Das Ehrenamt ist etwas sehr Respektables und Anerkennenswertes. Wenn man allerdings sieht, wie die sogenannten etablierten Parteien agieren, habe ich so meine Zweifel, ob das Ehrenamt und die Politik wirklich zusammengehören.
Ist die ehrenamtliche Arbeit eines Bundesvorstandes in einer Partei noch ausreichend, wenn diese Erfolg haben will, oder sollte hier über eine Professionalisierung nachgedacht werden?
Das kann ich nicht beurteilen. Denn wir haben als Partei das Potenzial der ehrenamtlichen Arbeit des Bundesvorstands gar nicht ausgenutzt. Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass im Rahmen von Ehrenamt professionelle Arbeit geleistet wird – ich selber habe ja einen entsprechenden Background in die Parteiarbeit mit eingebracht, sodass ich nicht sagen könnte, dies würde auch vor dem Hintergrund des Zeiteinsatzes einer professionellen Arbeit hintenan stehen.
Das Problem ist eher, dass diese Arbeit nicht angenommen wird, dass Piraten die Ergebnisse und Vorschläge nicht unbedingt aufnehmen und damit arbeiten. Aber selbst wenn wir für Leistungen wie das Pressekonzept bezahlen, wird es ja von einigen so kaputt gemacht, dass es wertlos wird. Hier muss ein Wandel einsetzen. Ich verstehe und unterstütze die Einstellung, dass Piraten auch ohne den Bundesvorstand aktiv sein können, solange alle das gleiche Ziel verfolgen, dass also in diesem Sinnen kein Bundesvorstand nötig sei. Sehr sogar, hier sind wir ja bei meiner Open Organisation. Allerdings wird das in den meisten Fälle auf den Fall verkürzt, dass kein Bundesvorstand nötig sei, oder „es ist mir egal, wer unter mir Bundesvorstand ist“, aber der Teil mit dem „arbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen“ wird dann immer vergessen. Entweder vollständig, indem nur geredet und nicht getan wird. Oder indem zwar gearbeitet wird, aber nur das, was man selber möchte, ungeachtet dessen, dass die Mehrheit etwas anderes beschlossen hat, beispielsweise als im Rahmen der Vorstandswahl eine andere Zielrichtung für die Partei gewählt hat.
Ich musste in meiner Zeit im Landesvorstand lernen, dass Politik eher in den Hintergrund rückt und man sich hauptsächlich mit organisatorischen bzw. kaufmännischen Problemen beschäftigen muss.
Kann es sein, dass hier ein strukturelles Problem in der Piratenpartei vorliegt bzw. das organisatorische nicht ausreichend vom politischen getrennt ist?
Grundsätzlich bedeutet die Arbeit in Führungspositionen immer, dass man nicht mehr in der Organisation arbeitet, sondern an der Organisation. Häufig habe ich die Rolle mit der eines Hausmeisters verglichen. Gleichwohl darf das nicht für alle Vorstände gelten, denn einer oder zwei von ihnen sollten wort- und bildstark nach außen auftreten. Während wir diese Idealzusammensetzung eines Vorstands auf Parteitagen wählen möchten, zeigt sich dann aber, dass Mitglieder ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, oder sogar unabsichtlich oder absichtlich dem entgegenarbeiten. Beispielsweise indem sie sich unter Vorspiegeln falscher Tatsachen auf dem Rücken einer der oben beschriebenen Kampagnen sogar einen Platz im Bundesvorstand ergattern, der aber lediglich dazu dienen sollte, andere Kandidaten zu verhindern, die tatsächlich gearbeitet hätten. Dann muss die Arbeit umgeschichtet werden und wird zwangsläufig die Zeit fressen, die für die politische Außenarbeit aufgebracht würde. Denn die Partei erwartet funktionierende Strukturen, und ein Fehlen dessen wird die Arbeit in den nachgeordneten Gliederungen erschweren.
Wir stellen uns also selber ein Bein, indem wir unsere Verantwortung nicht ernst nehmen. Sowohl als Vorstandsmitglieder, als auch als Wähler auf dem Bundesparteitag. Dass wir uns natürlich auch in beispielsweise Leistungsbereitschaft und dem Willen zum Wettbewerb von anderen Parteien unterscheiden, das ist ein weiterer Punkt. Meine Beobachtung ist, dass sich Mitglieder in Vorständen nicht als „Performer“ sehen, die sich bestimmte Ziele setzen und sie erreichen wollen, dafür kämpfen, sondern eher eine Verwaltungseinstellung haben. So wird man natürlich überholt. Aber das halte ich für nachrangig und kann eben auch aus dem zuvor beschriebenen Problem herrühren, dass man resigniert, weil man gleich zum Start schon mit nur 10 Leuten auf dem Fußballfeld steht und zusehen muss, wie man die Grundlagenarbeit organisiert.
Leider ist die Professionalisierung der Piratenpartei zu meinem Bedauern längst nicht so erfolgreich und schnell über die Bühne gegangen, wie ich mir das gewünscht hätte. Einiges ist auch ganz klar gescheitert.
Ein Punkt, den ich z. B. ganz klar bemängele, ist der kaufmännische Bereich. Dies hat sich z. B. beim Bundestagswahlkampf gezeigt, aber ich bin sicher, auch bei vielen anderen Wahlkämpfen. Hier fehlt eine von der Politik unabhängige Struktur innerhalb der Partei, die über Sachverstand und ausgewiesene kaufmännische Fähigkeiten verfügt.
Wo hat die Piratenpartei Deiner Meinung nach die größten Defizite momentan?
In der fehlenden Bereitschaft, klare Zusagen zu machen, und diese auch einzuhalten. Das muss nicht das Versprechen sein, Meisterleistungen abzuliefern. Hierbei geht es oft auch um kleine Aufgaben, die aber verschleppt werden und liegenbleiben. Nicht nur sind andere Menschen davon abhängig, sondern es verbreitet sich eine Einstellung des „komm ich heut nicht, komm ich morgen“. Wir brauchen keine Deadlines zu vereinbaren, wenn sie nur als grobe Richtlinie dienen und das Überschreiten keine Konsequenzen hat. Denn so bestrafen wir regelmäßig diejenigen, die sich daran halten und ihr Bestes geben, damit Projektmanagement klappt. Würden wir hier besser werden, dann würde der Arbeitsanfall in der Partei für alle deutlich geringer werden, weil jeder besser planen kann.
Ein anderes Defizit habe ich ja oben mehrfach beschrieben. Dass wir als Mitglieder nicht dafür sorgen, dass demokratische mehrheitliche Entscheidungen eingehalten werden, wie beispielsweise ein Beschluss auf dem Bundesparteitag. Oder eben die Gegenwehr gegen die zersetzenden Kräfte in der Partei, die alles dafür tun, dass die Partei genau so wird, wie sie es sich wünschen, und ungeliebte Vorstände versuchen zu beseitigen, indem sie öffentliches Diskreditieren, stören oder anderweitige Bemühungen jeden Spaß an politischer Arbeit zu verderben.
Wenn Du auf Deine Amtszeit zurückblickst, dann gab es sicher Erfolge, Niederlagen, persönliche Enttäuschungen und Überraschungen.
Was war Dein größter Erfolg, was Deine größte Niederlage?
Manchmal ist es ja schon ein Erfolg, dass die Dinge einfach nur laufen. Denn es gibt für einen Bundesvorstand eine Vielzahl an Aufgaben zu erfüllen, einfach nur, damit die Partei reibungslos funktioniert. Den meisten wird die Pflicht zur Erstellung des jährlichen Rechenschaftsberichts für den Bundestag bekannt sein. Darüber hinaus Rechtsfälle, die bearbeitet werden müssen, Reputationsrisiken, durch die Nähe von Mitgliedern zu Extremisten, die eingefangen werden müssen, oder eben das spontane Einspringen, wo andere nicht schaffen zugesagte Aufgaben zu erfüllen.
Organisatorisch ist es für mich daher ein großer Erfolg, in der Partei Flaschenhälse aufgelöst zu haben, wo einzelne Piraten sich positionierten, um hier (ohne Legitimation) Macht auszuüben. Als Führungsperson ist das eine unangenehme Aufgabe, und man kann meistens bestens weiterarbeiten, indem man das Problem auf die Nachfolger verschiebt. Aber ich bin der Meinung, dass es Teil der übertragenen Verantwortung ist, hier für mehr Durchlässigkeit zu sorgen und einer möglichen Erpressbarkeit einen Riegel vorzuschieben. Das ist weitestgehend geräuschlos so geschehen.
Was die öffentliche Seite angeht, betrachte ich es als Erfolg, dass wir immer noch ein entsprechendes Standing in der Gesellschaft haben. Mir wurde als Gesprächspartner immer auf Augenhöhe begegnet, zu unterschiedlichsten Anlässen und Gelegenheiten, von Wirtschaftsweisen bis zur Botschafterin des Königreichs Dänemark.
Meine größte Niederlage war vermutlich, nicht genügend oder nicht schnell genug von meinen Vorgängern in den Bundesvorständen gelernt zu haben. Die destruktiven Kräfte in der Partei waren ja bekannt, und auch der mögliche Umgang damit. Irrigerweise glaubte ich, dass man den Weg einer Integration oder zumindest Koexistenz gehen könnte. Das entpuppte sich aber als naiv. Und zu lernen, dass es Piraten gibt, für die die Piratenpartei nur dann erfolgreich sein darf, wenn alles genau so passiert, wie sie sich das vorstellen, war für mich schmerzhaft.
Es gibt Bestrebungen, die Arbeit eines Vorstandes sozusagen in ein Regelbuch zu pressen. Quasi ein Handbuch, das der Vorstand zu befolgen hat. Meiner Meinung nach geht das nicht, gerade die Corona-Pandemie, aber auch der Ukraine-Krieg haben das mehr als deutlich gezeigt.
Wie siehst Du solche Bestrebungen?
Nun ja, man hat als Bundesvorstand schon einen recht engen Rahmen, in dem man sich bewegen darf. Satzung und Parteitagsbeschlüsse geben ja recht konkret vor, was man tun darf und was man sagen darf. Aus meiner Zeit als Bundesvorsitzender wird man beispielsweise, wenn ich mich nicht täusche, keine Meinungsäußerung von mir finden, die der Parteimeinung widerspricht. Ich würde sogar so weit gehen, dass kaum einer meine persönliche Meinung zu vielen Fragen kennt, denn so wie die Partei gegenwärtig funktioniert, ist dies auch nicht gewünscht. Wir sind also quasi schon an dem Punkt, den Du beschreibst, da gebe ich Dir recht.
Persönlich halte ich es für eine bessere Option, wenn der Bundesparteitag beim nächsten Mal entsprechende „Charaktere“ wählt, die tatsächlich ihre Meinung sagen können. Man kann davon ausgehen, dass jemand, der sich für diese Rolle bewirbt und entsprechend viel hereinzustecken bereit ist, hinter der Piratenpartei und ihren Werten steht. Es wäre sehr unwahrscheinlich, dass es zu Äußerungen kommt, die in ihrer Gesamtheit eine andere Wertvorstellung vertreten, als die der Mitglieder der Piratenpartei.
Dazu kommt ja auch, dass der Bundesvorstand aus mehr als einer Person besteht, es gibt also ein Korrektiv.
Drittens ist auch nicht zu vernachlässigen, dass für die Berichterstattung und Aufmerksamkeit immer Personen relevant sind. Es wird so gut wie nie über eine unpersönliche, de-individualisierte Partei gesprochen, sondern immer über Figuren daraus. Es gleicht eher einer Seifenoper. Reduzieren wir uns auf das sachliche, ent-emotionalisierte, so nehmen wir uns die Möglichkeit, mit Charakteren zu arbeiten und auch mit Widersprüchlichkeiten in Positionen umzugehen. Eine solche Herangehensweise ist nichts Neues. Die Öffentlichkeit ist so etwas ja von Vorständen anderer Parteien gewohnt, in denen sogar gezielt nach Proporz Positionen mit konkurrierenden Einstellungen besetzt werden.
Interessanterweise sind viele ehemalige erste Vorsitzende der Piratenpartei nach dem Ende Ihrer Amtszeit zu anderen Parteien gewechselt.
Wirst Du uns erhalten bleiben?
Ja.
Für den Fall, dass Du uns erhalten bleibst. Ich habe gelesen, dass Du zukünftig an einem Forschungsprojekt in Sachen Lightning-Netzwerk mitarbeiten wirst. Dazu meine Gratulation, das ist sicher spannend.
Hast Du trotzdem noch Ziele in der Piratenpartei?
Auf jeden Fall. Als Vorstand hat man nicht mehr die Möglichkeit die Dinge zu tun, die man gerne möchte. Es gibt meiner Meinung nach viele Aufgaben, die wir angehen müssen, Projekte, die wir starten sollten. Es geht dabei immer darum, wieder Spaß in die Piratenarbeit zu bringen, Piraten zu motivieren und einzuladen Dinge zu tun. Der Spielraum und die Zeit, dies als Bundesvorstand zu tun, war mir zu gering. Daher möchte ich das nun anstoßen. Ich freue mich auf Interessierte, die mich und weitere Piraten dabei unterstützen möchten. Und selbstverständlich werde ich mich auch wieder gerne als Bundesvorstand zur Verfügung stellen, wenn die Zeit so weit ist.
Ich danke für das Interview im Namen der Flaschenpost und wünsche viel Erfolg bei dem Forschungsprojekt.
Ullrich Slusarczyk / Redakteur Flaschenpost
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.
Die Piratenpartei scheint an ähnlichen Problemen zu leiden wie die ähnlich gestrickte Linux Community. Auch dort mangelt es an Professionalisierung.
Wenn man da mal auf Distrowatch guckt dann sieht man das es über 500 Verschiedene Linux Betriebssysteme gibt die alle mehr oder weniger inkompatibel zueinander sind. Die eine Software läuft ganz gut auf Distribution X die andere aber nur auf Distribution Y… Kooperation untereinander gibt es aber sehr ineffizient da die Community gefühlt 1000 verschiedene Tools und Plattformen verwendet auf denen die Informationen versanden…. Und ja auch in der Linux Community gibt es Sabotage da eben viele Leute es nur akzeptieren wenn alles so umgesetzt wird wie sie es wollen….. In Folge ist Linux völlig irrelevant da Einsteiger und Normalos kein Bock haben in dem Chaos durchzublicken und dann halt zu Windows greifen.
Piraten Webseiten sind da genau so…. Telegram, Mumble, Wiki, Forum, Matrix, BBB, Cryptpad, teilweise doppelte und dreifache Infrastruktur der tools da einige LVs ihre eigenen Wikis und Foren betreiben. Für den normalo Wähler ist da nicht mehr durchblickbar was da eigentlich abgeht…. Da fehlen die professionellen Strukturen die einfach und übersichtlich sind.
Wichtige Infos sind bei Piraten teils nur in diesem Chaos Wiki zu finden was nicht vollständig von Google indexiert ist und keine brauchbare Suchfunktion besitzt. Beschlüsse werden nicht auf die Hauptseite veröffentlicht usw…. Informationen sind komplett unzugänglich. Für nicht Informatik Nerds ist das nicht mehr zu überblicken. Diskussionen zerfasern weil die einen nur im Forum sind die anderen nur auf Telegram… Es gibt keine verbindliche Struktur. Das macht die Partei (Siehe Forum) dann auch leicht angreifbar für Trolle.
Ich finde die Piratenpartei sollte sich auflösen aber dann mit neuen und von anfang an professionellen Strukturen und Satzung neu gründen. Statt wie ein OpenSource Projekt mit ehrenamtlichen dann doch besser neu organisieren wie ein Startup mit Leuten die auch bezahlt werden.
Vielen Dank für all das Engagement und die Mühen !
Etablierte Parteien mit ihrer Bürokratie haben es natürlich leichter destruktive Leute fern zu halten. Mitmach Parteien sind da natürlich exponierter.m