesetzgebung war erschütternd erfolgreich: Jede Arbeit ist seitdem zumutbar, und zwar für jeden auch noch so qualifizierten „Kunden“ der Jobcenter, egal zu welchem Lohn. Eine Kehrtwende im Denken der SPD Politiker durch das wenig an die Öffentlichkeit kommunizierte verborgene Ziel Gerhard Schröders: Die Schaffung von zahlreichen Niedriglohnbranchen nach britischem Vorbild. Dies hatte Bundeskanzler Schröder in Davos anlässlich des „World Economic Forum“ am 28.1.2005 enthüllt.
Während Gewerkschaften noch selbstvergessen von der flächendeckenden Einführung der 35 Stunden Woche bei vollem Lohn träumten, zwangen Jobcentermitarbeiter die frisch gebackenen Kunden zwecks Statistikkosmetik zunächst in zweifelhafte Selbstständigkeitsmodelle, sogenannte Ich- AGs . Die Ich-AG lancierte schon zum Unwort des Jahres 2002 und brachte nichts außer Statistikschwindel, denn mindestens 40% der Ich-AGler scheiterten. Dann brachen die Statistiken mit der Abschaffung des Modells ab.
Ein-Euro-Jobs – Null-Euro-Jobs
Die Rechnung Schöders ging auf: Deutschland wurde „konkurrenzfähig“, die Wirtschaft wuchs und als drittgrößtes Exportland kann sich Angela Merkel heute ihrer einflussreichen Stellung in der EU erfreuen und Ländern, wie Griechenland, Portugal oder Spanien, die die Zeche für das deutsche Wirtschaftswunder zahlten, ihr Spardiktat aufzwingen. In dem Maße wie sich Deutschland als Billiglohnland und Wirtschaftsstandort etablierte, gerieten ärmere EU-Länder nämlich zunehmend unter Druck bis zur zynisch klingenden Bewertung der Kreditwürdigkeit ganzer EU-Staaten auf Ramschniveau.
Tatenlos haben die Menschen in Deutschland akzeptiert, dass vom steigenden Wohlstand im Zuge wachsender Exportkraft für sie nichts dabei war. Eigenleistung, Lohnkürzungen und Zugeständnisse waren angesagt: Verzicht auf Gehalt zu Gunsten der Firma, Verlängerung der Arbeitszeit, sparen für die Rente, am besten auch noch Geld ausgeben für das Wirtschaftswachstum.
Den Gewerkschaften, die ja bei der Einführung der AGENDA 2010 mit am Tisch saßen, hatte die folgenschwere Entwicklung gründlich die Zähne gezogen. Streiks schaden dem Wirtschaftsstandort Deutschland, bei Lohnverhandlungen ist Bescheidenheit angesagt.
Die Angst ganz unten zu sein
Eine Spirale der Angst bestimmt seitdem das Denken der Menschen: Angst vor dem sozialen Abstieg. Humanität – die können wir uns scheinbar nicht mehr leisten! Deshalb wird vorsorglich nach unten getreten – frei nach dem Motto: Sogenannte „Hartzer sind doch nur zu faul zum Arbeiten – wer arm ist, hat selbst Schuld.“ Die Fragwürdigkeit dieser Ansichten ist den Menschen durchaus bewusst und die Sündenbocksuche hat bereits eingesetzt: Asylbewerber kosten demnach Geld und belasten die Sozialkassen. Ausländer sind angeblich schuld an Langzeitarbeitslosigkeit und wachsender Armut in Deutschland, nehmen sie doch, so wird behauptet, Deutschen die Arbeitsplätze weg. Entsprechend erfolgreich sind die Hetzer von PEGIDA und deren Ableger: Die Verschwörungstheorien treiben die politikverdrossenen, verzweifelten Menschen auf die Straße. Und dies vor allem in den neuen Bundesländern, den Ländern mit der höchsten Anzahl an armen Menschen und mit der sterbenden Infrastruktur.
Gegenproteste begannen nicht von ungefähr in München, denn Bayern ist das Bundesland mit dem geringsten Anteil der als arm geltenden Menschen. Das geflügelte Wort von der sozialen Kälte ist zu schwach, um die arktisch temperierten Eiszeit der neuen Ellenbogengesellschaft sprachlich zu erfassen.
10 Jahre Hartz IV sind eine Chronologie des Schreckens. Seit der Einführung wurschteln Politiker hilflos an dem misslungenen Gesetz und den Folgen herum. Die massiv in die Frühverrentung gezwungenen älteren Langzeitarbeitslosen fallen zwar aus der Statistik, mehren aber die Altersarmut in Deutschland. Schlecht verdienende Arbeitnehmer sparen nicht für ihre Rente, junge Menschen versuchen es gar nicht erst. Die Altersarmut steigt weiter, die Prognose ist düster. Parallel dazu vergreist die deutsche Gesellschaft, denn die Geburtenraten sinken. Für Frauen wird der Spagat zwischen Karriere und Kindern nicht geringer. Auch „Social freezing“ wird daran nicht viel ändern, denn Kinder sind ein Armutsrisiko, vor allem für Alleinerziehende.
Steigende Kinderarmut in Deutschland wird zum nervigen Dauerbrennerthema für überforderte Politiker. Das stigmatisierende Bildungs- und Teilhabepaket (BuT), das Kindern gesellschaftliche Teilhabe sichern sollte, floppte. Und dann sind da noch die 400 000 Aufstocker– Menschen, die von ihrem Arbeitslohn nicht leben können und deshalb aufs Jobcenter angewiesen sind. Dies finden sogar Befürworter des Systems fragwürdig. Der Mindestlohn soll das Pflästerchen auf der Wunde sein, doch die Industrie hat es bereits geschafft, das Mindeslohngesetz auszuhöhlen. Diverse Ausnahmen sind vorgesehen, unter anderem für Langzeitarbeitslose für ein halbes Jahr, sowie Jugendliche. Kreativ tricksen die Unternehmen mit weiteren „Lösungen“ des Mindestlohnproblems. Wer sagt, das eine Arbeitsstunde 60 Minuten hat? – Das ist alles eine Frage der Definition oder der fälligen unbezahlten Überstunden.
Pure Angst
Jobcenter heute – das heißt Elend vor und hinter dem Schreibtisch.
Der Job des Fallmanagers ist immer unbeliebter geworden, denn viele Jobcentermitarbeiter haben Angst vor ihren Kunden. „Förderung“ ist eine freundliche Illusion bei über 150 Fällen, die sich auf dem Schreibtisch jeden Mitarbeiters türmen. Dieser ist selbst häufig nur für zwei Jahre angestellt und schlecht qualifiziert. Jüngst packte eine Fallmanagerin aus und enthüllte, sie arbeite oft an 350 bis 380 Fällen, vorausgesetzt niemand sei krank, dann wären es nämlich mehr. So kommt es zu rechtswidrigen Entscheiden, einer Flut von Klagen und zu Grundrechtsverletzungen der Kunden. Private Sicherheitsunternehmen sollen jetzt die Fallmanager vor tätlichen Übergriffen schützen.
Die Kunden haben auch Angst: Selten oder nie haben sie das Amt als Unterstützung wahrgenommen, zu oft sind ihnen Leistungen verweigert worden. Manchmal wurden sie sanktioniert, das heißt, die ärmliche Grundsicherung wurde zur Strafe gekürzt. Zu häufig hat der Jobcentermitarbeiter sie gezwungen, Arbeiten anzunehmen, die zur Vernachlässigung der Kinder oder der Pflege der älteren Familienmitglieder geführt haben. Die alte Wohnung mussten sie aufgeben, da sie zu groß oder zu teuer war. Der Verbleib der Kinder an der weiterführenden Schule stand infrage. Das Zeugnis des Jüngsten war zu schlecht: das Jobcenter wollte den Jugendlichen zwingen, sich eine Ausbildung oder eine schlecht bezahlte Arbeit zu suchen. Die Liste der möglichen Sorgen und Schikanen vom Jobcenter ist endlos.
10 Jahre Hartz-IV-Teilhabe, Existenzsicherung und soziale Gerechtigkeit sind für 6 Millionen Menschen, die von ALG II leben müssen, ferner denn je. Es drohen bereits die nächsten euphemistisch „SGB-II-Vereinfachungen“ genannten Gesetzesänderungen, die die Klagefluten von Hartz IV Empfängern eindämmen sollen. Unter dem Strich werden sie wohl weitere Verschärfungen und Grundrechtsverletzungen für die Leistungsempfänger mit sich bringen.
Konzeptlos schieben die etablierten Parteien die daraus resultierenden gesellschaftlichen Probleme vor sich her: Kinderarmut, Altersarmut, Eurokrise, soziale Kälte, Wahlerfolge rechter Parteien wie der AFD.
Die Sozialpiraten plädieren für die konsequente Abschaffung von Hartz IV! Wer neue Konzepte weiter entwickeln will, z.B. das BGE als Alternative zu Hartz IV, wer fantasievoll protestieren will wie die Erwerbsloseninitiative in Mainz, oder sich einfach informieren möchte, ist herzlich eingeladen, mitzumachen.