700 Menschen sind tot. 700 Särge – eine Halle voller Särge wäre das – wären sie nicht ertrunken, wären sie nicht spurlos verschwunden. Für diese Menschen wird es keinen Gedenkgottesdienst geben. Ihre Familien bekommen auch keinen Halteengel wie die Angehörigen des Airbusabsturzes. Keine Fahne weht für sie auf Halbmast.
Denn diese Menschen waren Flüchtlinge. Gestorben im Mittelmeer wie so viele seit Anfang des Jahres. Die UNO errechnete, dass in diesem Jahr 30 Mal so viele Menschen im Vergleich zum Vorjahr ertranken. Ein Rekord des Grauens.
Die ersten Schuldigen sind ausgemacht: den Kapitän und den Steuermann des gekenterten Bootes nahm man fest. Das sind Schlepper, Menschenhändler. Gegen Schlepperbanden wollen die Politiker demnächst streng vorgehen, als änderte dies etwas. Als wären die Schlepper die Ursache der Flüchtlingsströme.
Als hätten die EU-Politiker nicht seit Jahren Milliarden Euro in unüberwindbare Grenzsicherung zur Abschottung Europas gesteckt, um die Menschen daran zu hindern, weniger gefährliche Landwege zu wählen. Als hätten die EU-Politiker nicht wissentlich entschieden, die Marine zur Seenotrettung „Mare Nostrum“ durch die Grenzschutzmission „Triton“ zu ersetzen. Mit dieser Entscheidung war am 1. November 2014 der Tod der 700 Menschen bereits beschlossen. Triton kreuzt nämlich nur vor der Küste Italiens und spürt Schlepper auf, Triton rettet keine Menschenleben auf hoher See. Das war den Verantwortlichen sehr wohl bewusst.
Unsere gewählten Politiker sind schuld am Tod der 700 Menschen und verschulden den Tod weiterer Flüchtlinge, die noch im Mittelmeer sterben werden.
Denn das war nicht die letzte Katastrophe: Das Meer soll in den nächsten Monaten ruhiger sein. Deshalb werden noch mehr Flüchtlinge versuchen, auf dem Seeweg nach Europa zu kommen – viele dieser Menschen werden ertrinken, so viele wie die EU- Politiker Zeit brauchen, um eine neue Seenotrettung auf die Beine zu stellen.
„Mare Nostrum“ hat zahlreiche Flüchtlinge gerettet, aber „zu viel Geld gekostet“, lautete im Jahr 2014 die beschämende Kritik. Flüchtlinge hätten auf die Rettung gesetzt und darauf gezählt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte sogar Anfang Oktober 2014: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“. Angesichts der jüngsten Ereignisse klingt die Aussage doppelt zynisch, denn die Abschreckung durch die Abschaffung von Mare Nostrum ist gründlich misslungen.
Menschen, die täglich in ihrem Heimatland mit Not, Gewalt und Tod konfrontiert sind, schrecken eben nicht vor einer lebensgefährlichen Überfahrt zurück.
Sie hoffen darauf, anzukommen und ihren Familien helfen zu können, auch auf die gefahrvolle Reise zu gehen und Europa zu erreichen. Dafür sparen sie, egal wie schwer ihnen das fällt. Auch in Deutschland leben deshalb Familien unter jeder messbaren Armutsgrenze, denn die Schlepper wollen gut bezahlt werden.
Der einzige Hoffnungsschimmer angesichts dieser Katastrophe ist ein bisschen Aufmerksamkeit, die der hundertfache Tod der Menschen verursacht hat. Einige Journalisten stellen nun Fragen: Wer sind diese Flüchtlinge? Warum wollen sie ihr Land verlassen? Was haben sie in ihrem Heimatland erlebt? Weshalb riskieren sie ihr Leben?
Wenn die EU- Politiker endlich begreifen, dass das Elend der Flüchtlinge unsere Solidarität erfordert und Abschottung keine Lösung darstellt, war der Tod der ertrunkenen Menschen nicht ganz umsonst.
Legale Einreisewege nach Europa, um einen Asylantrag zu stellen, die Abschaffung der Drittstaatenregelung nach der Dublin-II-Verordnung, eine Quotenregelung für Flüchtlinge für alle europäischen Staaten und nachhaltige Hilfe für die Schwellen- und Dritte-Welt-Länder, aber auch eine vorausschauende Außenpolitik wären Eckpfeiler für einen neuen, humanen Umgang mit den Flüchtlingsströmen.
700 Menschen sind gestorben. Keine Staatstrauer ehrt sie als Menschen, um die wir trauern. Wird ihr Tod trotzdem Politiker zum Umdenken zwingen oder sind die in den letzten Tagen geäußerten „10 Punkte Pläne“ morgen nur noch in Büroschränken vergessenes Papier ?