Ein Gastartikel von Jens Seipenbusch.
Einmal mit Profis.” Dieser in der Piratenpartei gern zitierte Satz reflektiert auf humorige Weise zwei wichtige Aspekte unserer innerparteilichen Demokratie der vergangenen Jahre. Da ist zunächst der hohe Anspruch an eine ‘gute’ (im Grunde sogar eine ‘bessere’) und ‘richtige’ Durchführung der demokratischen Beteiligung an praktisch allen Belangen der Partei und das wiederholte, offensichtliche, aber selten aufgearbeitete Scheitern an diesem Anspruch sowie das eigene Unverständnis über dieses Scheitern.
Und als Zweites die mitschwingende Lebenserfahrung, dass wir keine Profis sind, obwohl wir uns oft genug unterbewusst dafür halten, zumindest so agieren, dass Profis aber auch oft genug eine Sache noch gründlicher vor die Wand fahren können (vielleicht genau die etablierten Politprofis?), sowie durch Auflösung des Widerspruchs im Humor erreichte Akzeptanz dafür, dass wir eine selbstlernende Gruppe von Demokratie-Amateuren sind.
Mit Distanz betrachtet sind davon nur der Anspruch an eine ‘bessere Demokratie’ und der Lerneffekt in einer praktischen Demokratieschule gesellschaftlich relevante Fakten über die Piratenpartei.
Aber zunächst zum Scheitern: In den Anfangsjahren der Partei war es uns (*) größtenteils egal, wie genau man die innerparteiliche Demokratie organisierte. Dabei kam uns natürlich zugute, dass wir klare Ziele hatten, was wir mit der Partei erreichen wollten. Formalien wurden nur für das Notwendige verwendet, es gab wenige Diskussionen über Formalien, die auch stets pragmatisch und unprätentiös gelöst wurden.
Natürlich waren wir größtenteils blutige Amateure in der Organisation demokratischer Prozesse, aber viele von uns waren erfahren in der Organisation produktiver Arbeit. Auf dem Bundesparteitag in Bielefeld 2008 gab es ein in dieser Hinsicht bemerkenswertes Ereignis – nachdem klar wurde, dass wir es zeitlich nicht schaffen würden, neben der Personenliste auch das Europawahlprogramm für 2009 fertiggestellt abzustimmen, beschloss die Versammlung, ein zehnköpfiges Gremium zu bilden, das in Zusammenarbeit mit dem Vorstand die Arbeit zu Ende bringen sollte.
Insbesondere erinnere ich mich an die Erstellung der Antworten zu den Wahl-O-Mat-Fragen zu unserem Europawahlprogramm 2009, die ich als Vorsitzender bearbeitete: Die transparente Ausarbeitung dieser Antworten unter Mithilfe der aus den zehn Gremiumsmitgliedern gebildeten Mailingliste funktionierte bestens – und brachte uns in der bundesweit Wähleraufmerksamkeit das vermutlich erste positive Aha-Erlebnis.
Dennoch war diese Vorgehensweise natürlich eine aus der Not geborene Art von Delegationslösung, die den Konflikt zwischen Beteiligung und Entscheidung auf demokratisch nicht wirklich korrekte Weise pragmatisch löste. Es gibt viele weitere Beispiele im Fortgang der Partei für Verstöße gegen eigene oder allgemeine demokratische Grundsätze, kleinere wie größere. Die demokratischen Sünden dieser Art ziehen sich vom gebrochenen Minderheitenschutz in Neumünster über unanständige Quorenregeln für Anträge und die ‘Deutschland sucht den Super-Themensprecher’-Geschichte bis hin zum ‘Stellvertreter’-Betrug gegenüber dem BPT Bremen.
Genau dieser Konflikt zwischen Beteiligung und Entscheidung aber ist es, den wir oft nicht sehen wollen und der im Fokus der Diskussion um ‘Basisdemokratie’, direkte Demokratie, liquid democracy, Delegationen und Co. stehen muss. Interessanterweise wird viel und gern über Beteiligung geredet, aber wenig über das Thema Entscheidung. Beim Aspekt der Verbindlichkeit einer Entscheidung hab ich noch die Entgegnung im Ohr, Verbindlichkeit sei doch ein CDU-Wort. Viele Entscheidungen können jederzeit (und fast von jedem) wieder überstimmt werden, vor allem deshalb sind die meisten unserer Entscheidungen – seien sie inhaltlich oder organisatorisch – wenig wert. Der Prozess, den wir für bestimmte Entscheidungen aufwenden, wird dadurch ineffizient.
Dass größere Parteitage nicht unbedingt zu besseren Entscheidungen (in Ergebnis und Entstehung) führen, ist ja mit den Parteitagen in Bochum und Neumarkt gut dokumentiert. Die in Neumarkt abgestimmten Antragsblöcke konnten vor Ort naturgemäß von den vielen Anwesenden nicht diskutiert werden und sind letztlich im Schnellverfahren durchgestimmt worden. Da aber über die Anträge und ihre Zusammenstellung in Blöcken zuvor auch nicht viel parteiöffentliche Debatte stattfand, wurde die Debatte letztlich nirgends geführt und man wäre (für diesen Aspekt) auch mit weniger Parteitagsstimmberechtigten ausgekommen, da diese sich oftmals ohnehin auf die Arbeit der AGs verlassen mussten.
Können wir diesen Konflikt eventuell wie in den Anfangsjahren der Partei einfach durch einen ‘Open-Source-Stil’ des Miteinander-Arbeitens lösen?
Vergleichen wir die Piratenpartei mit dem wohl erfolgreichsten Open-Source-Projekt Linux, dann werden sofort einige Dinge klar: Zum einen musste Linus Torvalds sich nicht jedes Jahr einer Wahl zum Leiter des Projektes stellen. Zum Zweiten gab es auch keine Abstimmungen und Diskussionen darüber, welches generelle Ziel das Projekt denn überhaupt verfolgt. Zum Dritten hat die Piratenpartei nicht die Möglichkeit, einen unauflösbaren Richtungsstreit mit einem sogenannten ‘Fork’ (also einer Abspaltung) aufzulösen.
Insofern war es unausweichlich, dass unsere Partei nach 2009/2010 in fundamentale Schwierigkeiten geraten ist, auch wenn der einmalige Hype der Neuigkeit dies zwischenzeitlich übertüncht hat. Nicht nur waren all diese vielen Neumitglieder oft keine internetarbeitserfahrenen Menschen, sondern es wurde auch mit Hochdruck daran gearbeitet, die Ziele des Gesamtprojektes auszuweiten und bisher unbeschriebene Seiten zu füllen.
Im bildlichen Vergleich könnte man sagen, es stießen mehr und mehr Leute zum Linux-Projekt hinzu, die gar nicht programmieren konnten und mit denen gemeinsam wurde dann beschlossen, was das Linux-Projekt in der Zukunft eigentlich so machen soll. Selbstredend fanden alle das Betriebssystem toll, aber man wolle dann doch auch sehr gerne mit dem Linux-Projekt eine bessere Arbeitswelt, mehr Tierschutz, mehr Basisdemokratie und eine Neuordnung des Wirtschaftssystem anstreben – „Die PARTEI” lässt grüßen.
Für unseren jetzigen Stand der Partei ist Arbeiten im Open-Source-Stil also offenbar nicht DIE Lösung. Dennoch glaube ich, dass man auch nicht ins totale Gegenteil verfallen sollte, sondern diese Arbeitsweise, die sich ja zuvörderst im Internet bewährt hat, in bestimmte Bereiche der Partei einbetten sollte. Dazu müsste die Partei natürlich auch in diesen Bereichen Rahmenbedingungen schaffen, die eine Partei ansonsten eben nicht so selbstverständlich hat, wie ein Softwareprojekt – und damit meine ich keine technischen Ressourcen, sondern das Setzen von Zielen, das Schaffen und Gewährleisten eines meritokratisch positiven Kreislaufprozesses und Ähnliches.
Zugleich sollten wir uns aber auch Gedanken darüber machen, warum wir dies alles tun.
Mein Antrieb war und ist, dass ich bestimmte politische Entscheidungen inhaltlich ändern möchte zugunsten meiner Sichtweise davon, was richtig ist. Ich glaube nicht daran, dass eine maximierte Beteiligung automatisch zu den richtigen Entscheidungen führt und mir damit die Arbeit abnimmt, politische Überzeugungsarbeit zu leisten. Dennoch können Entscheidungen mit größerer Beteiligung natürlich legitimierter sein und beim Durchbrechen verkrusteter Machtstrukturen helfen.
Wir sollten uns meiner Ansicht nach auch von der Illusion einer ‘besseren Demokratie’ lösen und stattdessen die ‘gute Demokratie’ anstreben und vor allem auch gut betreiben. Im Rahmen von vernünftigen regionalen Strukturen sieht diese für mich weiterhin am ehesten dem Schweizer Vorbild ähnlich, mit vielen direktdemokratischen Elementen und genügend Zeit bei den Entscheidungen, sodass die zivilgesellschaftliche Debatte eine kluge Entscheidung gewährleisten kann.
Ahoi, Euer
Jens Seipenbusch