Eine Kolumne von Ullrich Slusarczyk
Friedrich von Bodelschwingh der Ältere veranlasste 1910, kurz vor seinem Tod, die Gründung von Arbeitsstätten speziell für Behinderte. Sie sind damit die ältesten Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Deutschland und Bestandteil der von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel. [1]
Der zugrunde liegende Gedanke war sicher sehr ehrenhaft und hatte das Wohl der Menschen im Sinne. Aber wie so oft im Leben haben findige Menschen irgendwann entdeckt, dass man mit Behinderten Geld verdienen kann. 1961 wurde der Begriff „Werkstatt für Behinderte“ eingeführt und 2001 mit „Werkstatt für behinderte Menschen“ gesetzlich verbindlich. Damit einher gingen auch diverse gesetzliche Regelungen. Die sollen hier einmal genauer betrachtet werden.
Vorher allerdings noch ein paar grundsätzliche Gedanken.
Werte
„Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt.“
Gustav Heinemann, dritter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn das stimmt, und ich habe da keinen Zweifel, dann ist diese Republik nicht das Papier wert, auf den man ihren Namen schreibt.
Die Nazis nannten Behinderte „Lebensunwertes Leben“ [2].
Heute schreiben Mütter behinderter Kinder über ihren Alltag und bekommen auf Social Media von Menschen den Hinweis, dass sie doch besser abgetrieben hätten. Da verzögern Ämter und Krankenkassen Zahlungen an Behinderte, Schattenfamilien und Angehörigen, die sie leisten müssen, teilweise maximal, immer in der Hoffnung, dass die Antragsteller irgendwann aufgegeben.
Ich finde das in hohem Maße peinlich. Und ein Beweis dafür, wie sehr das nationalsozialistische, faschistische Gedankengut noch in unserer Gesellschaft verhaftet ist. Ein Armutszeugnis für eines der reichsten Länder dieser Welt.
Und die Werkstätten für behinderte Menschen, kurz WfbM, sind so ein Armutszeugnis.
Da sich in unserer Welt alles um Geld dreht, fangen wir damit an.
Einnahmen- und Ausgabenrechnung WfbM
Es gibt rund 700 Hauptwerkstätten mit ca. 2 850 Betriebsstätten/Standorten, in denen ca. 320 000 Behinderte und ca. 70 000 Fachkräfte arbeiten. Die Behinderten bekommen ein Entgelt, keinen Lohn. Denn sie sind keine Arbeitnehmer, haben also auch keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn.
Grundentgelt seit 2022: 109 € monatlich.
Steigerungsbetrag: Der Steigerungsbetrag ist individuell.
Arbeitsföderungsgeld: 52 € monatlich.
Durchschnittsentgelt Stand 2019: 220,28 € pro Monat inklusive des Arbeitsförderungsgeldes
Da man von diesem Geld nicht leben kann, bekommen die Behinderten staatliche Hilfen wie z.B.:
Zuschüsse zu ihren Mietzahlungen, Pflegedienstleistungen, Erwerbsminderungsrente und Grundsicherung.
Mit diesen ca. 320 000 Behinderten und den sie betreuenden 70 000 Fachkräften machen die Betreiber dieser Werkstätten, wie z.B. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel, Lebenshilfe e.V. oder die Caritas ca. 8 Milliarden Umsatz.
8 Milliarden Umsatz.
5 Milliarden werden wieder aufgewendet, also für die 70 000 Fachkräfte z.B., aber auch Sachkosten.
Gesetzlich vorgeschrieben sind, dass die Beschäftigten, also die 320 000, mindestens 70 % des restlichen Gewinnes bekommen. Und hier ist ein Haken.
Das bezieht sich auf das, was ich etwas weiter oben bereits aufgezählt habe. Und das Arbeitsförderungsgeld ist vom Staat!
Was dann übrigbleibt, wird als Rücklagen oder in Modernisierungen gesteckt. Der Staat zahlt also mehr als 16 Millionen alleine an Arbeitsförderung. Außerdem noch all die Gelder für Grundsicherung, Miete, Pflegedienstleistungen und Erwerbsunfähigkeitsrente.
Wenn diese 320 000 alle tatsächlich 220,28 € bekommen würden, was sie nicht tun, dann wären das:
70.489.600 € Arbeitsentgelt für 320 000 Menschen.
Der Gewinn beträgt 3 Milliarden.
70 % von 3 Milliarden sind 2,1 Milliarden.
2,1 Milliarden geteilt durch 320.000 Menschen sind 6.562,50 € pro Person pro Jahr.
546,87 € sind nicht 220,28 €.
Ich bin mir sicher, dass diese Rechnung hinkt, sprich mindestens ungenau ist. Ich bin mir auch völlig im Klaren darüber, dass längst nicht alle in den Werkstätten wirklich im Vergleich dieselbe Arbeit wie ein Nichtbehinderter leisten. Da ich einige Jahre mit körperlich und geistig Behinderten zusammengelebt habe, weiß ich, wie problematisch das sein kann. Was ich aber nicht verstehe, ist, wenn diese Behinderten soviel Gewinn erwirtschaften, warum muss dann der Staat Mietzahlungen, Grundsicherung etc. leisten?
Essen in der WfbM
Ich bin schon vor längerer Zeit auf Berichte in den verschiedenen Social Media Kanälen gestoßen, dass es mit dem Essen in den Werkstätten schon problematisch sein kann.
So müssen die Behinderten zum Teil offenbar 2 € für ein Mittagessen bezahlen, verdienen aber nur 2 € pro Tag. Illustriert wurde das Ganze mit Bildern.
Ich habe das eine Weile verfolgt, weil Essen ist etwas Essenzielles. Hier kann und darf man nicht sparen. Klar kann ein Kantinenessen auch mal Mist sein. Nicht jeder Koch ist ein guter Koch. Aber die Häufung war schon auffällig und die dazugehörigen Bilder waren, na ja, wow.
Ein paar Beispiele:
Ich habe bewusst darauf verzichtet, die Social-Media-Accounts zu nennen. Denn ich glaube nicht, dass ich denen damit einen Gefallen tue. Ich habe gelesen, was sich da teilweise abgearbeitet wurde. Das braucht niemand.
Um das nochmal klarzustellen. Ich glaube nicht, dass es in jeder WfbM so aussieht. Dass es sich dabei allerdings nur um „Einzelfälle“ handelt, glaube ich auch nicht. Und nein, ich kann nicht bei jedem Bild beweisen, dass es sich dabei tatsächlich um Essen aus einer WfbM handelt. Wenn aber die Betroffenen aufgefordert wurden, die Bilder zu löschen, weil das ja so gar nicht wäre, nun ja. Vielleicht helfen die ebenfalls gezeigten Kommentare ja, zu verstehen. Und ich bin ganz sicher, dass es da wesentlich schlimmere gab.
Schule und Weiterbildung
Ein weiteres Problem sind Schulen und Lehrende. Der Umgang mit Behinderten erscheint mir eher suboptimal. Was ich speziell in diesem Bereich alles lese, ist mehr als erschreckend. Probleme mit den Stundenplänen, die auf körperliche Gegebenheiten keine Rücksicht nehmen, Lehrer, die Behinderte am liebsten sofort in eine Werkstatt abschieben würden, weil das ja eh nichts bringt und vieles in dieser Art mehr. Ich glaube, dass Schulen zuerst alle Möglichkeiten ausschöpfen müssen, bevor man jemand in eine WfbM schickt. Denn, aufgrund der Gewinnorientierung, die ja vorgeschrieben ist, sind genau die Mitarbeiter, die auch im normalen Arbeitsmarkt arbeiten könnten, ja die Grundlage der Werkstatt für Ihren Gewinn. Und verständlich klein ist ihr Interesse an einem Wechsel des Arbeitnehmers. Und so wechseln den auch man gerade 0,6 %. [3]
Fazit
Die EU hat beschlossen, dass die Werkstätten wegmüssen. Nach der UN BRK, der UN Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2008 ratifiziert (Die Ratifikation ist ein juristischer Fachbegriff, der die völkerrechtlich verbindliche Erklärung der Bestätigung eines zuvor abgeschlossenen, d. h. unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrages durch die Vertragsparteien bezeichnet) hat, hätte es die Werkstätten eh nicht geben dürfen.
Vielleicht ist es an der Zeit, endlich mal den Schwächsten zu helfen. Uns als Homo sapiens zu erweisen und nicht als Tier. Wir können mehr, unsere Gesellschaft kann mehr. Auch die Piratenpartei darf dabei gerne etwas lauter sein, als sie das derzeit ist. Um der Geschäftemacherei auch in diesem Bereich ein Ende zu bereiten!
Hier noch eine Petition, die den Mindestlohn fordert: https://www.change.org/p/olafscholz-stelltunsein-ich-fordere-den-mindestlohn-f%C3%BCr-menschen-in-behindertenwerkst%C3%A4tten
Ullrich Slusarczyk
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Werkstatt_f%C3%BCr_behinderte_Menschen
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Von_Bodelschwinghsche_Stiftungen_Bethel
[3] https://www.dw.com/de/deutschlands-heikler-umgang-mit-behinderten-werkst%C3%A4tten/a-56924837
Redaktionsmitglied Ullrich Slusarczyk
1963 in West-Berlin geboren. Jetzt in Hannover. Sehr viel gemacht im Leben und sehr viel gesehen. Schreibe gerne. Bin für direkte Sprache bekannt, manchmal berüchtigt. Halte nichts davon, Fakten auf einem DIN A4 Blatt breitzutreten, wenn das Wort „Idiot“ ausreicht. Schreibe jetzt hier die Kolumne hauptsächlich. Meine Themen sind: Gesundheit, Digitalisierung, Urheberrecht und Energie. Ich bin kein Wissenschaftler, logisches Arbeiten und Denken ist mir aber nicht fremd. Bin ein Wissenschaftsfan. Lese Science Fiction. Habe Karl May gelesen, aber auch Antoine de Saint-Exupéry oder Stanislav Lem.
Das so wenige in den 1. Arbeitsmarkt, gerne in gGmbH’s wechseln, mag auch daran liegen das weder Betreiber noch Mitarbeiter der WfBM ein Interesse daran haben, behinderte für diesen zu befähigen.
Denn das würde ihre WfBM überflüssig machen und den eigenen Job kosten.
Angeblich sinkt auch die Zahl der von Geburt an Behinderten aufgrund des med. Fortschrittes.
Die Diskussion um Behindertenwerkstätten kommt mir irgendwie immer zu neoliberal geprägt vor.
Inklusion mit der Brechstange, egal ob es Sinn ergibt oder die Person es will. Denn wie viele wollen überhaupt auf den 1. Arbeitsmarkt? Wie viele könnten auf dem 1. Arbeitsmarkt lange durchhalten?
Das scheint irgendwie keinen Aktivisten, egal ob behindert oder nicht-behindert, zu interessieren.
Darum hoffe ich sehr, dass die EU zur Vernunft kommt und die Werkstätten doch nicht abschaffen will.
Da sie ja ganz offensichtlich fordern, dass die Werkstätten bleiben sollen, bedeutet das ja wohl, dass sie wissen, wie viele auf den 1. Arbeitsmarkt wollen bzw. können? Dann lassen Sie uns doch mal teilhaben an Ihrem Wissen!