
Leipzig Anti-Nazi-Plakat by ¡0-8-15! | CC BY-SA 3.0

Zur Vorgeschichte: Nachdem der parlamentarische Geschäftsführer der Piratenfraktion Berlin, Martin Delius, den aktuellen Aufstieg der Piratenpartei mit dem der NSDAP in den 1930er Jahren verglich, häuften sich die Negativschlagzeilen. Nicht selten fielen in den Medien die Worte „Rechtsextremismus“ und „Piratenpartei“ in einem Atemzug. Im Stern sprach der Grünen-Politiker Beck von einem echten Abgrenzungsproblem. Das Blatt aus Hamburg berichtete anschließend ausführlich über den Beistand, den Delius von Teilen des Vorstands erhielt. Nachdem auch der Spiegel die Schelte der Grünen aufgriff, zitierte der Focus das Fehlereingeständnis von Sebastian Nerz. In der ZEIT wird anschliessend von Nazi-Vergleichen und Machtkämpfen berichtet. ZEIT ONLINE schreibt in diesem Zusammenhang sogar, dass auch die „Spitzenpiraten“ mittlerweile das „Rechtsextremismusproblem“ ihrer Partei erkannt hätten. Völlig aus dem Blick geriet, dass nicht nur unser Programm, sondern auch unser Politikverständnis mit einem rechtsextremen Weltbild gänzlich unvereinbar ist.
Während Rechtsextremismus nach amtlicher Definition durch seine Unvereinbarkeit mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes gekennzeichnet ist, streiten Sozialwissenschaftler noch über die richtige Definition. In seinem Urteil bezüglich der neofaschistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) von 1952 definierte das Bundesverfassungsgericht die freiheitlich-demokratische Grundordnung erstmals durch die acht Prinzipien der Menschenrechte, der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung, der Verantwortlichkeit der Regierung, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Unabhängigkeit der Gerichte, des Mehrparteienprinzips sowie der Chancengleichheit der Parteien einschließlich der Oppositionsfreiheit. Rechtsextremismus zeichnet sich in Abgrenzung zum Linksextremismus demnach vor allem durch Nationalismus, Rassismus, ein autoritäres Staatsverständnis und eine Ideologie der Volksgemeinschaft aus. Der renommierte Rechtsextremismusforscher Richard Stöss untersuchte die Entwicklung des Rechtsextremismus und seine verschiedenen Ausprägungen in einer bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienenen Studie sehr detailreich.
Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer und seine Kollegen legen ihrer bekannten Längsschnittstudie „Deutsche Zustände“ hingegen das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zu Grunde. Wer gruppenbezogene Feindseligkeiten hegt, betrachtet andere Menschen wegen ihrer selbst gewählten oder vermuteten Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen als vermeintlich minderwertig. Elemente der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind für die Bielefelder Forscher Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, die Abwertung von Obdachlosen, die Abwertung von Behinderten, Islamophobie, Sexismus, die Abwertung von Langzeitarbeitslosen und die Forderung nach so genannten Etabliertenvorrechten (z.B. „Arbeit zuerst für Deutsche“). Stöss rekurriert für seine Rechtsextremismusdefinition auf autoritaristische, nationalistische, fremdenfeindliche, antisemitische und nationalistische Einstellungsmuster. Studien zu rechtsextremen und menschenfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung beruhen in der Regel auf einem detaillierten Fragenkatalog, mit dem entsprechende Neigungen der Probanden erhoben werden sollen.

Die Piratenpartei bezieht sich in ihren Grundsatzprogramm vielfach auf die freiheitlich-demokratischen Werte des Grundgesetzes und spricht sich eindeutig gegen die den Rechtsextremismus kennzeichnenden Ideologien aus: „Migration bereichert Gesellschaften“, heißt ein Kapitel mit Maßnahmenvorschlägen gegen die Ausgrenzung von Zugewanderten. Außerdem wird gefordert, „Rassismus und Ausländerfeindlichkeit jeder Form entschieden entgegen(zu)treten (…), ebenso wie anderen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Grundsatzprogramm der Piratenpartei Deutschland, S. 19f). (Damit bekennt sich unsere Partei zu dem Konzept von Heitmeyer und Co.) In der Geschlechter- und Familienpolitik streben die Piraten die rechtliche Gleichberechtigung aller Arten von Lebensgemeinschaften an. Klar verurteilt wird jede Diskriminierung auf Grund der geschlechtlichen oder sexuellen Identität (Grundsatzprogramm der Piratenpartei Deutschland, S. 17f).

Laut der Stöss-Studie richtet sich das autoritäre Element des Rechtsextremismus gegen die Idee pluralistisch- parlamentarischer politischer Systeme, die auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhen und mündigen Bürgern sowie ihren Organisationen Mitsprache- und Kontrollrechte im politischen Prozess garantieren. Im Gegensatz dazu treibt die Piratenpartei in ihrer internen Organisation das Prinzip der Demokratie auf die Spitze. Die aktive Mitarbeit von Wählern und Mitgliedern an der laufenden Politik ist ausdrücklich erwünscht und soll beispielsweise durch öffentliche Sitzungen und Liquid Democracy verwirklicht werden. Manche Mandatsträger verstehen sich gar nur als „Proxy“ (Vermittler), der die Initiativen der örtlichen Bürger und Parteimitglieder in den parlamentarischen Prozess einbringt. Die Beteiligung mündiger Bürger an einer größtmöglich transparenten Politik ist nicht zuletzt zu einer Kernforderung der Piraten geworden, wie die Wahlprogramme für Schleswig-Holstein und NRW aktuell zeigen.
Die ein rechtsextremes Weltbild kennzeichnenden Einstellungsmuster werden weder in der Programmatik noch in der Organisationsstruktur der Piratenpartei verwirklicht. Diskutiert wird jedoch in unserer jungen Partei, wie innerparteilich mit rassistischen, sexistischen oder geschichtsrevisionistischen Äußerungen einzelner Parteimitglieder umzugehen ist. Das stellt uns als Partei vor eine große Herausforderung und ein uraltes Dilemma demokratischer Gesellschaften: Freiheit ist zwar immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, die kommentarlose Akzeptanz diskriminierender Äußerungen birgt jedoch die Gefahr, menschenfeindlichen Einstellungen langfristig den gesellschaftlichen Boden zu bereiten, sie durch Verharmlosung salonfähig werden zu lassen. Die unterschiedlichen Definitionsansätze geben einen Vorgeschmack darauf, wie komplex das Phänomen „Rechtsextremismus“ und seine Bekämpfung eigentlich sind.
Literatur zum Weiterlesen existiert massenhaft. Für diesen Artikel wurden exemplarisch verwendet:
- Heitmeyer, Whilhelm/ Mansel, Jürgen (2008): Gesellschaftliche Entwicklung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Unübersichtliche Perspektiven, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Edition suhrkamp
- Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel, Friedrich Ebert Stiftung Forum Berlin, dritte aktualisierte Auflage