Neumünster, kreisfreie Stadt mit gut 75.000 Einwohnern in Schleswig-Holstein. Obwohl ohne Hafen, weder zur Nord- noch zur Ostsee raus, legt dort das mittlerweile auf stolze, weit über 25.000 Crew-Mitglieder gewachsene Piratenschiff zum 10. Bundesparteitag an.
Im Vorfeld erfahren die Piraten angesichts stark wachsender Umfragewerte eine noch nie dagewesene Dauermedienaufmerksamkeit. Hat man sie bis vor kurzem noch als niedliche Polit-Amateure überaus wohlwollend beurteilt, dringen zunehmend auch kritische Kommentare an die Wasseroberfläche: Man wirft ihnen vor, die Segel in alle möglichen Richtungen zu setzen, dass sich ihr Schiff eher um sich selbst dreht und keine eindeutige Richtung erkennbar sei. Es gab Probleme auf Steuerbordseite (für Landratten: rechts), weil dort bei der Wortwahl manchmal in die falsche Kiste gegriffen wurde. Selbst in den Fällen, in denen den Verfassern dieser Worte nicht vorgeworfen konnte, dass sie auf extremer Steuerbordseite rudern, lösten sie Medienreflexe aus. Und auch von den etablierten Fregatten wird inzwischen schärfer geschossen. Die dortigen, eloquenten Phrasendreschakrobaten fürchten, dass ihnen nachhaltig Wasser abgegraben wird und so nehmen sie zunehmend auch Anti-Piraten-Textbausteine in ihre Gebetsmühlen auf.
Nichtsdestotrotz – ich bin gespannt, was mir als Erstbesucher eines Piraten-Parteitages geboten wird. Im Vorfeld der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein fällt in der Stadt eine durchaus starke und ansprechende Plakatierung auf, die phantasievoller gestaltet ist als die aussagelosen Personenkonterfeis, die man schon seit Jahren kennt.
Was erwartet mich an so einem Parteitag, der ich doch solche Polit-Veranstaltungen nur aus dem Fernsehen kenne? Gibt es einen Türsteher, der sich mit verschränkten Armen und Augenklappe vor dem Eingang aufbaut und sagt: “Du kummst hier net rein!”? Nein – die Akkreditierung läuft reibungslos, was man von einer “Internet-Partei” mit vielen Technik-Freaks, so das gängige Klischee, auch erwarten kann. Gibt es genug Sitzplätze in der für 2.000 Personen ausgelegten Holstenhalle? Oder treffen alle gut 14.000 stimmberechtigten Mitglieder zum basisdemokratischen Happening ein und es geht zu wie in einer Sardinenbüchse? Auch diese Befürchtung trifft nicht ein – eine durchaus artgerechte Haltung von Seeleuten und Journalisten ist gewährleistet und auch das kann man ja auch erwarten, wenn sich die Piraten Schleswig-Holsteins beispielsweise gegen industrielle Massentierhaltung in der Agrarwirtschaft positionieren. – Ja, das ist wohl so: Entgegen weit verbreiteter Vorurteile, teilweise aus den eigenen Reihen genährt: Piraten gibt es auch mit Programm und Inhalt.
Es kann also losgehen. Bewaffnet mit einer Ja- und einer Nein-Stimmkarte und einem Stimmzettelblock suche ich mir einen Platz als Hinterbänkler und nehme mir vor, einfach nur zu beobachten. Deshalb gibt es an dieser Stelle keine chronologische Wiedergabe der Ereignisse – die lässt sich ohnehin sehr zeitnah aus Protokollen und Medienberichterstattung entnehmen. Mich interessieren eher Stimmungen, Begleiterscheinungen, Auffälligkeiten während und am Rande der Veranstaltung.
Sofort fällt natürlich auf: Die Piraten stehen absolut im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Kameras und Kamerateams, wo man nur hinschaut. Alles, was als Fernseh- und Nachrichtensender Rang und Namen hat, hat sich aufgebaut und berichtet live und direkt. In einer Partei, die anders sein will als die anderen, ist diese hohe Medienpräsenz natürlich Gegenstand von Diskussionen: Sind Presse, Funk und Fernsehen Freunde oder Feinde der Partei? Wahrscheinlich sind sie das, was sie sein sollen: relativ neutrale Beobachter des Geschehens. Darauf wird im einen oder anderen Redebeitrag auch hingewiesen, auch wenn sich einige zurecht in der Ausübung des Rechtes auf geheime Wahlen beim Wählen “aufgezeichnet” fühlen.
Weiter fällt natürlich das ungewöhnliche Outfit vieler Teilnehmer auf und man fühlt sich an die Anfänge der Grünen erinnert. Allerdings: Piratenshirts statt Pullover, Laptops statt Strickzeug, Orange statt Grün, Segel statt Sonnenblumen und in der Kombüse Pommes statt Müsli. Kurz: die konservative Oma haut es aus dem Ohrensessel, wenn sie das im Fernsehen sieht und ich hör sie schon lamentieren “Nee, nee, nee – so was hat es früher nich jejeben!”
Wollen wir hoffen – und deshalb ist ja auch der Autor Mitglied in diesem Verein geworden – dass die Piraten nicht denselben Weg der Grünen gehen werden und nach wenigen Jahren zum Establishment gehören, das viel verspricht und wenig hält. Auf dass sich dem nachdenklichen Wähler nicht wieder der Griffel angewidert in der Hand verbiegt, wenn dieser ihn zwingt, sein Kreuz zu machen.
Doch zurück zum Parteitag: Ein Grundprinzip der Piraten lautet ja auch “Themen statt Köpfe”, “Inhalte statt Personenkult”. Das lässt sich aber dann doch nicht durchgehend einhalten. Warum auch, wenn der-/diejenige auf dem Teppich bleibt. Exemplarisch dafür tritt gleich zu Beginn mit Marina Weisband eines der wohl bekanntesten “Gesichter” der Piraten auf und wünscht der Basis, sich einen “geilen Vorstand” zu wählen. Sympathisch auch ihre Worte: “Wir wollen der Gesellschaft ein Angebot machen…”, das sie annehmen, aber auch ablehnen kann. Wohltuend anders als Sätze von egozentrischen Politprofis. Die meinen, alleinige Inhaber der richtigen Konzepte zu sein und den Wähler für dumm erklären, wenn er sich nicht dafür entscheidet.
Und dann geht sie los, die “Tortur der Basisdemokratie”. Eine Orgie von Geschäftsordnungs- und Satzungsänderungsanträgen, -debatten und – abstimmungen, Kandidatenvorstellungen und -befragungen, Wahlgängen, Auszählungen, mitunter auch Pannen und Wiederholungen nimmt ihren Lauf. Teilweise verlässt das Auditorium die Konzentration und es verliert sich in gruppeninternen Diskussionen – eine Art Bierzeltatmosphäre entsteht, die immer mal wieder zur Ordnung ermahnt werden muss. Aber ich stelle fest: Die Organisatoren haben es im Griff und navigieren die vitalen Piraten geschickt durch die demokratische See. Und ich, das einfache Mitglied, darf durch Heben der Stimmkarte meine Meinung dazu abgeben, ohne dass ich dazu delegiert werden muss, ohne dass ich mich einer “Meinungsvorgabe” anzuschließen habe, sondern einfach so… Paradiesische Zustände für den Anhänger der direkten Demokratie. Und zumindest auf dieser Ebene funktioniert es.
Mittendrin in der Veranstaltung dann ein Ausrufezeichen. Wieder scheint in Zusammenhang mit der empfindlichen Steuerbordseite eine ungeschickte Formulierung gegenüber Medienvertretern für Wirbel zu sorgen. Der Vorstand reagiert schnell, arbeitet eine Erklärung aus, legt sie mit klaren und bestimmten Worten der Basis zu Abstimmung vor und bekommt das entsprechende Votum. Endlich geht vom Parteitag das Signal aus, nach dem die Öffentlichkeit in den letzten Tagen so gelechzt hat.
Bei Reuters liest sich das so: “Die über 2000 Mitglieder des Parteitags in Neumünster verabschiedeten am Samstag ohne Gegenstimme eine Resolution gegen die Verharmlosung des Massenmordes an Juden während des Zweiten Weltkriegs. “Der Holocaust ist unbestreitbarer Teil der Geschichte. Ihn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit zu leugnen oder zu relativieren, widerspricht den Grundsätzen der Partei”, heißt es in dem Beschluss.” Danach kommt es zu den Wahlen der neu zu besetzenden Ämter, die sich bis in die Abendstunden hinziehen. Basisdemokratie verlangt Durchhaltevermögen, Langmut und Ausdauer – das ist der Preis dafür, dass ein Parteitag nicht zur reinen “Abnickveranstaltung” degeneriert, in dem von Elitezirkeln im Hinterzimmer vorbereitete Ergebnisse bestätigt werden (sollen).
Sichtbares Zeichen dafür: Die Dynamik an der Kandidatenfront. Wenn man denkt, man hat sich auf den Internetseiten ausreichend darüber informiert, wer kandidiert und warum, wird man spontan eines Besseren belehrt: Bis kurz vor “Annahmeschluss” gibt es Rückzüge und Neukandidaturen. Aber: der Wähler hat in des Wortes bestem Sinne eine Wahl, im Falle des Vorsitzes die Wahl aus acht Kandidaten. In welcher anderen Partei gibt es das? Man kann darüber diskutieren, ob es fair und angemessen ist, schon während der Kandidatenvorstellungen Unmutsäußerungen mehr oder weniger drastisch zum Ausdruck zu bringen. Der Evergreen der philosophischen Fragen, wo Toleranz ihre Grenzen hat, kommt immer wieder auf – das mehrfach erwähnte Steuerbordproblem lässt auch hier wieder grüßen.
Ohne weiter auf das Wahlprozedere einzugehen, betrachte ich gleich das Wahlergebnis unter dem Aspekt “Schwarmintelligenz”. Dieser Begriff wurde ja in den letzten Wochen ebenfalls ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert und beinhaltet kurz zusammengefasst die These, das eine große Anzahl Indiviuden in Summe intuitiv immer die beste Entscheidung trifft. Wenn es eines Beleges für diese These bedarf, dann kann man dafür das Vorstandswahlergebnis hernehmen: Die Basis macht den Stellvertreter zum Vorsitzenden und den Vorsitzenden zum Stellvertreter. Sie entscheidet vorher, dass der Vorstand angesichts des Bedeutungsgewinns der Partei um einen Stellvertreter erweitert wird, der dann mit einem neuen Gesicht besetzt wird, das sich profilieren darf.
Überhaupt, die Basisdemokratie scheint den Mitgliedern so stark am Herzen zu liegen, dass sie jedem Versuch konsequent mit großer Mehrheit eine Absage erteilt, weitere Gremien und Organe zu installieren, die dem zuwiderlaufen. Der Schwarm lässt sich also nur schwer Kompetenzen entreißen.
Vorläufiges Fazit des Autoren: Basisdemokratie scheint auf Parteienebene zu funktionieren. Die große Herausforderung wird sein, diese Idee richtig gesellschaftsfähig zu machen, so dass auch parlamentarische Entscheidungen direkt von der Bevölkerung beeinflusst werden können. Wenn das gelingt, steigt sicher auch wieder die Akzeptanz politischer Repräsentanten in der Bevölkerung und sie werden nicht mehr als lästiger Zirkel von Eigeninteressenverfolgern empfunden, die viel versprechen, sich wählen lassen und dann machen was sie wollen. Nicht aber das, was sie versprochen haben.