Im Geschichtsunterricht wird jedes Kind umfassend über die Gräuel des dritten Reiches aufgeklärt. Dies ist richtig und wichtig. Allerdings gibt es daneben weitere unschöne Kapitel in der Geschichte Deutschlands. Allen voran ist hier die DDR zu nennen und die Art, wie in diesem Staat mit den Bürgern umgegangen wurde.
Im Juni 2012 wurden elf Bochumer Piraten durch Herrn Prof. Dr. Lammert zu einer Berlinreise eingeladen. Auf der Tagesordnung stand unter anderem ein Besuch in dem ehemaligen Stasigefängnis Hohenschönhausen, welches definitiv einen Besuch wert ist.
Hierbei trafen die Piraten auf den Zeitzeugen Mario Röllig, der die Führung durch das Gefängnis übernahm. Seine Geschichte macht deutlich, dass es auch heute noch Verbrechen gibt, über die sich zu wenig Gedanken gemacht und über die zu wenig gesprochen wird.
Mario Röllig wurde 1967 in Ost-Berlin geboren. Er ist homosexuell und verliebte sich während einer Urlaubsreise in Budapest in einen westberliner Wirtschaftspolitiker. Dieser besuchte ihn häufig im Osten der Stadt, bis die DDR-Staatssicherheit (Stasi) durch Kontrollen an den Grenzübergängen auf ihn aufmerksam wurde.
Sie versuchten Röllig als Spitzel (Informeller Mitarbeiter, IM) in einem Gespräch anzuwerben, um seinen Freund mit dem Thema Homosexualität im Westen beruflich erpressen und damit Einfluss auf die Bundesdeutsche Tagespolitik nehmen zu können.
Mario Rölling hatte zu dieser Zeit einen Antrag auf einen neuen Trabant gestellt und noch acht Jahre zu warten. Die Stasi-Mitarbeiter meinten, dass mit ihrer Hilfe der Antrag bevorzugt behandelt werde und der Trabant schon in wenigen Monaten zur Verfügung stünde. Als Gegenleistung wurden Informationen über seinen Freund gefordert. Hierbei ging es vor allem um Dinge wie Charakter, Schwächen, Stärken, persönliche Vorlieben, berufliches Umfeld, Freundeskreis und die politische Einstellung zur DDR. Die Stasi-Mitarbeiter wussten Bescheid, dass Mario Röllig bei seinen Eltern sehr beengt wohnte und – als Achtzehnjähriger – unbedingt eine eigene Wohnung suchte. Auch hierbei versprachen sie ihm Hilfe.
Mario Röllig lehnte es entschieden ab, als Spitzel / Informant für die DDR-Geheimpolizei tätig zu werden. Kurze Zeit später wurde er bei seinem Betrieb vom Kellner zum Abwäscher degradiert. Als er sich daraufhin weigerte, als Hilfsarbeiter zu arbeiten (er wollte sich selbst neue Arbeit suchen) drohte man ihm, ihn als arbeitsscheues asoziales Element bis zu zwei Jahre ins Gefängnis zu sperren.
Es gab niemanden, keine staatliche Stelle, wo er sich hätte beschweren können. “Denn die Stasi war der willfährige Helfer der SED. Und die Partei hatte in der DDR immer recht. Also nahm ich aus Angst die Arbeit als Abwäscher an”, so Mario Röllig. Auch privat war die Stasi immer in seiner Nähe. Besonders wenn er sich mit seinem Westberliner Freund traf. Mario Röllig sagte: “Ich sollte das Gefühl bekommen: Du kannst nichts machen, ohne dass wir es wissen. Da war eine Flucht aus der DDR für mich als junger Mensch, der selbstbestimmt leben wollte, der letzte Ausweg.”
Im Juni 1987 versuchte er deshalb, über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Dabei wurde er von der ungarischen Grenzpolizei verhaftet und nach einer Woche im Budapester Polizeigefängnis dem DDR-Staatssicherheitsdienst übergeben. Anfang Juli kam er in das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nach Berlin-Hohenschönhausen, wo man ihm den “Versuch des ungesetzlichen Grenzübertritts” vorhielt.
“Ich hatte einen einsamen Plan für meine Flucht aus der DDR. Denn eines war klar: Wenn ich meinen Eltern, meiner Schwester, oder meinen Freunden davon erzählte, hätten sie alle große Angst um mich gehabt, und es wäre ihre Pflicht gewesen, mich an die Volkspolizei oder an die DDR-Staatssicherheit zu melden, also mich zu verraten. Also habe ich niemanden davon erzählt”, so Röllig. Nach seiner Verhaftung am 25. Juni 1987 an der Ungarisch-Jugoslawischen Grenze und der Auslieferung als Flüchtling an die Stasi in die DDR nach Ost-Berlin, wurden seine Eltern zehn Tage später durch den Besuch von Stasi-Mitarbeitern zu Hause informiert.
Sie wurden dann im Gebäudekomplex des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg so lange verhört, bis sie glaubhaft machen konnten, dass sie von der versuchten Flucht ihres Sohnes in den Westen nichts wussten. Sie wurden jedoch niemals informiert, in welchem Untersuchungsgefängnis der Stasi Mario Röllig gefangen gehalten wurde und auch nicht über die Länge der Haft informiert.
Während seiner Untersuchungshaft bei der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen drohten die Offiziere Mario Röllig immer wieder im Verhör damit, dass er, wenn er nicht die Hintermänner oder Mitwisser seiner Flucht nenne, viele Tage, Monate, Jahre im Gefängnis bleiben würden. Niemand wisse, wo er sei. Im Westen verschollen. Keiner bekäme mit, wenn ihm während der Haft etwas passiert. Auf “Versuchte Republikflucht” aus der DDR standen offiziell zwei bis acht Jahre Gefängnis. Sein Wunsch nach einem Rechtsanwalt wurde mit höhnischem Gelächter kommentiert. “Sie haben wohl zu viel Westfernsehen geschaut. Bei uns gibt es so was nicht”, so Röllig.
Seine Eltern sollten – als Genossen der SED – jeden Kontakt zu ihm abbrechen. Darauf ließen sich die Eltern allerdings nicht ein, sondern gaben seinen Namen an Freunde in West-Berlin weiter. Die Freunde waren über die Gegebenheiten schockiert und schalteten eine bekannte Rechtsanwältin in West-Berlin ein, die beste Kontakte zum Bundesdeutschen Ministerium für innerdeutsche Beziehungen hatte.
So kam Mario Röllig auf eine Liste von freizukaufenden politischen Häftlingen aus der DDR. “Dies war wie ein Lottogewinn”, sagt Röllig heute. “Denn nicht jeder kam auf diese Liste der Bundesregierung. Meine Eltern, meine Schwester und auch Freunde schrieben mir viele Briefe an eine Postfachadresse, die ihnen die Stasi gab. Im Gefängnis habe ich jedoch nie ihre Briefe erhalten. Heute, so viele Jahre später, kann ich sie in meiner Stasi-Akte lesen.”
Durch die Hilfe seiner Eltern und Freunde im Westen war er einer von zweitausend politischen DDR-Häftlingen, die Honnecker bei seinem Staatsbesuch in der Bundesrepublik im September 1987 gegen den letzten Milliardenkredit des Westens für die DDR aus Stasi-Gefängnissen entlassen musste.
Offiziell wurde Mario Röllig mit Hilfe des Rechtsanwalts Prof. Wolfgang Vogel, dem DDR-Unterhändler für Häftlingsfreikauf, mit einem DDR Amnestie-Beschluss ohne Gerichtsprozess aus dem Gefängnis entlassen. Erst am 8. Oktober 1987 wurde das Gerichtsverfahren gegen ihn mit der Auflage “drei Jahre Bewährung” eingestellt. Noch im selben Monat stellte Mario Röllig einen Ausreiseantrag, da auch nach seiner Entlassung persönliche und berufliche Repressalien nicht aufhörten.
Anfang 1988 nahm Mario Röllig an oppositionellen Veranstaltungen innerhalb der evangelischen Kirche teil. Nach einem Protestbrief an den DDR-Staatschef Erich Honecker wurde er schließlich aus der DDR ausgebürgert. In der Nacht vom 07. zum 08. März 1988 gelangte er in die Bundesrepublik.
“Als ich im Zugabteil eines Schnellzugs von Leipzig nach Köln saß, und der Zug Punkt Mitternacht über die deutsch-deutsche Grenze fuhr, das war der schönste Moment in meinem Leben. Endlich raus! Endlich frei! Viel später erfuhr ich, dass ich als politischer Häftling aus der DDR ca. 40.000 DM gekostet habe. Dies war der Preis meiner Freiheit. Diese Summe zahlte die Bundesrepublik für mich an die DDR. Eine Summe, die ich nie zurückzahlen musste, da dies Spenden waren von Amnesty, von Kirchen, von Stiftungen, von Konzernen und von Privatpersonen“, erklärt Röllig.
Ab März 1988 wohnte er in West-Berlin, während seine Eltern noch im Ostteil der Stadt lebten. Bei ihren häufigen Telefonaten knackte es oft in der Leitung, denn ihre Gespräche wurden von der Stasi abgehört und aufgezeichnet. Briefe schrieben sie sich natürlich auch. Aber der Postweg dauerte ein bis zwei Wochen. Stasi-Mitarbeiter als Postbeamte kontrollierten in Hinterzimmern von Postämtern in der DDR den gesamten Briefverkehr zwischen Ost und West. Dies waren täglich 80.000 bis 90.000 Briefe und Pakete. Also mussten sie mit politischer Kritik vorsichtig sein und sprachen oft über ganz private Dinge.
Mario Röllig war als West-Flüchtling nach seiner Ausweisung aus der DDR eine unerwünschte Person, und durfte bis zum Mauerfall nie in die DDR reisen um seine Eltern zu besuchen. Geschenke an seine Eltern gab er Freunden mit, die seine Eltern dann in Ost-Berlin mit dem Tagesvisum besuchten. Einmal haben sie sich in Prag getroffen. Allerdings unter der Beobachtung des Tschechischen Geheimdienst bzw. der Stasi. Erst 1997 erfuhr er aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes, wo er inhaftiert war.
Trotz gesundheitlicher Probleme engagiert sich Mario Röllig heute in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seine Fluchtgeschichte ist Gegenstand des Theaterstückes „Akte R“, das seit November 2008 im Theater Strahl in Berlin-Schöneberg aufgeführt wird. Zudem ist sein Schicksal Teil des Dokumentarfilms “Gesicht zur Wand”. Mario Röllig lebt in Berlin und führt seit 1999 Besucher durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
Warum glauben Sie, wird der Aufklärung der DDR Zeit so wenig Aufmerksamkeit geschenkt?
Mario Röllig: “Das Thema der Deutschen Teilung nach dem Krieg, des kalten Krieges, der DDR als Partei-Diktatur wird bisher in den Lehrplänen von Schulen nur am Ende der 10. Klasse oder der Abiturstufe mit wenigen Unterrichtsstunden gestreift. Somit ist das Leben in der SED-Diktatur, Alltag in der DDR, Mauerfall, Deutsche Einheit für Schüler gedanklich genauso weit weg wie das römische Reich. Trotz vieler Anstrengungen engagierter Lehrer, zum Beispiel bei Klassenfahrten auch Stasiopfer-Gedenkstätten zu besuchen, trotz Förderung der politischen Bildung und Aufklärung über die jüngere deutsche Geschichte durch die Bundesregierung, zum Beispiel mit einer bundesweiten Zeitzeugenbörse, müssen noch größere Anstrengungen unternommen werden, damit gerade Jugendliche den Wert der Freiheit in der Demokratie erkennen und mehr schätzen lernen. Und eine Sensibilität dafür entwickeln, dass in Deutschland weder eine braune noch eine kommunistische Diktatur eine Chance haben. Heute haben junge Menschen oft ganz andere Probleme, Ziele und Wünsche in unserer Gesellschaft. Erst durch ganz persönliche Schicksale von Menschen, die sich gegen eine Diktatur aufgelehnt haben, oder gegen sie gekämpft haben, finden Kinder und Jugendliche einen ein Bezug zum Heute, und man kann damit ihr Interesse wecken, sich mit der Geschichte zu beschäftigen.”
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen …