Ein Gastartikel von Fotios Amanatides.
Wie bereits nachgewiesen, ist das Label Basisdemokratie weitgehend inhaltsleer. Es bedeutet lediglich die Stimmberechtigung all derer, die es sich, zusätzlich zum Mitgliedsbeitrag, finanziell und zeitlich leisten können, auf einem Parteitag anwesend zu sein, um dieses Stimmrecht auch auszuüben. In der Piratenpartei ist das Stimmrecht demnach eine Option, die verfällt, wenn sie am Stichtag nicht gezogen wird. Das satzungsgemäße Stimmrecht der Abwesenden, das sie grundsätzlich durch ihre Beitragszahlung erworben haben, wird parteiengesetzwidrig nicht berücksichtigt. Die Ausübung dieses Stimmrechts muss jedoch gewährleistet sein. Darüber hinaus finanzieren die Abwesenden mit ihrem Beitrag auch die Versammlungen. Ein solches Verhalten wird von PIRATEN bei anderen oft als „neoliberal“ kritisiert. Dabei ist für jedes aktive Mitglied offensichtlich, dass eben nicht jeder kommen kann. Zum einen haben alle auch ein Privatleben, zum anderen sind es die bekannten Schwierigkeiten, wie die Entfernung zum Veranstaltungsort und der damit verbundene, nicht unerhebliche finanzielle Aufwand.
Die tatsächlichen Kosten der politischen Mitbestimmung in der Piratenpartei sind eben nicht nur die 48 € Mitgliedsbeitrag im Jahr, sondern zusätzlich Fahrt-, Übernachtungs- und Verpflegungskosten. Im Normalfall zweimal im Jahr zu Landesparteitagen und zweimal im Jahr zu Bundesparteitagen. Setzt man nun 200 € pro Landesparteitagswochenende [4] und 300 € pro Bundesparteitagswochenende an, ergibt sich die stolze Summe von 1048 €, um sein durch die Satzung garantiertes „gleiches Stimmrecht [sic!]“ auszuüben. Von dieser Summe fließen lediglich 48 € in die Berechnung der staatlichen Parteienfinanzierung ein. Die übrigen 1000 € pro Person werden verbrannt, wegen eines vermeintlichen „Alleinstellungsmerkmals“ wie einige kolportieren, welches jedoch alle anderen Kleinparteien auch haben und das im Grunde keinen Wähler interessiert. Andere Piratenparteien, z. B. in Tschechien, haben diesen Punkt überwunden, eine Vertreterversammlung eingeführt und sind damit äußerst erfolgreich.
Nun wird gerade in NRW dieses Problem gravierend verstärkt, denn systembedingt werden hochaktive Mitglieder, die sich für die nächsten Jahre als kommunale Mandatsträger zur Verfügung gestellt haben, von der Teilnahme am Landesparteitag ausgeschlossen. Als Institution müsste die Partei sicherstellen, dass alle ihre Mandatsträger anwesend sein können und niemand vom Parteitag ausgeschlossen wird, weil er oder sie die Partei und ihre Wähler andernorts vertritt. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auf einem Parteitag etwas beschlossen wird, das dieser Mandatsträger dann zu vertreten hat, er jedoch aufgrund mangelhafter Planung von der Teilnahme faktisch ausgeschlossen wurde. Somit hatte er weder die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge vorzutragen, noch darüber mit abzustimmen. Je erfolgreicher die PIRATEN sind, desto weniger Aktive können aufgrund anderweitiger politischer Verpflichtungen auf Parteitagen anwesend sein.
Andererseits muss man allerdings auch eingestehen, dass es praktisch unmöglich ist, die Terminkalender von ca. 150 Mandatsträgern Monate im Voraus zu planen. Es ist von vitalem Interesse der Partei, dieses Dilemma zu lösen.
Zusammengefasst kann man sagen: Das derzeitige System der PIRATEN benachteiligt aktive Kreise mit Mandaten in Randlage relativ zum Tagungsort, exponentiell zu ihrem Erfolg. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass der Partei somit langfristig Mandatsträger abhandenkommen, die diesem zunehmend „scheindemokratischen“ Laienschauspiel nicht länger zuschauen wollen, da sie systemisch bedingt vom MITMACHEN faktisch ausgeschlossen werden.
Was wollen die PIRATEN? Mandatsträger, die ihre Mandate ausfüllen, oder dass Mandatsträger mit Wählerauftrag und aktive Mitglieder auf dem Parteitag sind? Wem nützt dieses degenerierte System eigentlich?
Wenn wir – unter Betrachtung der ausgewerteten Akkreditierungsstatistik der Über- bzw. Unterrepräsentanz unterschiedlicher Kreise auf den Landesparteitagen NRW – berücksichtigen, dass zahlreiche Mitglieder wegen ihrer Verpflichtung gegenüber dem Bürger nicht anwesend sein können, und wenn wir die Korrelation der Anzahl teilnehmender PIRATEN zur Entfernung vom Veranstaltungsort betrachten, ist das Fazit, dass die PIRATEN sich von einer anfangs radikalen Demokratie in Richtung einer undemokratischen Oligarchie bewegen, in der die Präsenz auf Parteitagen selbst auf Landesebene abhängig ist von Wohnortnähe sowie finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten. [6] Das gilt erst recht für die Mandatsträger.
Nun könnte man sagen, dass der Landesverband programmatisch durchaus homogen ist und die Anzahl kontroverser Anträge in den letzten Jahren relativ gering war. Wie aber sieht es bei den Personenwahlen aus? Bedauerlicherweise sind die Akkreditierungsstatistiken der Aufstellungsversammlungen Münster und Meinerzhagen auch weiterhin „nicht in deinem Landesverband verfügbar“. Und es hat mehrere Jahre gedauert, bis auf formellem bzw. informellem Wege die Akkreditierungsstatistiken seit LPT 12.3 plötzlich im Wiki waren. Diese reichen jedoch zur Auswertung aus, denn sie enthalten die Zusammensetzung von drei Landesvorständen in Relation zur Parteitagszusammensetzung.
Es ist wenig verwunderlich, dass Landesvorstandsmitglieder häufig aus mitgliedsstarken Kreisen kommen. Das an sich ist auch nicht problematisch. Ein Problem ist es jedoch, wenn – wie es die Zahlen nachweisen – so eklatant überproportional diejenigen in den Landesvorstand gewählt werden, die direkt aus dem Veranstaltungsort oder aus benachbarten Kreisen kommen. Das Wahlergebnis muss dabei nicht zwingend beabsichtigt sein, auch nicht auf einer Verschwörung oder Absprachen basieren, sondern ergibt sich zwangsläufig, wenn die Anwesenden überproportional diejenigen wählen, die sie kennen. Dieses gruppendynamische menschliche Sozialverhalten werden weder eine irgendwie geartete SMV noch dezentrale Parteitage ändern. Aber auch darüber könnte man hinwegsehen, zumal es seit jeher schwierig war, Kandidaten zu finden, die sich diese Tortur antun wollen. Worüber man jedoch nicht hinwegsehen kann und darf: Wähler wählen die Kandidaten, die sie kennen, zum Beispiel bei den Personenwahlen zu gemeinsamen Aufstellungslisten.
Es ist schon jetzt hochgradig unfair, satzungswidrig, parteiengesetzwidrig und mutmaßlich grundgesetzwidrig, dass die Stimmen derjenigen, die über den Mitgliedsbeitrag formell die gleichen Rechte haben und den gleichen Anteil an den gemeinsamen Kosten haben, einzig aufgrund der Entfernung weniger bis gar kein Gewicht haben. Wenn noch dazu aber der Beitrag des Einzelnen von der Allgemeinheit als nicht relevant betrachtet wird und die eigene Stimme obendrein wegen anderweitiger Verpflichtungen für die Partei weniger wert ist, dann ist es schlicht und einfach undemokratisch. Dementsprechend wäre es nachvollziehbar, seinen Mitgliedsbeitrag nicht zu bezahlen. Anträge stellen und reden darf man bei Interesse ja weiterhin.
Was also tun, um einen weiteren Verfall zu stoppen? Es wird unumgänglich erforderlich sein, dass die stimmberechtigten Anwesenden auf dem nächsten Landesparteitag im Interesse des Gemeinwohls handeln und ein zukunftsweisendes System beschließen, das endlich das Stimmgewicht jedes Kreises als kleinstem politischen Verband unabhängig von der Entfernung berücksichtigt und somit das tatsächliche Gewicht jeder einzelnen Stimme demokratisch gleichstellt, so wie es die Satzung vorgibt. Diese Solidarität dient dem Wohle aller. Der Antrag „Demokratische Vertretung aller stimmberechtigten PIRATEN auf dem Landesparteitag“ ist genau dieser Systemhack, der einerseits einem Vertretungssystem gemäß dem Parteiengesetz entspricht, andererseits so dimensioniert ist, dass KEIN Aktiver ausgeschlossen wird.
Dennoch ist es eine Firewall für die Netzpartei, wenn auf Kreismitgliederversammlungen die Mitglieder vor Ort bestimmen, wem sie das Vertrauen aussprechen, sie an zwei Wochenenden im Jahr zu vertreten. Allen, die jetzt aktiv daran arbeiten, dass die PIRATEN wieder erfolgreich werden, dürfte nach den Erfahrungen der letzten Jahre klar sein, dass eine Firewall notwendig ist.
Ein erfreulicher Nebeneffekt dieses parteiengesetzkonformen Vertretungssystems sind allein für NRW Mehreinnahmen von fast einer viertel Million €. Sie entstehen dadurch, dass aufgrund dieser Formalisierung der Aufwand eines aktiven Mitglieds dem beauftragenden Kreis gespendet werden kann. Diese Spende führt zu einer Verdoppelung dieses Betrages durch die staatliche Parteienfinanzierung im Folgejahr.
Apropos Geld: Laut Rechenschaftsbericht des Bundestages 2014 bekam die Piratenpartei 2014 1,6 Mio. € statt der ihr nach Stimmenkonto zustehenden 2,9 Mio. €, weil der Anspruch gemäß PartG §19a Abs. 5 auf die Summe der selbsterwirtschafteten Einnahmen begrenzt wird. Aus diesem Grunde muss sie nun auch noch ca. 128.000 € wieder zurückzahlen. Weil für 2014 aber die Gesamtsumme der Parteienfinanzierung 156,7 Mio. € beträgt und nicht abgerufene Gelder unter den anderen Parteien verteilt werden, profitiert u.a. die AfD mit einer Nachzahlung in Millionenhöhe.
Eigentlich dürfte es keine Frage sein, ob die PIRATEN bereit sind, ihre im Grundsatzprogramm beschlossenen politischen Ziele – „die Demokratie zu stärken“ und die „indirekten demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen zu steigern“ – dort umzusetzen, wo es am einfachsten geht, also bei sich selbst.
Bedauerlicherweise hat man immer wieder das Gefühl, dass die politischen Ziele der Partei den Mitgliedern unbekannt sind und sie das Programm lediglich aus verkürzten Schlagwörtern und von Wahlplakaten her kennen. So ist es auch nicht auszuschließen, dass Einzelnen dieser seit einem halben Jahr im Netz stehende und in zahlreichen Sitzungen online und offline immer wieder überarbeitete Antrag unbekannt ist, und sie ihn – ob aus Trotz oder aus Prinzip ungelesen – dennoch ablehnen, um an einem inhaltsleeren Label festzuhalten, welches das Gegenteil von den Zielen der Partei bewirkt. Gerade in einem Land, in dem schon einmal die Demokratie per Wahl abgeschafft wurde, kann man deshalb ohne Scham sagen:
Wer anderen ihr Recht auf politische Mitbestimmung verweigert, ist kein Demokrat!
Sollte schon eine Landesmitgliederversammlung nicht in der Lage sein, zum Wohle des eigenen Verbandes zu handeln, indem man die Ziele der Partei umsetzt, wird diese Partei wohl kaum fähig sein, glaubwürdig eine Politik zum Wohle der Bürger zu machen. Dann kann man auch gleich gehen und seine Wochenenden mit schöneren Aktivitäten ausfüllen als zu versuchen, mit kompromissunfähigen Menschen Politik zu gestalten.