22.Juli 2011: In Oslo und auf der norwegischen Insel Utøya tötet Anders Breivik 77 Menschen. Im Internet ist er als Andrew Berwick unterwegs. Seine persönliche Meinungsbildung über ein von “Multikulturalisten, Kulturmarxisten und kapitalistischen Globalisten” bedrohtes Europa findet unter anderem unter dem Einfluss anonymer Internetnutzer wie dem Blogger “Fjordman” statt.
Gut zwei Wochen später fordert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ein Ende der Anonymität im Internet, da dort “jede Menge radikalisierter, undifferenzierter Thesen” politisch motivierte Täter heranzüchten würden. Nach einem erheblichen Shitstorm – auch von eigenen Parteifreunden – rudert Friedrich kurze Zeit später zurück. Es sei alles gar nicht so ernst gemeint gewesen und ein Gesetzesvorhaben gäbe es auch keines.
Gut neun Monate später, genau einen Tag vor der Landtagswahl in NRW, schlägt Rainer Brüderle – FDP-Fraktionschef im Bundestag – in die gleiche Kerbe: Es dürfe nicht sein, “dass über das Internet anonym jeder jeden Dreck verbreitet.”
Kurz: Von Zeit zu Zeit flackert die Forderung von Politikern immer wieder auf, die Anonymität im Internet durch eine Klarnamenpflicht zu ersetzen.
Der jetzige Bundespräsident Joachim Gauck erweckt im Vorwort der Grundlagenstudie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) den Eindruck, dass das Internet in seiner jetzigen Form sogar die Grundrechte der Bürger bedrohe:
“Das weltweite Internet bietet alle Voraussetzungen, um die in den ersten zehn Artikeln unserer Verfassung verankerten Grundrechte aller Bürger in diesem Land auszuhöhlen. Dies gilt insbesondere für das Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit in Artikel Fünf – eine wesentliche Grundlage unserer funktionierenden Demokratie – und es gilt letztlich auch für den Kernsatz unserer Verfassung, den Artikel Eins des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.”
Die Piratenpartei Deutschland fordert hingegen in ihrem Grundsatzprogramm, dass “jedem Bürger das Recht auf Anonymität garantiert werden muss, das unserer Verfassung innewohnt.”
Handelt es sich bei der Forderung nach einer Klarnamenpflicht und somit nach der Abkehr von der Anonymität im Netz also um eine gerechtfertigte Forderung im Rahmen von präventiven Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze der Bevölkerung und deren Grundrechte, oder haben wir es hier mit dem genauen Gegenteil zu tun: der Beschneidung von Grundrechten und dem endgültigen Schritt hin zum totalitären Überwachungsstaat?
Pseudonyme, also Falschnamen, werden schon seit Jahrhunderten zur Verschleierung der wahren Identität verwendet. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, das Andersdenkende häufig verfolgt und sogar heutzutage noch in manchen Staaten hingerichtet werden. Mit der Verwendung von Pseudonymen kann sich der gesellschaftskritische Mensch unter solchen Bedingungen sozusagen eine kostenlose Lebensversicherung verschaffen.
Internetnutzer verwenden Nicknames aus ähnlichen Gründen:
- “Ich bin Lehrer an einer Highschool, Privatsphäre ist für mich äußerst wichtig.”
- “Ich fühle mich nicht sicher dabei, meinen richtigen Namen anzugeben. Ich wurde über meine Online-Präsenz aufgespürt und Kollegen haben meine Privatsphäre verletzt.”
- “Ich wurde gestalked. Ich habe eine Vergewaltigung überlebt. […]”
- “Ich nutze diesen Nickname seit etwa sieben Jahren, weil ich Opfer von Stalking war […].”
- “[Dieser Name] ist ein Pseudonym, mit dem ich mich selbst schütze. Meine Website kann recht kontrovers sein, das wurde schon einmal gegen mich verwendet.”
- “[…] Ich möchte mit meinen Ansichten nicht konservative oder religiöse Bekannte und Verwandte beleidigen. Außerdem will ich nicht, dass die Karriere meines Mannes, der für die Regierung arbeitet, von seiner meinungsstarken Ehefrau beeinflusst wird, oder dass sich seine Mitarbeiter irgendwie unwohl fühlen wegen meiner Ansichten.”
- “Ich sorge mich um meine Privatsphäre, weil ich in der Vergangenheit gestalked wurde. Ich werde nicht für eine Seite auf Google+ meinen Namen ändern. Der Preis, den ich dafür bezahlen müsste, ist es nicht wert.”
- “Wir bekommen Morddrohungen über das Blog. […]”
- “Diese Identität habe ich genutzt, um meine richtige Identität zu schützen. Ich bin schwul und meine Familie lebt in einem kleinen Dorf, wenn das dort bekannt wäre, würden sie Probleme bekommen.”
- “Ich nutze ein Pseudonym, um sicherer zu sein. Als Frau bin ich auf der Hut vor Internetbelästigungen.”
Nicknames im Internet zu verwenden, erscheint also durchaus legitim.
Die rechtliche Situation in Deutschland scheint genauso eindeutig zu sein: Grundgesetz und Telemediengesetz unterstützen die Ansicht von Internetaktivisten, dass eine Klarnamenpflicht gegen die aktuelle Gesetzgebung verstoßen würde:
Das Grundgesetz garantiert dem Bürger unter anderem Kommunikationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 GG. Im Telemediengesetz (TMG) heißt es zudem, dass “die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen” sei, “soweit dies technisch möglich und zumutbar ist.”
Das Oberlandesgericht Hamm bestätigt diese Auffassung in seinem Urteil mit dem Aktenzeichen I-3 U 196/10 vom 03. August 2011. Dort heißt es unter anderem: “Die für das Internet typische anonyme Nutzung entspricht … der grundrechtlichen Interessenlage, da eine Beschränkung der Meinungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugerechnet werden, mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar ist. Die Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung zu bekennen, würde allgemein die Gefahr begründen, dass der Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen negativen Auswirkungen sich dahingehend entscheidet, seine Meinung nicht zu äußern. Dieser Gefahr der Selbstzensur soll durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung entgegen gewirkt werden (BGH, Urteil vom 23.06.2009 – VI ZR 196/08 -, MMR 2009, 608, 612).”
Doch wie sieht es in der Praxis aus? Google+, Facebook und andere soziale Netzwerke erwarten bei der Registrierung ihrer Nutzer die Angabe des bürgerlichen Namens. Auch die sogenannte Impressumspflicht scheint die eigentlich eindeutige Rechtslage zu relativieren.
Facebook schreibt in seinen AGBs, der Nutzer soll seinen bürgerlichen Namen verwenden. User, die auf ihre Daten achten und ihre Privatsphäre auch im Internet schätzen, pfeifen darauf. Google+ hat mittlerweile angekündigt, die Verwendung von Nicknames zukünftig zu unterstützen und keine offensichtlich mit Nicknames registrierten Benutzerkonten mehr sperren zu wollen.
Nun ist aber im § 55 (1) des Rundfunkstaatsvertrages geregelt, dass Anbieter von Telemedien, die nicht ausschließlich persönlichen oder familiären Zwecken dienen, Namen und Anschrift sowie bei juristischen Personen auch Namen und Anschrift des Vertretungsberechtigten leicht erkennbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar zu halten haben.
Fällt denn nun z.B. ein Twitteraccount, der auch für parteiinterne Kommunikation genutzt wird – also in diesem Sinne nicht nur rein privat – unter den Geltungsbereich des Rundfunkstaatsvertrages? Das ist die Frage, denn was Telemedien tatsächlich im Rahmen des Gesetzes sind, wird weder im Rundfunkstaatsvertrag noch im Telemediengesetz eindeutig formuliert.
Die Klarnamenpflicht im Rahmen des Rundfunkstaatsvertrages und die darin enthaltene Impressumspflicht kann trotz dieser offenen Frage getrost verneint oder zumindest vernachlässigt werden. Selbst wenn das hohe Gericht in ferner Zukunft einmal feststellen sollte, dass ein Twitter- oder Facebookaccount als Telemedium unter den § 55 RSTV fallen sollte, dann lässt sich doch vermuten, dass die Kontrolle dieses Gesetzes und die diesbezügliche Umsetzung von Sanktionen einen Verwaltungsapparat erfordern würde, dessen notwendige Dimensionen die Möglichkeiten übersteigen würde.
Aber zum Glück stellt sich diese Frage – zumindest momentan – nicht. Bis wieder irgendein dahergelaufener Internetausdrucker etwas anderes behauptet.
Fazit: Die Netzgemeinde hat schon immer Nicknames verwendet und wird es auch weiterhin uneingeschränkt tun. In China sieht das leider etwas anders aus, aber darum kümmert sich hoffentlich bald ein Ableger der Piratenpartei in China.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.