Vor zehn Jahren wurde unsere Partei gegründet. Der schwungvolle Start wäre nicht möglich gewesen ohne den Einsatz der Mitglieder. So kamen über 300 Piraten in vier Landesparlamente, das Europaparlament und unzählige, kommunale Parlamente. Wir nahmen Kontakt mit einigen der Akteure dieser Zeit auf und fragten nach ihren Erinnerungen – zusammengefasst in einem Absatz – oder auch mehr.
Sebastian Nerz
Einen Absatz mit einem Rückblick aus Anlass 10 Jahre Piratenpartei? Ein Absatz? Die Zeit war so intensiv und so voll, dass es für ein ganzes Buch reichen würde (und keine Angst, ich plane nicht, auch noch eines zu schreiben). Vielleicht kann man es in vier Worten zusammenfassen: Sie war es wert. Von 2009 an, war die Piratenpartei Teil meines Lebens. Die Zeit war anstrengend. Sie war schwierig. Sie war voller Kritik, Anfeindungen und persönlicher Angriffe. Sie hat mich gelehrt, wie weit unter der Gürtellinie manche in politischen Auseinandersetzungen agieren wollen, wie sehr mit durchstochenen Medienmeldungen im Vorfeld von Entscheidungen gearbeitet wird. Aber sie war es wert. 2009 war es ein Versuch, eine politische Bewegung zu stoppen, die zerstört, was sie nicht versteht. Niemand – auch wir nicht – hat ernsthaft an einen Erfolg geglaubt. Aber Nichtstun war keine Alternative und so haben die Piraten etwas geschafft, das andere viele Jahrzehnte lang erfolglos versuchen: Die Piratenpartei hat die politische Debatte zumindest eine Zeit lang geprägt. Sie hat Themen gesetzt, Impulse aufgebracht, neue Denkmuster in die Politik geschoben und die Risse in alten Ansätzen gezeigt. Sie hat Personalrochaden in Medienhäusern und anderen Parteien erzeugt, weil man plötzlich mit uns konfrontiert war. Sie hat dadurch vielleicht auch zu viele Hoffnungen geweckt. Hoffnungen, die wir nicht enttäuschen wollten. Hoffnungen, für die wir aber zu klein waren. Es waren Monate und Jahre, in denen „Warum machst Du das eigentlich?“ zum ständigen Begleiter wurde. Aber die ganze Zeit war auch klar: Weil es sein muss. Weil es verdammt viele verdammt gute Ideen in der Partei gab. Weil Politik einen neuen Impuls brauchte. Den hat sie gekriegt – und für die nächsten 10 Jahre wünsche ich der Piratenpartei, das sie noch viele Impulse setzen kann. Nötig wäre es 🙂
Marinke Gindullis
Straßenfeste bei der Piratenpartei bedeuten endlose Kisten, kleine und große, gefüllt mit dutzenden, liebevoll gestalteten Flyern zu allen erdenklichen Spezialthemen. Hinzu kommen die Aufkleber. Das Spektrum reicht hier von „FCKNZS“ über „MACHT LACK! MEIN DOPE IST ALLE!“ bis zu „DEIN COOKIE IST IMMER FÜR DICH DA“ (Abb. beißender Keks) Nicht zu vergessen, das obligatorische Eichhörnchen mit der frechen Aufforderung: „GENDER DICH SELBST!“
Ist der orangene Pavillon erst einmal aufgebaut und die zahlreichen Plastikboxen unter den Infostandtischen verstaut, beginnt die Dekoration. Auch diese ist bei den Piraten sehr speziell und nicht unwichtig. So werden die Lieblingsplakate vergangener Wahlkämpfe in Gesellschaft der jeweils angesagten Flaggen gerne noch einmal aufgehängt und mit zusätzlichen Accessoires wie selbst designten Wimpeln und Bannern versehen. Geht es dann los und die zahlreichen Flyer und mindestens drei Unterschriftenlisten verschiedener Initiativen liegen fein säuberlich angeordnet auf dem Tisch (Platz für Kaffeebecher bleibt da kaum), erfolgt der Realitätsflash: Er kommt vermeintlich harmlos daher, hat große Kinderaugen, blickt kaum über die Tischkante und fragt leise: „Kann ich einen Piratensäbel haben?“ – „Na klar doch!“
Werner Niedermeier
Es war einmal – so beginnen viele Märchen. Zehn Jahre Piratenpartei sind ein guter Anlass für Rück- und Ausblicke.
Angefangen hat alles bei mir etwa im Jahre 2009. Da habe ich zum ersten Mal von der Piratenpartei gehört. Von den Menschen, die nicht links oder rechts sind, sondern ausgerichtet nach vorne auf die Zukunft. Von den Menschen, die anders sein wollten, als die anderen Parteien. Frischer, freier, der Zukunft zugewandt. „Vielfalt statt Einfalt“ und „Denk selbst!“ waren die Schlagworte. Da ich schlechte Erfahrungen mit Parteien gemacht habe (ich war vor mehr als 30 Jahren aktiv bei den Grünen, habe diese dann aber recht bald verlassen. Schon früh wurde mir klar, dass die Partei einen völlig anderen Weg gegangen ist, als die ursprünglichen Ziele und Ideale erwarten ließen), wollte ich nicht gleich beitreten, sondern mir das Ganze erst einmal genauer ansehen.
Das Grundsatzprogramm war mit meinen politischen Zielen zu fast 100 Prozent kompatibel. Als ich beispielsweise das erste Mal in der Geschäftsstelle der Münchner/Bayerischen Piraten war, fiel mir auf, dass die Toiletten nicht nach Geschlecht getrennt waren. Jeder konnte auf jede Toilette gehen. So stelle ich mir gelebtes Postgender vor. Quoten? Wozu sollte man eine derart undemokratische Bevorzugung von Gruppen, Geschlechtern, Wohnorten oder was es da sonst noch gibt, wollen? Kompetenz zählt und natürlich auch ein bisschen Sympathie. Der Wähler entscheidet, wen er wählt, nicht Quoten.
Ein weiterer Punkt war, dass man nicht ideologisch an bestimmten, vorgegebenen Inhalten festhielt, sondern, dass man die Möglichkeit hatte, auch andere Meinungen zu hinterfragen. Da gab es zum Beispiel einen Arbeitskreis „Nuklearia“. Das waren Menschen, die für Atomkraft waren. Auch wenn diese Haltung nicht meine ist, da ich der Meinung bin, solange die Endlagerfrage ungeklärt ist, ist diese Technik abzulehnen, fand ich es klasse, dass Parteimitglieder an Themen arbeiten konnten, obwohl die Mehrheit der Partei diese ablehnt.
Gut gefallen hat mir auch die Sache mit der Transparenz. Volle Transparenz für öffentliche Ämter und Daten, und Sicherheit und Persönlichkeitsrechte für Privates. Der Kampf gegen Ursula von der Leyens Idee, unliebsame Inhalte zu zensieren, brachte viele Menschen dazu, sich für die Piratenpartei zu interessieren.
Ein weiterer Punkt war das Mitmachen. Man musste sich nicht wie in anderen Parteien „hochdienen“ oder durch irgendwelche Quoten nach oben spülen lassen, nein, man konnte direkt mitmachen. Völlig egal, wie man aussah, völlig egal, was für ein Geschlecht man hatte. Gelebte Demokratie, gelebtes Miteinander.
Im Jahre 2011 war es dann soweit: Mich hatte das Grundsatzprogramm überzeugt, mich hatten die Menschen überzeugt und auch wenn ich nicht mit allen Ergebnissen von Abstimmungen einverstanden war – hey, das ist Demokratie. Man kann nicht immer gewinnen. So wurde ich Mitglied der Piratenpartei.
Zugegeben, vieles lief in der Praxis nicht so ab, wie man sich das in der Theorie gewünscht hätte. Endlose Debatten um meiner Meinung nach oft Unwichtiges gab es. Aber: Für andere Menschen war das zu behandelnde Thema wichtig, also warum nicht Meinungen austauschen? Nur durch konträre Ansichten kann man sich schlussendlich auf einen Weg einigen, der für die Mehrheit der Richtige ist. Wer sich nur mit Ja-Sagern umgibt, wird irgendwann wie Helmut Kohl enden, oder wie es wohl mit Angela Merkel der Fall sein wird.
Die Piratenpartei konnte einige Erfolge erzielen. Die Störerhaftung wäre sicher nicht gefallen, wenn nicht Mitglieder der Piratenpartei den Klageweg beschritten hätten. Bei Demos gegen die Angstpolitik der Großen Koalition („Freiheit statt Angst“) oder bei Aktionen gegen das in Hinterzimmern von Lobbyisten ausgemauschelte Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) sind Fahnen der Piratenpartei in der Überzahl.
Ich denke, dass trotz sinkender Umfragewerte aus einem „Es war einmal“ durchaus ein „Sie sind wichtiger denn je“ werden könnte. Hier kann man sich durchaus ein Zitat des kürzlich verstorbenen FDP-Politikers Walter Scheel zu Herzen nehmen: „Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen“. In diesem Sinne: Behalten wir unsere Fragen, unsere Grundwerte und unsere Neugier. Dann können wir in zehn Jahren auch ein erfolgreiches „20 Jahre Piratenpartei“ feiern.
Michael Renner
Wahrscheinlich gibt es nicht viele Piraten, die seit ihrem Eintritt über Jahre hinweg stets dasselbe in der Partei machen. Bei mir ist es jedoch so, für mich bedeutet „Piratenpartei“: Artikel schreiben, für den geneigten Leser die piratige (Gedanken)-Welt erklären und journalistisch Aktionen unterstützen. Wir fingen mit dem Bundesnewsletter ganz klein an, mit Word-Dokumenten, in die jeder seinen Text schrieb und in dem auch lektoriert wurde. Das wirkt heute sehr hausbacken, doch so unterstützen wir den Bundestagswahlkampf 2009. 2010 entstand die WordPress-Instanz, mit der vieles einfacher wurde. Das Interesse an der Piratenpartei wuchs, und damit auch die Kreis Leser und der Redakteure.
Für mich, und sicher auch für andere Redakteure, war die Zeit der Shitstorms nur zu überstehen, weil es innerhalb der Redaktion einen starken Zusammenhalt gab und wir eine Aufgabe hatten, bei der die eigene politische Agenda keine große Rolle spielt. Während auf Twitter die Beleidigungen hin und her flogen, stürzten wir uns in die Arbeit. Es entstanden spezielle Formate (beispielsweise die Pro-Contra-Artikel in denen zwei Seiten ihre Positionen darstellen konnten) und der Medienmittwoch, mit dem einmal in der Woche etwas Entspannung einkehren konnte.
Irgendwann wurde es ruhiger um die Partei. Das nutzte ich, um Artikel zu schreiben, die Themen etwas außerhalb der piratigen Politik behandeln. Das führte mich schon einige Male zur Münchner Sicherheitskonferenz und zur G7-Konferenz. Seit es die Piraten Sicherheitskonferenz gibt, lassen sich diese Veranstaltungen wunderbar verknüpfen. Ich als fliegender Reporter zwischen MSC und PSC – ein Traum!
Nach fünf Jahren in einer verantwortlichen Position bei der Flaschenpost wurde es für mich ermüdend. Die Redaktionskonferenz drei mal im Monat, der Newsletter (es gibt ihn noch, auch wenn die meisten Leser inzwischen über die Webseite kommen, versenden wir noch immer wöchentlich eine Mail mit allen Artikeln der Woche), hier ein Artikel der zu lektorieren ist, dort eine Veranstaltung die wir ankündigen wollen ……. ganz langsam wurde die Lust an der Redaktionsarbeit zur Last. Ich machte zwei Schritte zurück: Vom Chefredakteur zum „einfachen“ Teammitglied, was nur möglich war, weil das Team groß genug ist, um die Aufgaben anders zu verteilen. Für mich kommt der Spaß an Artikeln langsam zurück, zeitlich passend zu den anstehenden Sicherheitskonferenzen in München!
Kristos Thingilouthis
Moin an Bord dieses 10 Jahre jungen Schiffes!
Ein Schiff, dessen Segel von Anfang an aus Demokratie, Liberalismus und Freiheit bestehen und das sich seither immer wieder durch die Fluten gegen den Überwachungswahn und die Allmachtsphantasien der anderen Parteien kämpft. Und das nicht nur hier, sondern weltweit.
Auch wenn wir nicht immer leichten Seegang hatten:
Ich habe es nie bereut, vor 8 Jahren bei der Piratenpartei angeheuert zu haben und immer noch Teil dieser Mannschaft, Teil dieser weltweiten Flotte zu sein! Ich danke euch allen dafür.
Und nach den turbulenten Fahrten – bei denen „jemand“ den Kompass und den Ausguck nicht im Blick behielt – stellen wir heute fest: Es sind die Masten aus Datenschutz, Teilhabe, Privatsphäre, Mitbestimmung, die die Mannschaft zusammenhalten und der Anker aus Freiheit, der uns nicht untergehen und jeden Sturm ertragen lässt.
Unsere Mannschaft – ihr – wart es, die das Ruder herum gerissen und die Piratenpartei wieder auf ihren Kurs gebracht habt. Ihr seid es auch, die den technologischen und gesellschaftlichen Wandel erkannt und mitgestaltet habt und für die immer wieder neu am Horizont auftauchenden Probleme Lösungen anbietet. Wir haben keine Angst vor der Zukunft, WIR sind die Digitale Revolution!
Sperling
Ich kam Juni 2009 in die Partei und habe alle Höhen und Tiefen miterlebt. Als Basispirat im Maschinenraum habe ich überall mitgeholfen wo ich konnte – als Schiffbauer (u.a. FSA 2010), als AG-Mitglied, beim Plakatieren, als Assistent eines Bundesvorstandes, als PM-Schreiber, als Geschäftsstellenleiter, als Teil der BPT-Orga, als langjähriges Mitglied in der Flaschenpost, in der Pressearbeit, als Basisgurke und aktuell als KV-Schatzmeister. Gut, und in der Anfangszeit habe ich so manchen scharf getrollt, mea culpa.
Insgesamt ziehe ich eine ausgeglichene Bilanz aus den 7 Jahren Arbeit: Aus einem großen Haufen Aktivisten, talentierten Einzelkämpfern, Selbstdarstellern, begabten Politikern und Karrieristen ohne gemeinsame Werte erwuchs eine Partei, die heute belastbare Strukturen und ein zutiefst humanistisches Programm hat.
Als Erfolg betrachte ich, dass in der Piratenpartei Idolinskis und Radikalinskis mit grenzwertigen oder auch übergriffigen Umgangsformen keine Heimat fanden. Als weiteren Erfolg sehe ich, dass wir die politische Kultur in diesem Land nachhaltig verändert haben – ohne uns wäre die Netzöffentlichkeit und viele ihrer Aktivisten in der Tagespolitik noch immer irrelevant.
Wir haben es geschafft, wir sind erwachsen geworden, die Pubertät ist vorbei. Wir sind einig in unseren Zielen, wir stehen weiter für Freiheit, Bürgerrechte, Bildung, Menschenwürde, Datenschutz und ein soziales Miteinander, das diesen Namen verdient.
Wir sind gekommen um zu bleiben und so lange es uns gibt, bleiben unsere Themen aktuell.