Ein Gastkommentar von RA Prof. Dr. Andreas Gran, LL.M.
Die sog. Antifa Ost – Verfahren führen das Spannungsverhältnis unseres Rechtsstaats vor Augen
Nach unserem Grundgesetz haben wir das Recht auf Widerstand – samt im äußersten Fall Gewaltanwendung – gegen jede und jeden, die oder der es unternimmt, unsere demokratische Ordnung zu beseitigen, Fundstelle: Artikel 20 GG. Dass dies aber kein Aufruf zur Selbstjustiz nach eigenem Gutdünken sein darf und auch nur für diejenigen gilt, die unsere Demokratie schützen wollen, hat sich nun in Gerichtsverfahren gezeigt, die gegen sog. Antifaschistinnen und Antifaschisten in den „neuen Bundesländern“ mit weitreichender Beachtung geführt werden. Im Kern geht es um die Verurteilung einer Gruppe um eine junge Frau namens Lina E., die Erziehungswissenschaften studiert hatte, offenbar der sog. Antifa (Antifaschistische Aktion) zugerechnet wird und nach Überzeugung des Gerichts mit zentraler Rolle bei massiven Übergriffen gegen Rechte beteiligt gewesen sei. Im Raum standen nicht nur konkrete Körperverletzungen, sondern der strafrechtlich viel tiefer greifende Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Hier geht es nun allerdings nicht um eine juristisch fundierte Prozesskritik, denn für seriöse Urteilsanalyse sind ein vertiefter Einblick und grundsätzlich Aktenkenntnis unerlässlich, wohl aber um einen allgemeinen ethischen Standpunkt zur Wehrhaftigkeit unserer Gesellschaft, also um Gedanken für und wider rechtlicher Sanktionierung.
Um es ganz klar zu betonen: Natürlich kann politisch motivierten gewalttätigen Aktionen nicht zugesehen werden, da sich die Fronten sonst verhärten und Gewaltbereitschaft hochschaukeln können. Wenn mehrere Angreifende einen oder einige körperlich misshandeln, ist das mit sozialer Gesellschaftsanschauung einfach nicht unter einen Hut zu bringen. Es war doch gerade ein Aufeinanderprallen gewaltbereiter politischer Gegnerinnen und Gegner in der Weimarer Republik, was den innigen Wunsch nach autokratischer Ordnung zur Überwindung der gesellschaftlichen Unruhen hat laut werden lassen. Die Straßenkämpfe der 30er Jahre haben den Faschismus erst bei vielen Ordnungsliebenden gesellschaftlich verankert, neben der damaligen Brutalität der SA. Es ist also zumindest im bürgerlichen Milieu kontraproduktiv, wenn durch Selbstjustiz der Sehnsucht nach einem „starken“ – oder vermeintlich „männlichen“ – Staat Wasser auf die Mühlen gekippt wird und sich die Angegriffenen als Opfer fühlen dürfen, was sie in diesem Fall auch tatsächlich sind. Angesichts der „Kräfteverhältnisse“ in Ostdeutschland ist es auch nicht besonnen. Die Aktionen dürften ebenso wenig gesellschaftlichen Rückhalt finden, wie die sog. Klimakleber, bewirken allerdings zumindest öffentliche Wahrnehmung der Probleme, jedoch nicht positiv. Dass der politische Gegner so eine Bühne bekommt, ist auch nicht von der Hand zu weisen.
Strukturierte, gemeinschaftliche Selbstjustiz kann nicht auf die leichte Schulter genommen werden, auch nicht als Reaktion auf vorausgegangene Angriffe Rechter. Wir haben keine Gesellschaft, bei der solidarische Kräfte stark genug wären, um Ordnungsstrukturen ohne jede Obrigkeit zu ermöglichen. Trotz des durchaus berechtigten Anliegens des Rechtsstaats zur Sicherung von sozialem Frieden ohne Gewalteskalation, muss das konkrete Risiko aber angemessen in seiner Bedeutung gewichtet werden. Dass der sog. NSU Unschuldige liquidiert hat und dass sog. Reichsbürger möglicherweise einen Putsch planen, ist mit den Taten in diesen Verfahren nach verfügbarer Berichterstattung nicht auf eine Stufe zu stellen.
Schaut man besorgt in die Vergangenheit in Richtung der eskalierenden RAF-Gewalt, müsste auffallen, dass diese realen Terroristinnen und Terroristen nicht gezielt gegen politische Gegner vorgingen, sondern unentschuldbar gegen Feindbilder im verhassten Kapitalismus. Dass Linke in der Regel eher kritisch gegenüber Obrigkeit sind, spricht auch nicht gleich für eine „geführte“ kriminelle Vereinigung, sondern für unkoordinierte emotional aufgeheizte Einzelaktionen. Ein Vertrauen verdienender Rechtsstaat sollte überdies selbst eingreifen, bevor in Kreisen der Eindruck entsteht, er sei „auf dem rechten Auge blind“. Dass die stärkste Bedrohung unserer Gesellschaft der Rechtsextremismus ist, räumt sogar unsere Innenministerin ein. Im Ergebnis ist gleichwohl eine Sanktionierung zum Schutz der Demokratie naheliegend.
Es schließt sich die Frage nach der Strafwürdigkeit der Beteiligten an, die hier gegen diesen Selbstschutz der Demokratie verstoßen hatten. Was die individuell strafrechtliche Bewertung anbelangt, so ist nämlich anderseits stets zu hinterfragen, ob ein sog. Rechtfertigungsgrund vorliegt, also u. a. eine Notwehrlage. Dazu gilt nämlich der Grundsatz „Recht muss dem Unrecht nicht weichen“, mit staatlicher Billigung der Gewaltanwendung, übrigens sogar dann, wenn die Bedrohungslage falsch eingeschätzt wird (sog. Putativnotwehr) und wenn die Notwehrhandlung ausufert (sog. Notwehrexzess), bis hin zu Kombination von beidem, und dann heißt das auf juristisch „Putativnotwehrexzess“. Selbst wenn dies fehlt, ist bei der subjektiven Schuld stets zu bedenken, was Täterinnen und Täter antreibt. An dieser Stelle sind die Abscheu gegenüber und Angst vor einer faschistischen Autokratie ein menschlich nachvollziehbares und im Grundsatz zunächst empathisches Motiv, und zwar ein solches, wie es in unserem Grundgesetz niedergeschrieben ist.
Somit muss es beim Strafmaß berücksichtigt werden, wenn jemand es als unerträglich empfindet, dass menschenverachtende Motivationen ausgelebt werden, wenn junge Menschen, die sich sozial engagieren, kaum ertragen, dass (nach deren Empfinden) unser Rechtsstaat nicht ausreichend handelt, und vielleicht sogar missverstanden wird, was mit dem „Widerstandsrecht“ der Deutschen konkret gemeint war und ist. Heute wünschten wir, vor 90 Jahren wäre mehr Widerstand geleistet worden. Dieser Widerstand darf aber nicht solchen einzelnen Aktionen überlassen bleiben, sondern muss in Breite unsere Gesellschaft durchfluten und mit politischem Diskurs, Wachsamkeit der Medien, intensiver Bildung, individueller Zivilcourage, besonnenem Rechtsstaat usw. alltäglich gelebt werden. Dazu zählt, auch wenn es unsagbar schwerfallen mag, nicht zuletzt der Dialog mit dem politisch Andersdenkenden, denn gesellschaftliche Anschauungen können sich ändern und überwunden werden. Dialogbereitschaft kann eine stärkere Waffe sein. Wegen des Ansehens dieses Landes im Ausland haben wir alle hier eine Verantwortung, die Entwicklungen zu verfolgen und Wege zu finden, um Eskalation politischer Gewalt einzudämmen.
Fazit:
Unser Rechtsstaat darf und muss klare Grenzen bei politisch motivierter Gewalt setzen. Aber eine politische Gesinnung, die sich gegen eine faschistische Autokratie richtet, kann strafmindernd berücksichtigt werden. Und das, ohne dass der Respekt vor dem Gewaltmonopol dadurch entfiele, sondern vielmehr als Zeichen für eine Annäherung aller Beteiligten. Hingegen wäre allzu viel Härte eher Ausdruck von Autorität, die in einer sozial geprägten Demokratie zwar erforderlich, aber stets kritisch zu hinterfragen ist.