1993: Der zweite Bürgermeister von St. Petersburg hält vor Vertretern der deutschen Wirtschaft, unter anderem BASF und der Dresdener Bank, im ehemaligen DDR-Generalkonsulat eine Rede. Zum Schutz privater Kapitalinvestitionen sei zwischen „notwendiger“ und „krimineller“ Gewalt zu unterscheiden und die Herbeiführung einer Diktatur nach dem Vorbild von Pinochet zu billigen [1].
Sein Name:
Wladimir Putin
29 Jahre später ist er am Ziel. Und bringt die Welt an den Rand des dritten Weltkrieges. Mit der diplomatischen Anerkennung der zwei „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk hat Putin diplomatisch den Weg geebnet für seinen Einmarsch zur „Hilfe“ und „Unterstützung“ der zwei ach so hilfebedürftigen und gefährdeten Republiken, die, in Erwartung ukrainischer Angriffe, schwerst am Boden liegen.
Und tatsächlich sind in den letzten Tagen tausende von Menschen aus besagten „Republiken“ geflohen.
Geschätzte 1,5 bis 2 Millionen Menschen sind schon jetzt geflohen. Teilweise in die Ukraine, aber zu einem nicht unerheblichen Teil auch nach Russland [2].
Es verblüfft allerdings schon, dass die Ukraine just in dem Moment, wo Russland fast 200.000 Soldaten an der Grenze zusammengezogen hat, sich militärische Übergriffe erlaubt. Da müsste aber jemand schon sehr dumm sein!
Die Rolle Deutschlands
… ist eine faszinierende. Wir, die selbsternannten Moralapostel der Welt sind unfähig, einen Konflikt zu benennen, geschweige denn, ihn zu lösen. Da mutet es schon fast als Satire an, dass wir 5000 Helme spenden wollen. Diese allerdings wohl vor Kriegsausbruch nicht liefern können.
Was sich allerdings im weiteren Umfeld (in Deutschland) dann so alles abspielt, ist an Groteske kaum zu überbieten.
Da wäre zum Beispiel der Berliner Verband der Linksjugend Solid mit folgendem Statement: „Nein zu imperialistischen Kriegen! Nein zur NATO! Der Hauptfeind steht immer noch im eigenen Land!“ [3]
Das Ganze unterlegt mit einem Bild unserer Außenministerin bei Ihrem Besuch in der Ostukraine. Dass eine Jugendorganisation die NATO als Gegner ansieht, ist nachvollziehbar. Aber es fällt schwer, den Aggressor NATO zu entdecken. Und zur Ehrenrettung der Jugendorganisation muss man sagen, ihre Bundessprecherin sagte Folgendes: „Wir fordern die russische Regierung auf, ihre Truppen sofort aus dem ukrainischen Staatsgebiet zurückzuziehen, die Anerkennung der ‚Volksrepubliken‘ Donezk und Lugansk zurückzunehmen und zu ziviler Konfliktlösung zurückzukehren“.
Sahra Wagenknecht tat sich da schon deutlich schwerer, hatte sie doch erst einen Tag zuvor in der Sendung „Anne Will“ verkündet, dass Russland faktisch kein Interesse daran habe, in die Ukraine einzumarschieren. Aber auch sie hat zumindest halbherzig den Vorgang dann als „völkerrechtswidrig“ beschrieben.
Interessant auch all die Kommentare bezüglich Sahra Wagenknecht und Gerhard Schröder. Natürlich ist Gerhard Schröder so etwas wie ein Lobbyist, offiziell natürlich für Gazprom, aber in Wahrheit für Putin. Das ist jedem klar, und ganz sicher auch Gerhard Schröder. Aber noch etwas ist klar, weder Sahra Wagenknecht noch Gerhard Schröder sind für diese Eskalation verantwortlich. Und die vielen Angriffe, das beständige Nachtreten, ist ein Armutszeugnis für alle, die genau das tun.
Wo sind die ganzen ach so verständnisvollen, die mit allen reden wollen – Coronaleugnern, der AfD, Nazis, etc. Deutschland at its Best? Und die finden sich nicht nur in der Bundes- oder Landespolitik. Da gibt es zum Beispiel noch Landräte wie den von Märkisch-Oderland. Gernot Schmidt und weitere SPD Politiker. Die schreiben kurz vor dem Einmarsch einen offenen Brief an … Wladimir Putin. In diesem fordern sie, unter anderem, „verbal abzurüsten“ [4] [5].
Ich finde es faszinierend, wie in einem Land, in dem zwei Bundesländer (Sachsen und Thüringen) quasi mit Segnung der Politik zu „Reichsbürgern 2.0“ geworden sind, in dem Neonazis das Land mit immer mehr Gewalt überziehen, nicht in der Lage ist, eine Diktatur als solche zu erkennen und zu brandmarken, geschweige denn zu bekämpfen. Russland wird nicht umzingelt von der NATO. Das ist auch kaum möglich. Stattdessen ist es umgeben von Diktaturen, die nur existieren, weil sie letztendlich unter seinem Schutz stehen. So lenkt der lupenreine Demokrat Lukaschenko (Präsident von Belarus) z. B. ein Flugzeug [6], das sich lediglich auf einem Überflug über sein Land befindet, um, um einen Regimekritiker festzunehmen. Und wir? Wir sehen – von ein paar Floskeln abgesehen – tatenlos zu.
Konsequenzen
Wenn wir nicht aufpassen, dann entsteht mitten in Europa ein Krieg, der problemlos zu einem Weltkrieg führen kann.
In einer, wie ich finde, außerordentlichen Rede hat der kenianische Botschafter Martin Kimani vor den Vereinten Nationen über vergangene Empire und die Zukunft gesprochen. Selten hat es jemand so gut auf den Punkt gebracht, wie in dieser Rede [7].
Und wir sitzen hier, im Warmen, weil durch den Klimawandel die Temperaturen so alles andere als winterlich sind, klopfen uns selbst auf die Schulter – schließlich haben wir ja alles gemacht, was in unserer Macht steht – und warten darauf, dass Putin sich bei uns meldet.
Wenn es zu einem Krieg kommt, und im Moment sehe ich nicht, was diesen verhindern sollte, dann wird Russland zwar letztendlich verlieren, aber vorher wird die Welt in den Abgrund gestürzt.
Fazit
Sollte es zu einem Krieg kommen, sind wir direkt und mittelbar die Leidtragenden. Ein Krieg destabilisiert nicht nur die Region, sondern auch unser Land. Denn all die Elemente mit ähnlichen Allmachtsfantasien wie Putin werden sich durch sein Vorgehen und unser Nichtstun bestärkt fühlen. 5000 Helme zu schicken oder auf einen Anruf zu warten, sind keine Lösung. Es gibt keinen bequemen Weg, was auch immer wir tun werden. Aber die Folgen, wenn wir nichts tun, sind noch viel schlimmer.
Ullrich Slusarczyk
Update:
Ungefähr um 6:00 Uhr morgens am 24.02.2022 hat der Krieg wie es scheint begonnen.
[2] https://www.swp-berlin.org/publikation/donbas-konflikt-schwieriger-friedensprozess#hd-d25970e2003
[3] https://twitter.com/solidBerlin/status/1496173606749065220 Tweet wurde offenbar gelöscht.
[4] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/02/landrat-schmidt-brief-putin-seelow.html
[6] https://www.deutschlandfunk.de/belarus-lukaschenko-kapert-flugzeug-mit-regierungskritiker-100.html
[7] https://taz.de/UN-Rede-zu-Russland-Ukraine-Konflikt/!5833849/
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.
1 thought on “Wenn der russische Bär tanzt und wir applaudieren”
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