Die düstere Anti-Utopie mit realem Hintergrund, vor der uns der Flaschenpost-Artikel Auf dem Weg in die orwellsche Dystopie warnt, veranlasste unseren Gastautor Hans vom Schloß eine weitere Strecke auf diesem Weg in die Zukunft zu gehen.
Fortsetzung von Teil 2 „Der Digitale Untergrund (DU) erwacht“
Langsam nähere ich mich einem Supermarkt, in dessen Hinterhof täglich Lebensmittel in Container geworfen werden. Waren, die noch brauchbar sind, Nahrung, die noch haltbar ist. Eine künstliche Verknappung von Waren und Lebensmitteln ist für das System wesentlich geworden. Nur so können Preise aufrecht erhalten werden, die die Profitschwelle übersteigen. Unheimlich, wie viele Tonnen dieses Scheinmülls jeden Tag anfallen. Der Scheinmüll aus Waren entzieht sich jeder Kontrolle, weil nur noch der Brennwert zählt. Auch nach großen Aufklärungskampagnen hat sich daran nichts geändert. Denn die Vernichtung ist systemimmanent, um künstliches Wachstum zu erzeugen. Beim Containern treffe ich eine Freundin. Im mondgleichen Scheinwerferlicht sehe ich ihr verstohlenes Lächeln. Wir teilen unsere Funde, um uns Vielfalt zu schenken. Teilen ist das neue Haben.
Das alte Haben gibt es auch nicht mehr. Nachdem das Bargeld verschwunden war, kamen die Negativzinsen. Sie sagten: zur Bekämpfung von Geldwäsche, Drogenkonsum und Terrorismus. Bargeld hättest Du verstecken können, Girogeld aber schmilzt wie Plastik im Feuer. Die Inflation fraß die Habenzinsen zwar schon lange auf und damit auch jede Altersvorsorge. Doch erst als die Negativzinsen kamen, brannte den Leuten das Geld in der Tasche. Ein ungeahnter Kaufrausch folgte, denn Sparen und Konsumverzicht lohnten nicht mehr. Der globale Wirtschaftsmotor überhitzte final – es gab keine bezahlbaren Ressourcen mehr. Die folgende Finanzkrise war wie ein Weltkrieg gegen die Armen. Nun herrschen keine verschuldeten Staaten mehr, sondern Konzernkapitale, die alle Macht besitzen ohne Geld zu brauchen.
Wir hängen tief in die Container gebeugt. Markenbewusst achten wir darauf, welche Produkte gefahrlos genießbar sind. Viele Fleischprodukte sind antibiotica- und hormonbelastet. Andere Lebensmittel enthalten schädlich viel Salz oder Geschmacksverstärker, deren Chemie die Zungen von Kindern korrumpieren. Die meisten Lebensmittel sind völlig überzuckert oder mit künstlich designten Süßstoffen durchsetzt. Ein Großteil der Gesellschaft ist bereits körperlich stark gezeichnet durch die Praktiken einer menschenverhöhnenden Lebensmittelindustrie. Das Nährstoffkartell wird auch künftig verhindern, eine Lebensmittelampel für Zucker, Salz und Fett aufdrucken zu müssen. Schleichend vergiften sie uns aus reiner Profitgier.
Unbelastete Lebensmittel sammeln wir für unsere Suppenküchen. Wir finden Brauchbares für die Zweite Hand, Ersatzteile für selbstorganisierte Reparaturläden und Tauschwaren für die Paech’schen Verschenkmärkte. Unverhofft fallen mir Bücher auf und Spielzeug, das wir unseren Tagespersonen mitbringen: Für Altersarme, Asylgetäuschte, Straßenkinder und jene, die die Straf-Sanktionen der staatlichen Almosen-Ämter nicht länger ertragen wollten. Die Geld-Eliten lassen dafür Gesetze schreiben und spielen die Verlierer gegeneinander aus. Es gibt Millionen Verlierer – ohne Hoffnung, ohne Perspektive, ohne soziale Anerkennung und grau wie die Kästen, die niemand mehr sieht.
Unser Helfen ist keine Sozialromantik. Es ist ein harter und erbitterter Kampf. Die Frustrationsschwelle ist niedrig geworden gerade bei jungen Menschen, die gestern noch beseelt davon waren, sich gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem aufzulehnen. Heute erfahren sie, was es bedeutet, jeden Tag die eigene Wut zu kanalisieren, trotz Verzweiflung nicht aufzugeben, sich nicht mit Zynismus oder Drogen zu betäuben. Auf Konsum zu verzichten. Hart ist es, die eigene Bequemlichkeit zu überwinden, um nicht doch wieder in die heile Scheinwelt der Medienillusion zu flüchten.
Also träumen wir nicht nur von vage skizzierten Alternativen einer freien Gesellschaft. Wir entwerfen konkrete Visionen einer anderen Welt und versuchen sie in unserem Leben umzusetzen. Wir bauen eine Welt, in der die Menschen selbst organisieren. Damit eröffnen wir verblüffende Perspektiven. Wir glauben daran, dass Menschen herrschaftsfrei ohne Staat leben können. Wir bilden Netzwerke mit horizontalen Strukturen, autonome Organisationen ohne Hierarchien. Die Strukturen einer sterbenden, konsumorientierten Weltordnung lassen keine Alternativen zu. Sie blockieren unsere Zukunft.
Unsere Zukunft wird geprägt sein durch knappe Ressourcen. Doch sprechen wir nicht von Verzicht, sondern von Beschränkung aufs Wesentliche, Befreiung von Ballast, Entschleunigung des Lebens. Dabei ist Individualität unser höchstes Gut – sie zu bewahren und zu leben verlangt große Verantwortung. Verantwortung nicht für sich selbst, sondern für den Anderen. Die Frage lautet nicht mehr, wo die Grenzen des anderen beginnen, um sie nicht zu überschreiten. Die Frage ist, wie weit Du Dich selbst beschränken kannst, um die Individualität aller zu bewahren.
Ohne Gemeinsinn hat Eigensinn schon vieles gesprengt – Ideen, Projekte, Gemeinschaften bis hin zu Parteien, in denen maßlose Ichbezogenheit und Selbstüberschätzung Einzelner den Erfolg des Großen und Ganzen aller verhindert hat. Die Welt wird wieder kleiner werden. Wer Individualität in einer Zukunft rarer Güter leben will, muss zuerst seine eigenen Grenzen kennen. Das Individuum ist egozentrisch, doch es überlebt nur durch die Berührung zum Du.
Die Nacht ist mein Freund. Ich berühre Dich im Schlaf. Wenn Du erwachst, kennst Du meine Träume.
Quellen:
- Reparatur-Initiativen finden, unterstützen und gründen – Vernetzung, Beratung und Austausch
- Offene Werkstätten, Reparatur-Initiativen, Interkulturelle und Urbane Gemeinschaftsgärten
- Projekt A – Trailer (deutsch)
- Einblicke in die Gegenwelt: »Projekt A« dokumentiert anarchistische Projekte in Europa
Sehr guter Text. Piraten empfehle ich, den vorletzten Abschnitt GANZ GENAU zu lesen.
Nicht schlecht, wie Hans vom Schloß in seinem kleinen Dreiteiler zusammenbringt, was zum einen Marc Elsberg in „Zero“ (München 2014, ISBN 978-3-7645-0492-2), zum anderen Ulrich Horstmann/Gerald Mann in „Bargeldverbot“ (München 2015, ISBN 978-3-89879-933-1) beschrieben haben, und was im Grunde hineinreicht in die aktuellen Diskussionen von Share Economy, Giftstoffen in Lebensmitteln, den Tafeln bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Es ist wichtig, diese Themen zusammen zu sehen und nicht nur isoliert. Warum? Weil wir am Ende der Industrialisierung vor Umbrüchen stehen, ohne zu wissen, wie die Welt morgen aussehen wird. Wenn wir die gegenwärtigen Krisen – Syrien, IS, Ukraine, Euro, Flüchtlinge etc. – als die ausschlaggebenden Entwicklungen sehen, gehen wir fehl. Sie sind eher Symptome denn die Sache selbst. Wenn wir also über den Rand des Tellers, in dem uns die Aktualitäten serviert werden, hinaus schauen, sehen wir Bedrohungen, die wir zum Teil sehenden Auges in Kauf nehmen oder freiwillig eingehen. (Oder müssen wir sagen „noch freiwillig“, wenn wir an Steve Königs Flaschenpost-Beitrag „Auf dem Weg in die orwellsche Dystopie“ denken?)
Genau da bei den Bedrohungen muss man ansetzen, das sehe ich genauso wie Hans vom Schloß. Das Umschlagen vom systemkonformen Funktionieren zum Widerstandshandeln geht mir gleich zu Beginn des zweiten Teil der Geschichte zu schnell, unter schriftstellerischen Aspekten, ist aber vielleicht nur der gebotenen Kürze geschuldet. Aber eines stimmt, und das sollten die amerikanischen oder chinesischen und woher-auch-immer Zuckerbergs wissen, jegliches technische System lässt sich austricksen. Wenn das aber schon alles wäre. Ist es aber nicht. „Die Frustrationsschwelle ist niedrig geworden gerade bei jungen Menschen, die gestern noch beseelt davon waren, sich gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem aufzulehnen.“ Den ersten Teil kann ich unterstreichen, ich arbeite mit jungen Menschen. Auch wenn sie das politische Geschehen verstehen, politisch aktiv sind sie zumeist aber nicht. Das sind nur die „Angepassten“. Die eher kritisch eingestellten sehen in der heutigen Politik keine Chance auf Veränderung. Der zweite Teil, „… die gestern noch beseelt davon waren sich gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem aufzulehnen“, das ist ja wohl eher unsere Generation. Wenn unser bisheriges politisches Vorgehen nicht allzu erfolgreich war und andererseits sich Fazzebook und Co. zu verweigern uns auch der Lösung der Zukunftsprobleme nicht näher bringt, ja was dann? „Beschränkung aufs Wesentliche, Befreiung von Ballast, Entschleunigung des Lebens“ sind auf der individuellen Ebene sicher ein Weg. Ist das aber schon politisch? Weil das Private immer schon politisch wäre? Allenfalls, wenn die Beschränkung, Befreiung vom Zuvielen und die Entschleunigung eine Massen- oder zumindest einen Mehrheitsbewegung wäre. Aber selbst dann brauchte sie einen politische Artikulation, die wählbar ist. Solange wir in einem demokratischen Kontext denken, müssen Mehrheiten gebildet werden, und wir müssen Mehrheiten in unserem Sinne gewinnen, wollen wir erfolgreich sein. Und in einer Demokratie lautet die Frage sehr wohl, „wo die Grenzen des anderen beginnen, um sie nicht zu überschreiten“. Ich zweifele daran, ob unser „Individualität unser höchstes Gut“ ist. Zunächst ist Individualität eine Kollektiveigenschaft der Menschen der modernen westlichen Zivilisation – mehr nicht, möchte ich sagen. Eine Eigenschaft, die, wenn sie von den Individuen falsch verstanden wird, dann zu einem existentiellen, manchmal existenziell bedrohlichen Gegeneinander führt. Und da sei die Lösung: „Wir glauben daran, dass Menschen herrschaftsfrei ohne Staat leben können.“ Nein. Demokratie ohne staatliche Verfassung heißt auch Demokratie ohne Gewaltmonopol. In einer solche Demokratie gäbe es nicht die Machtmittel, (korrekt zustande gekommene) Mehrheitsbeschlüsse durchzusetzen und sich nach außen zu schützen. „Die Strukturen einer sterbenden, konsumorientierten Weltordnung lassen keine Alternativen zu.“ Alternativlos stellt auch Kanzlerin Angela „Tina“*) Merkel ihre Politik dar. Alternativlose argumentieren nicht, sondern arbeiten mit Totschlagphrasen, sind autoritär, und definitiv nicht demokratisch. Ich will Hanns vom Schloß weder in die Nähe von Merkel noch von AfD oder Pegida stellen, aber ich warne vor solchen Formulierungen, etwas sei alternativlos.
Sicher, die heutige Weltordnung ist konsumorientiert, und so wie sie ist, ist sie kein Modell für die Welt, weil die Erde das nicht liefert, nicht aushielte. Aber die Metapher, sie sterbe, ist falsch. Nach der großen Wende 1990 und dem Ende der Sowjetunion wurde viel von einer Neuen Weltordnung „mit Friedensdividende“ geredet. Selbst George Herbert Walker Bush, der dann den Krieg gegen den Irak zur Befreiung Kuweits geführt hat, sprach davon. Die Neue Weltordnung war möglich, aber nicht alternativlos. Und, ist sie gekommen? Nein, offensichtlich nicht. Vielmehr haben wir eine Weltunordnung bekommen, wie wir sie uns nicht vorstellen konnten. Diese sterbe, und die staatenlose hierarchielose horizontale Struktur kommt nun alternativlos als unsere Zukunft? Seltsam gestaltlos kommt das daher.
Auch wenn es im Augenblick nicht ganz so aussehen mag, in Europa leben wir auf der Insel der Glückseligen. Allerdings geraten uns die dieses Glück begründenden Werte gerade ein wenig aus den Augen. Sie wiederzubeleben und zu leben ist die Zukunft, und ich möchte denjenigen sehen, der sich hinstellt und sagt, diese Werte würden die Welt zwangsläufig und unvermeidbar in den endgültigen Abgrund, in die Auslöschung führen. Demokratie westlichen Zuschnitts ist zu Korrekturen fähig, und das kann die Welt befähigen, auch wenn selbst diese Demokratie nicht unbedingt ein Weltmodell ist. Heute.
Vielleicht ist es unglücklich, dass die Reise durch die freundliche Nacht im dritten Teil von einer Erzählung zu einem politischem Statement gerät.
Die Nacht ist mein Freund? Vielleicht, ich liebe Ruhe der späten Nacht. Wenn ich träume, dann aber tags, hellwach und von einer Zukunft, die es zu gestalten gilt. Die nicht alternativlos vorgegeben ist, denn das wäre keine Zukunft.
*) Tina = „There is no alternative“