In unserer digitalen Welt sind soziale Medien und Messenger zum Herzstück der politischen Kommunikation geworden. Plattformen wie Facebook, X, Instagram und andere bieten Vernetzung und Raum für Debatten. Doch neben strafbarem Verhalten (Beleidigung, Bedrohung, Doxing etc.) gibt es ein Phänomen, das man eher aus Diktaturen kennt: Bekenntniszwang.
Bekenntniszwang beschreibt den Druck, öffentlich eine bestimmte Meinung oder Zugehörigkeit zu äußern. Er bedroht die individuelle Freiheit, fördert Konformität und unterdrückt abweichende Meinungen. Genau wie in Diktaturen hat das gravierende Folgen für die persönliche Freiheit der Nutzer.
Durch den Bekenntniszwang wird die Meinungsfreiheit nicht selten eingeschränkt. Menschen fühlen sich genötigt, bestimmte politische Ansichten öffentlich zu äußern, was zur Verstellung oder Anpassung ihrer tatsächlichen Überzeugungen führt – vor allem, um negative Reaktionen oder Isolation zu vermeiden. Ein weiteres Problem ist Selbstzensur, um Mobbing, Hasskommentaren oder anderen negativen Konsequenzen zu entgehen. Hinzu kommt die reale Gefahr, dass, wer sich weigert die politischen Überzeugungen der Gruppe öffentlich zu teilen, stigmatisiert oder sozial isoliert wird.
Der Zwang, persönliche politische Überzeugungen öffentlich zu machen, beeinträchtigt auch die Privatsphäre. Menschen haben das Recht, ihre politischen Überzeugungen privat zu halten, doch der Bekenntniszwang untergräbt dieses Recht und führt zu ungewollter Offenlegung persönlicher Überzeugungen, was zu negativen Konsequenzen führen kann – nicht nur bei der Jobsuche.
Bekenntniszwang „von oben“
Die Auswirkungen des Bekenntniszwangs in den sozialen Medien ähneln den Ängsten, die Menschen in totalitären Regimen erlebten. In der NS-Diktatur war die öffentliche Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie Pflicht und wurde rigoros überwacht, abweichende Meinungen wurden nicht toleriert und hart bestraft – oft mit dem Tod. In der DDR kontrollierte die SED-Diktatur die Meinungsäußerung streng, die Teilnahme an Parteiveranstaltungen war de facto Pflicht und wurde als Zustimmung zur Partei gewertet. Kritiker des Regimes wurden überwacht, diskriminiert und inhaftiert – mit schweren persönlichen und beruflichen Konsequenzen.
In Russland, China, Kuba, Iran, Saudi-Arabien, Togo etc. ist ein Bekenntniszwang gang und gäbe, teilweise aus ideologischen Gründen, aber immer als Instrument einer Gewaltherrschaft.
Bekenntniszwang „von unten“
Für politisch aktive Menschen ist es schwieriger geworden, ihre Meinung offen zu äußern. Denn in freien, demokratischen Systemen kann es paradoxerweise dennoch zu einem Bekenntniszwang kommen. Dieser Zwang entsteht nicht durch gesetzliche Vorgaben oder staatliche Repression, sondern durch gesellschaftlichen und sozialen Druck. Hier sind einige Mechanismen, durch die ein solcher Zwang entstehen kann:
- Öffentliche Meinung: Medien können die öffentliche Meinung stark beeinflussen. Themen und Meinungen, die von den Medien als wichtig oder akzeptabel dargestellt werden, setzen Standards für gesellschaftliche Normen. Wer sich diesen Normen widersetzt, riskiert, sozial isoliert oder diffamiert zu werden.
- Social Media: Auf Social Media Plattformen kann es zu einem enormen Druck kommen, sich öffentlich zu bestimmten Themen zu bekennen. Personen, die von der Mehrheitsmeinung abweichen, können Ziel von „Cancel Culture“ werden, bei der sie öffentlich kritisiert und oft boykottiert werden.
- Beruflicher Druck und Arbeitsplatzsicherheit: In manchen Arbeitsumfeldern wird erwartet, dass Mitarbeiter bestimmte Werte oder Überzeugungen teilen. Wer diese nicht teilt oder nicht öffentlich bekundet kann Gefahr laufen Karrierechancen zu verlieren oder sogar entlassen zu werden. Dies gilt insbesondere in „jungen, hippen“ Unternehmen.
- Bildungssystem: Schulen und Universitäten haben oft ihre eigenen ideologischen Prägungen. Studenten und Schüler, die von diesen Prägungen abweichen, können akademische Nachteile erleben oder sozial ausgegrenzt werden. Beispielsweise Ge- oder Verbote zum Sprachgebrauch oder Kleidungsstile.
- Gruppenzwang und Konformität: Menschen haben ein natürliches Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein und von dieser akzeptiert zu werden. Dieses Bedürfnis kann dazu führen, dass sie Meinungen und Überzeugungen annehmen, die sie eigentlich nicht teilen, um nicht aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.
- Moralische Überlegenheit und Tugendhaftigkeit: In einigen gesellschaftlichen Kreisen herrscht eine Atmosphäre, in der bestimmte Überzeugungen als moralisch überlegen gelten. Menschen fühlen sich unter Druck gesetzt, sich diesen Überzeugungen anzuschließen, um als moralisch integer zu gelten – andernfalls folgen Ausgrenzung oder Mobbing.
Auch ich, der normalerweise kein Blatt vor den Mund nimmt, bin vorsichtiger geworden, da es Menschen gibt, die jede Gelegenheit nutzen, um Aussagen falsch auszulegen. Ja, leider auch – wie in jeder sozialen Gr0ßgruppe – in einem Flügel meiner Partei.
Bekenntniszwang verhindert definitiv wichtige Diskussionen und schwächt die demokratische Kultur, die auf offenen und ehrlichen Dialog angewiesen ist. Er führt zu einer einseitigen und verzerrten Wahrnehmung und Darstellung der Realität, entweder innerhalb einer Bubble (oder eines Flügels) oder in einer gesellschaftlichen Gruppe (z.B. Querdenker, MLPD etc.). Der Druck, sich der Mehrheitsmeinung anzupassen, führt zu oft dazu, dass Menschen ihre individuellen Überzeugungen aufgeben oder verschweigen. Es fördert Konformität und kann die Freiheit anders zu denken erheblich einschränken. Besonders belastend: Die persönliche Integrität wird oft zugunsten sozialer Akzeptanz geopfert.
Persönliche Empfehlung: Wer Bekenntniszwang ausübt, egal aus welcher Richtung er kommt, hat keine demokratische Gesinnung – von so jemanden sollte man sich, außer wenn eine gesittete Diskussion doch irgendwie möglich sein sollte, aus hygienischen Gründen tunlichst fernhalten.
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂
Hat es auch vor Social Media schon gegeben. In der Französischen Revolution hat Maximilien de Robespierre eine Diktatur der Moral und Tugendhaftigkeit errichtet. Wer kein guter moralischer Mensch war wurde dann hingerichtet, Kopf ab. Ähnlich haben dann die „Roten Garden“ im kommunistischen Chinas Mao Zedongs während der Kulturrevolution gewütet.
Im grunde ist es gut ein guter Mensch zu sein nur nicht alle Menschen welche sich sehr offensiv als „Gutmenschen“ vermarkten sind das auch. Das sollen die beiden historischen Beispiele zeigen.
Heute herrscht ja u.a an den Universitäten Angst, viele Wissenschaftler meiden Forschungsthemen die teilen der „woken“ bubble widersprechen könnten. Irrer weise sogar bei Naturwissenschaftlichen Themen usw. Was auf der Strecke bleibt ist dann die offene, demokratische Debatten Kultur. Wer sich z.B. heutzutage offen als Jude und pro Israel an vielen Unis ausgibt ist seines Lebens ja auch net mehr sicher.
Wie sollen Studenden gute Demokraten werden wenn an den UNIs selbst die Freiheit zunehmend unter die Räder kommt ?
Guter Beitrag.
Als Musiker kenne ich das ganz gut. Ständig wird gefragt, wie man zu diesem oder jenem steht und während ich da als Privatperson mitunter durchaus Meinungen habe und diese auch teile, so tue ich dies auf den Künstleraccounts auf Plattformen, auf denen ich nur als Künstler unterwegs bin, eben nicht. Diese dienen einzig und allein der Vergrößerung meiner Reichweite als Künstler. Dennoch, es wird erwartet, dass ich auch als Künstler eine Ansicht habe und diese vertrete. Warum? Kunst ist Kunst.
Tatsächliche, echte Unterhaltung, die mir neulich auf Social Media auf einem meiner Künstleraccounts aufgedrückt wurde:
Dude: „Ich mag deine Musik.“
Ich: „Danke, das freut mich zu hören.“
Dude: „Ja Mann, aber ich verstehe die Aussage nicht.“
Ich: „Welche Aussage?“
Dude: „Na die politische Aussage. Ich finde da keine. Das verstehe ich nicht.“
Ich: „Da ist ja auch keine drin.“
Dude: „Aber warum machst du dann Musik?“
Ich: „Weils Spaß macht. Und weil das Ergebnis Menschen gefällt.“
Dude: „Hä?“
Leute, nicht alles muss eine politische Aussage haben. Manches macht auch einfach nur glücklich oder traurig oder macht sonst was mit Einem, wenn man es hört, liest, sieht, etc. Das ist ok. Kunst darf auch einfach nur mal gefallen. Sie muss nicht zwingend politisiert werden.
Ein paar Anmerkungen, Hinweise und konstruktive Kritik:
1. Selbst wenn du kategorisch zwischen staatlicher und sozialer Repression unterscheidest, so suggeriert die Wahl deiner Absätze, dein Layout und die Gedankenstruktur, dass Unterdrückung von Meinungen unter Androhung oder Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols mit dem sozialen Phänomen des Shitstorms und „Cancel Culture“ gleich schwer wiegen würden.
1.1 Rhetorisch machst du die Unterscheidung ja, aber das wird nur einer kleinen Leserschaft auffallen / im Gedächtnis bleiben. Das Gros deiner Rezipientis wird in die Schwurbler-Falle laufen und den Fortschrittsdruck der Zivilgesellschaft mit staatlichen Hoheitsakten gleichstellen.
1.2 „Die da oben!“, das „Establishment“ „zwinge“ jetzt alle zum „Gendern“, „verbiete das Schnitzel“, schaffe meine Heizung ab (so, dass „ich frieren müsse“) und „klaut“ mir mein (Verbrenner-)Auto!
1.3 Merkt ihr was?
Ein paar der eben genannten Beispiele sind staatliche Hoheitsakte (Gesetze) und ein paar der Beispiele sind „nur“ gesellschaftlich bedingte Veränderungen von Konventionen und Umgangs-Normen. Hättet ihr einen Unterschied daraus gemacht? Wohl eher nicht. So geht es zumindest den meisten, die sich wenig(-er) mit Politik im Detail beschäftigen. Alles was hängen bleibt ist Repression. Von egal wem, egal wie. Hauptsache dagegen sein. Das ist die Diskussionskultur der USA, die wir heute erleben. Befeuert durch die Neue Rechte (Populisten) und Alt-Linken, wie Wagenknecht (BSW).
2. Konformität und Meinungspluralität sind nicht zwingend ein Gegensatz.
2.1 Parteien (auch die Piraten) leben von unterschiedlichen Meinungen innerhalb der eigenen (sozialen, im Falle von Parteien auch juristischen) Gruppe. Wir streiten (demokratisch, sachlich) um die Details zu einzelnen Positionen. Du, Sperling, z.B. bist bedingt durch deine Sozialisation gewiss in manchen Ansichten ein Produkt deiner Generation, deines kulturellen und sozialen Umfeldes, des Zeitgeistes in dem du aufgewachsen bist und deiner (negativen) Erfahrungen. Das gilt natürlich für uns alle. Auch die „jungen“ und „linken“, die vlt. eher was mit dem „woken Scheiß“ anfangen können.
2.2 Peer-Pressure ist nicht zwingend etwas schlechtes. Wer die eigene Gedankenstruktur und Weltanschauung auf Empathie und Emotionen aufbaut (Typ-Frage) wird derartige soziale Phänomene brauchen, um in unserer Gesellschaft durch den Tag zu kommen. Ich weiß, du Sperling, willst auf die Aufklärung, auf sapere aude, Non-Konformismus und Authoritätskritik hinaus. Bei einigen rationaler gestrickten Menschen, die Argumente über alles stellen und zu ambivalenten Positionen neigen mag das auch wirken. Einige andere verlierst du mit deinem Text aber an verschwörungsideologische, fundamentalistische und politisch extremistische Rattenfänger.
2.3 Cancel Culture kann auch konstruktiv und notwendig sein.
2.3.1 Gerichte „canceln“ tagtäglich die Karriere und den Ruf von Menschen – auch öffentlich durch Pressemitteilungen. Selbiges gilt für gut recherchierten, fundierten, seriösen Investigativjournalismus. Meinungsblogger (sogenannte Influencer) zerlegen auf Social Media regelmäßig die perfiden Maschen und Argumentationsmuster von noch viel unseriöseren Figuren des Öffenlichen Lebens. Dabei müssen hin und wider auch Karrieren und Images von Menschen dran glauben (z.B. erst Andrew Tate vs. Greta Thunberg, dann Greta Thunberg vs. Israel).
2.3.2 Rezo hat vor 5 Jahren massiv zum damaligen und heutigen Erfolg der politischen und zivilgesellschaftlichen Grünen (FFF, Extincion Rebellion, Greenpeace, „Klimakleber“, usw.) beigetragen. In seinem „Die Zerstörung der CDU“ hat er alle Mechaniken des „Canceln“ genutzt und sich bewusst seiner Reichweite (-> Shitstorm) bedient. Was der Unterschied zu „toxischer“ Cancel Culture ist? Ganz einfach. Fakten, Quellen, Belege. Rezo stellte nicht einfach neue Vorwürfe in den Raum und griff so die Unschuldsvermutung an. Nein. Ein Rezo stellte lediglich altbekanntes zusammen, strukturierte und schuf rhetorisch und emotional einen Kontext, der in der Breiten Masse der Bevölkerung so geistig noch nicht ins Gedächtnis gerückt war. Im Grunde wie die in 2.3.1 genannten staatlichen Akteure. Mit dem Unterschied: Rezo ist eine Privatperson und nicht der Staat. Hat es der CDU/CSU geschadet was Rezo damals gemacht hat? Jein. Ist das legal was er gemacht hat? Definitiv! Ist das „Cancel Culture“? Per Definition: Ja. Toxisch und destruktiv? Auf keinen Fall! Wenn die Union nicht kritisiert werden will, muss sie eben bessere Politik machen.
3. WAS du sagst mag richtig und wichtig sein. WIE du deinen Kommentar aufbaust führt aber leider zu einem von dir ungewünschten Ergebnis. Ich persönlich hätte mir jedenfalls ein bisschen mehr Ambivalenz in deinem Text gewünscht.
Hi Leon, dann schreibe selbst einen Artikel in dem du Konformitätsdruck und mobbing bei diskonformität als etwas positives darstellst. Ich empfinde das als zutiefst undemokratisch.