Redaktionsmitglied Sperling macht sich Gedanken um Herkunft und Zukunft einer Partei, die sich als politische Speerspitze betrachtet. Ein Kommentar.
Transparenz
- Mit radikaler, immerwährender Transparenz im politischen Prozess sollte alles besser werden. Wenn erst einmal alles offensichtlich wäre, würden sich die meisten vermuteten oder echten Probleme lösen lassen. Wir lernen aktuell, dass Transparenz auch Grenzen haben muss. Könnt ihr euch noch an den Shitstorm erinnern, als der alte BuVo (Bundesvorstand) einen Strategieworkshop (primär zum Erlernen strategischer Planungsfähigkeiten!) OHNE Livestream und ohne Basisbeteiligung gemacht hat? Oder als die Piraten im Abgeordnetenhaus in Berlin (AGH) die ersten geschlossenen Sitzungen hatten? Heute sind wir da entspannter, zum Glück, denn wir haben gelernt, dass nicht alle geplanten Aktionen gleich beim politischen Gegner landen sollten und dass es Sinn machen kann, Streitgespräche über „pillepalle-lulu-pups“ nicht öffentlich zu führen. Ok, letzteres schaffen wir nicht sehr oft – wie wir in der Communitiy-Version der BILD-Zeitung (Twitter) sehen – aber es wird besser. Ich denke, wenn wir uns alle mal am Riemen reißen würden und Trolle konsequent blocken würden, kämen wir auf einen guten Weg.
- Ich erinnere mich noch gut an die erste Euphorie. Auf einmal sollte mit dem BGE alles gelöst werden können, die Ungerechtigkeiten beim SGB II, die Rentenproblematik, Künstler könnten damit ein Lebensgrundlage haben … – nichts war zu schade, um es mit einem BGE zu lösen. Als Kulminationspunkt, als wir dachten das wir vor Kraft kaum gehen könnten, haben wir Johannes Ponader (der nach eigener Aussage vor allem wegen BGE beigetreten ist) zum Nachfolger von Marina Weisband gewählt. Bochum wird zeigen, ob er/wir auch finanzierbare Konzepte haben, die besser sind als SGB II oder ob wir es bei Wünschen belassen. Ich lasse mich sehr gerne positiv überraschen, befürchte aber, dass wir – wie der Rest der Bewegung – keine finanzierbaren Konzepte beschließen werden, da es sie nicht gibt.
LQFB
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Die Idee, den Meinungsbildungsprozess über ein Tool wie Liquid Feedback (LQFB) zu realisieren ist sexy – und notwendig. Dabei müssen aber grundlegende demokratische Rechte gewährleistet sein, etwas das LQFB (noch) nicht kann. Ich persönlich betrachte die Wahlgrundsätze frei, geheim, gleich, direkt und unmittelbar (für die Menschen lange gekämpft haben und gestorben sind) auch als grundlegend wichtig für Abstimmungen – und die Abwesenheit eines großen Teiles dieser Grundsätze in LQFB führt nach meiner Meinung, neben dem Problem der Kettendelegation, zu den lausigen Beteiligungszahlen. Die oft nicht mal 10% erreichenden Zustimmungsquoten (10% der angemeldeten Nutzer!) sind ein Beispiel dafür, wie wenige das System akzeptiert wird. Ob und wie Pirate Feedback, das im LV Bayern eingeführt wurde, einen Teil dieser Probleme lösen wird, werden die nächsten Monate zeigen – aktuell ist dort die Beteiligung noch gering.
- Wir schaffen es nicht, uns auf eine einheitliche Kommunikationsform zu einigen und schließen damit Piraten vom Meinungsbildungsprozess aus. Nicht alle nutzen Twitter, nicht alle nutzen Foren, nicht alle Mumble, Jabber, IRC, … und „Offliner“ haben total verkackt, um es mal auf den Punkt zu bringen.
- Trolle und GO-Störenfriede sabotieren die Kommunikation und Veranstaltungen, nur auf manchen Arbeitslisten, die nicht für alle offen sind haben wir es geschafft, sie effektiv von ihrem Werk abzuhalten.
- Wir haben keine einheitliche Öffentlichkeits- und Pressearbeit, jeder Verband wurstelt vor sich hin. Manch einer stümpert eher und die Bundespressemitteilungen waren auch schon mal näher am Programm – Meinungen einer Ag oder aus LQFB sind nun mal Meinungen von kleinen oder kleineren Gruppen, aber keine BPT-Beschlüsse. Die Wahrnehmung der Partei in der Bevölkerung ist abhängig von den klassischen Medien, und deren Wahrnehmung und Meldungen sind abhängig von unseren Aktionen und Meldungen. Wenn wir nichts Positives liefern, wird eben über Streit berichtet (was auch weniger Arbeit macht). Das schadet uns.
- Es bildeten sich informelle Interessengruppen, die eher Netzwerk- denn Flügelstrukturen haben, teilweise rund um Fraktionen, teilweise rund um langjährige Vorstandsmitglieder in diversen Verbänden. Das, was ich „Machtpiraten“ nenne – vor allem diejenigen, die immer im Vordergrund stehen müssen oder Karriere machen wollen – werden uns noch viel Ärger bereiten.
- Kleine Randgruppen, teilweise aus weniger als 30 Piraten bestehend, drückten uns bundesweit Themen aufs Auge, indem Sie sich in den Vordergrund drängten, als wären sie hunderte oder würden für alle sprechen, die mit ihnen irgendein Merkmal gemein hätten. Das Schlimmste daran ist, das die Presse es dann als „die Piraten wollen“ publiziert. Ich denke nicht, dass ich Namen nennen muss …
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werden wir es schaffen, die Trolle – die nur streiten und polemisieren – zurückzudrängen oder zumindest zu ignorieren?
- wie sieht es mit einer akzeptablen Streit- und Diskussionskultur aus?
- werden wir weiter multimedial über zig Kanäle kommunizieren, so dass kaum einer alles mitbekommen (kann) – und Wissenslücken zu Unverständnis und Streit führen?
- wie sieht es mit LQFB aus, werden wir es irgendwann schaffen, dass sich alle beteiligen, und sei es darum, dass wir dafür die Grundsätze der freien, unmittelbaren, geheimen, direkten und gleichen Wahl auf Abstimmungen anwenden?
- werden wir irgendwann einmal einen Beschluss eines BPTs bekommen, der die Nutzung von LQFB im Dauerbetrieb legitimiert?
- werden wir irgendwann ein relativ einheitliches Bild in der Öffentlichkeit schaffen, ohne dass AGs sich anmaßen, offen oder zwischen den Zeilen für die Partei zu sprechen?
- werden wir es schaffen, die „Machtpiraten“ in die Schranken zu weisen, die ihre Verbände/Crews/AGs/… im „Klüngelsystem“ führen?
- werden wir es schaffen, dass uns sehr kleine Gruppen nicht weiterhin parteiweite Diskussionen (sei es durch Flyer, sei es durch Krakeelerei) aufzwingen?
Ich habe keine, aber in Bochum besteht die Möglichkeit etwas zu tun – wir könnten z. B. definitiv für alle bindend beschließen, wie wir das mit dem „an die Presse gehen“ regeln – oder es weiter ungeregelt lassen und uns von Kleingruppen sabotieren lassen. Wir könnten definieren, was wir als Partei eigentlich wollen (im Moment ist es eine Kakophonie). Wir könnten eine GO einführen, die es Trollen, Störenfrieden und anderen U-Booten erschwert, unsere Parteitage mit Dummfug-Anträgen zu fluten. Wir könnten uns auf „offizielle Kanäle“ für die Kommunikation/Arbeit einigen oder es weiter ungeregelt lassen, wir könnten beschließen, dass PMs mit programmatischen Aussagen an Beschlüssen ausgerichtet sein müssen (oder zumindest darauf basieren sollten) – wir könnten so vieles.
Ob wir das über Meinungsbilder, Anträge oder mit dem Florett (zur Not Säbel) an alle anderen kommunizieren ist mir an sich egal – es muss nur innerparteilich ankommen, als klare Aussage wie wir das wollen. Unmissverständlich. Damit keiner später sagen kann, er hätte es nicht gewusst. Und damit wir jeden, der einen Dreck drauf gibt, mit Recht so shitstormen können, dass er in keinen Hut mehr passt.
Ich würde mich freuen wenn ihr mir Vorschläge zukommen lasst, wie wir das eine oder andere lösen könnten. Ich mache daraus – und aus Kommentaren hier – dann einen weiteren Artikel.
Sperling
Redaktionsmitglied Sperling
Redakteur seit 2011, Kernteam der Redaktion seit 2013. De facto "Leitung" ab 2016, irgendwann auch offiziell Chefredakteur - bis 2023. Schreibt und Podcastet nur wenn ihm die Laune danach steht, zahlt aktuell die Infrastruktur der Flaschenpost, muss aber zum Glück nicht haften 🙂