Nun geistern die Piraten mit dem Bundesparteitag wieder durch die Presse und es wird wieder allerlei Unsinn geschrieben. Und leider lassen sich die Piraten hier treiben. Ein Gastartikel von Wilm Schumacher, so geschrieben auf einer Mailingliste:
Liebe Delegierte,
nun geistern die Piraten mit dem Bundesparteitag wieder durch die Presse und es wird wieder allerlei Unsinn geschrieben. Und leider lassen sich die Piraten hier treiben. Dem möchte ich diese Mail entgegensetzen, auch wenn ich weiß, dass es vermutlich nichts nutzt.
== 1.) These ==
Nun, beginnen wir mit der These:
Die Piraten besitzen ein Vollprogramm. Die Piraten haben einen
Wertekanon in allen relevanten Politikfeldern etabliert und dieser Kanon
macht sie berechenbar.
== 2.) Ziel eines Grundsatzprogrammes ==
Ein Grundsatzprogramm kann nicht jede Entscheidung vorweg nehmen die eine
z.B. Fraktion oder ein Vorstand zu treffen hat. Dies ist überhaupt nicht
möglich. Jeden Tag entwickeln sich neue Probleme, neue Brandherde und
neue Rahmenbedingungen. Und auf diese muss ein Vertreter einer Partei,
z.B. eben ein Abgeordneter, reagieren. Selbst LimesSurvey und LQFB sind
dafür zu langsam. Und bei vielen Entscheidungen, wie z.B. über die
Einstellung von Personal, kann auch nicht abgestimmt werden. Von solchen
Details wie der Gewissensfreiheit der Abgeordneten mal ganz abgesehen.
Gestern hat es in einer Behindertenwerkstatt gebrannt und viele Menschen
sind umgekommen. Nun, wer hat vor diesem Tag an einen Programmpunkt über
die Arbeitssicherheit in Behindertenwerkstätten gedacht?
Ein Grundsatzprogramm soll eine Partei berechenbar machen. Für Wähler,
Unterstützer, Abgeordnete, Gegner, Interessierte, und ja, auch die
Massenmedien.
Die Fähigkeit Entscheidungen einer Partei oder ihrer Abgeordneten
vorherzusehen ist vor allem für kleinere und neuere Parteien wichtig.
Eine neue Partei kann sich im parlamentarischen Alltag noch nicht
vorgestellt haben, da sie dazu überhaupt keine Chance hatte. Umso
wichtiger wird das Grundsatzprogramm. Nur so kann ein Wähler eine Wahl
treffen.
Dabei muss das Programm nicht alle Gegebenheiten abdecken, sondern es
muss einen Wertekanon vorstellen, der zukünftige Entscheidungen
voraussehen lässt. Anhand eines Beispieles: Nehmen wir an, dass eine
Partei gegen die Vorratsdatenspeicherung ist. Und nehmen wir zusätzlich
an, dass sie gegen DNS-Sperren ist, dass sie gegen die ausufernde
Telefonüberwachung ist und jegliche Einschränkung von Bürgerrechten,
wenn überhaupt, nur unter Richtervorbehalt duldet. Wir wird sich diese
Partei wohl bzgl. Deep-Package-Inspection positionieren?
Und deswegen reicht es nicht, nur den Wertekanon aufzuschreiben (sonst
schreiben alle dasselbe). Nein, die Definition kann nur implizit
erfolgen. Aus diesem Grund müssen sich Parteien eben in relativ vielen
Bereichen positionieren, damit man den Wertekanon herauslesen kann.
== 3.) Der Wertekanon ==
Nun stellt sich aber die Frage: Was ist denn dann der Wertekanon der Piraten?
Die Piraten stehen meiner Meinung nach für drei große Zielkomplexe:
Zukunftsfähigkeit – Teilhabe – Demokratie
Zukunftsfähigkeit fasst z.B. alle “Umweltbeschlüsse” zusammen, aber auch
die vielen (und liebe Journalisten z.T. auch schon sehr alten)
Programmpunkte zur Bildung. Die Piraten wollen, dass die Menschen dieses
Landes optimal auf eine sich verändernde Welt vorbereitet werden. Und
das Mittel der Wahl dafür ist eben Bildung. Aus diesem Grunde fordern
die Piraten Medienkunde und Drogenkunde, fordern die Piraten, dass die
generativen und regenerativen Energiequellen gefördert werden etc. Vor
allem aber die dezentralen Netze fallen auch in diesen Bereich.
Teilhabe ist von den Zielkomplexen jedoch der größte, denn “Teilhabe”
umfasst die Einbeziehung aller Bürger im gesellschaftlichen Leben.
Dazu gehört zum einen eine gewisse materielle Absicherung. Dies zeigt
sich z.B. im ReSET-Antrag der in diesen Zielkomplex gehört. Okay, der
trägt Teilhabe auch im Namen, was die Einordnung erleichtert. In
diesen Zielkomplex gehören aber auch die Anträge zum Urheberrecht. Denn
zu einer gesellschaftlichen Teilhabe gehört auch die Teilhabe an
kulturellen Errungenschaften und die diskriminierungsfreie Nutzung. Und
dies wird eben im Urheberrecht geregelt, weshalb es ein so wichtiges
Thema ist.
Aber vor allem gehört in diesen Bereich die Teilhabe am
politischen Leben. Aus diesem Grund sind die Piraten auch so erpicht auf
Transparenz. Denn nur wenn ich überhaupt weiß was passiert, warum es
passiert, wie es passiert und vor allem … wie teuer es wird, kann ich
überhaupt politisch sinnvolle Entscheidungen treffen. Transparenz ist so
immer der Anfang jeder politischen Teilhabe. Und danach verlangen die
Piraten eben auch die reelle politische Teilhabe der Bürger. Sei es
durch die Möglichkeit seinem Abgeordneten auch mal seine Meinung zu
sagen und Fragen an ihn zu richten oder durch direkte Demokratie.
Darunter fällt z.B. auch die aktuelle Diskussion zur ständigen
Mitgliederversammlung. Die Befürworter wollen mehr demokratische
Teilhabe. Aber die Gegner lehnen dieses Ziel überhaupt nicht ab. Die
Gegner wollen genauso ein Mehr an Teilhabe. Nur haben sie die Sorge,
dass eine ständige Mitgliederversammlung in diesem Bereich
kontraproduktiv ist. Jedoch, die Beweggründe beider Standpunkt sind
dieselben: Mehr politische Teilhabe.
Es sollte aber bemerkt werden, dass Teilhabe auch die Teilhabe am
wirtschaftlichen Leben umfasst! Dies sieht man an den Programmpunkten
zum Patentrecht, mit der die Piraten es verhindern wollen, dass die
großen Konzerne neue Spieler auf dem Markt durch Patentkriege weg trollen
können. Die Piraten wenden sich gegen Monopole und die Aufteilung eines
Marktes unter wenigen Firmen (Energiemarkt etc.). Diese wirtschaftliche
Teilhabe soll ja auch durch dezentrale Netze gefördert werden. Und: auch
die wirtschaftliche Teilnahme eines Angestellten wollen die Piraten
stärken, wie z.B. durch die Stärkung demokratischer Strukturen in
Konzernen (siehe das neue Wirtschaftsprogramm).
In dem Bereich “Teilhabe” fallen natürlich auch die Beschlüsse zur
Familienpolitik, fahrscheinloser ÖPNV etc. pp.
Den letzten großen Zielkomplex habe ich Demokratie genannt. Darunter fällt
z.B. der Komplex der Bürgerrechte, aber auch die Betonung der
Gewissensfreiheit der Abgeordneten und damit das Abwenden vom
Fraktionszwang. Darunter fällt auch die Haltung zur europäischen
Integration, darunter fällt die Diskussion zur parteinahen Stiftung oder
die Diskussion über Abgeordnetenbestechung.
So kann man alle Anträge, die abgelehnt oder angenommen werden einfach
einordnen. Dies ist unser Wertekanon: Zukunftsfähigkeit – Teilhabe –
Demokratie. Der Wertekanon für die die Partei, die Parteitage und auch
die Abgeordneten.
Und natürlich fallen einige Sachen auch in mehrere Kategorien, wie z.B.
die rechtliche Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften. Dies ist natürlich eine Frage von Bürgerrechten, aber
natürlich auch eine Frage, ob diese Paare am gesellschaftlichen Leben,
zum dem Kindern natürlich gehören, teilnehmen können.
Dabei sollte man aber nicht verheimlichen, dass der Parteitag auch mal
in die Toilette greift. Ein paar kleine Fehler haben sich an dem Kanon
vorbei schmuggeln können. Aber das bekommen wir auch noch hin.
Und natürlich ist dieser Kanon meine ganz persönliche Sicht und viele
werden dies vermutlich anders bewerten.
== 4.) Abgrenzung zu anderen Parteien ==
Wenn man die drei Großkomplexe des Wertekanons aufschreibt, sind das
natürlich erst einmal nur Buzzwords die jeder unterschreiben würde.
Nichtsdestotrotz zeichnet dies die Piraten aus. Denn: ein Wertekanon
schafft Wertigkeit. Natürlich hätte jeder gerne, dass sich alle vertragen
und glücklich sind. Aber leider ist dies nicht immer möglich. Es gibt
widerstrebende Zielvorgaben. Und es bleibt die Frage, welches Ziel höher gilt.
Schauen wir also zur Konkurrenz:
Die CDU überschreibt ihr Programm mit “Freiheit und Sicherheit”. Zum
Wertekanon der CDU gehört NICHT die Wahrung der Bürgerrechte (das meinen
die nicht mit “Freiheit”). Sicherheit sehr wohl. Was passiert, wenn man
CDU-Abgeordnete wählt und dann auch noch ins Innenministerium schickt,
wissen wir! Ich bin sogar davon überzeugt, dass es einer CDU lieber
wäre, wenn sie keine Bürgerrechte angreifen müssten. Aber Sicherheit
steht nun mal vorn.
Genauso betrachte ich das bei den Piraten. Natürlich fänden es alle gut,
wenn es keine Verbrechen mehr geben würden. Einen Polizeistaat lehnen
wir trotzdem ab. Es ist eben eine Abwägung der Güter.
Genauso können wir uns von allen anderen Parteien abgrenzen. In jedem
einzelnen dieser Großkomplexe. Aus Zeitgründen gehe ich nicht allzu sehr
ins Detail bei diesem Punkt. Ich würde es auf Wunsch nachreichen.
== 5.) Genug Programm! ==
Brauchen wir also mehr Programm? Nein!
Ich habe oben dargelegt, dass die Piraten mittlerweile einen sehr gut
umrissenen Wertekanon haben. Ein Mehr an Programm wird diesen Kanon kaum
noch schärfen können. Und ein Mehr an Programm wird Abgeordnete oder
einen Vorstand auch nicht handlungsfähiger machen. So schnell sind wir
nicht, egal wie wir die programmatische Arbeit organisieren.
Auch hier hilft ein Blick in die Programme der Konkurrenz. Die Tiefe,
Umfang und thematische Breite des Programms der Piraten ist z.T.
deutlich größer als es die Konkurrenz in über 60 Jahren geschafft hat.
Und es ist auch nicht notwendig. Denn das Ziel des Grundsatzprogramms
ist es eben nicht, dass jede Eventualität behandelt ist, sondern dass
der Wertekanon so genau wie möglich definiert wurde. Meiner Meinung nach
ist das passiert.
Und dieser kleine Seitenhieb sei mir erlaubt: Die Presse wird sowieso etwas anderes
schreiben. Wir sollten aufhören uns treiben zu lassen. Den Piraten wird vorgeworfen,
dass sie sich zu diesem oder jenem Thema nicht positioniert haben. Das stimmt.
Aber diesem Anspruch sind im Moment nur die Piraten unterworfen. Und nebenbei:
Wenn ich für die Konkurrenz arbeiten würde, würde ich bzgl. der Piraten in jeder
Talkshow EXAKT das behaupten. Die Journalisten greifen es gern auf und kritisieren
dies an den Piraten. Und bis jetzt fragt merkwürdigerweise niemand nach den
weißen Flecken in den Programmen der etablierten Parteien. Solange das so bleibt,
ist es politisch clever, das den Piraten vorzuwerfen.
Also anstatt ständig mit immer schnelleren Programmentwürfen zu kontern,
sollten wir den Vorwurf vielleicht mal genauer betrachten. Und für die
etwas Hinterhältigen unter euch … den Spieß umdrehen!
Anmerkung: Und im Übrigen stimmt der Vorwurf auch z.T. überhaupt nicht.
Als ich gelesen hatte, dass wir nichts zu Bildung im Programm haben,
musste ich aber zumindest laut lachen.
== 6.) Genug Programm? ==
Brauchen wir also mehr Programm? Ja!
Die Welt verändert sich ständig. Was für eine z.B. geeignete Teilhabe
notwendig ist, ändert sich. Vor 20 Jahren war ein Internetanschluss
nicht unbedingt notwendig für gesellschaftliche Teilhabe. Heute ist das
so. Was in 20 Jahren dafür notwendig ist, können wir heute nicht wissen.
Wir müssen es also immer wieder neu definieren.
Zusätzlich ändert sich auch die Partei. Mit den Mitgliederanstürmen
musste die Partei ggf. neu justiert werden. Es musste Werte und
Positionen genauer erarbeitet werden und ggf. erweitert werden. Dies ist
aber ein kontinuierlicher Prozess. Und umso schneller wir das schaffen
um so erfolgreicher sind wir auch hier.
Vor allem muss aber zu jedem Zeitpunkt ein aktuelles Wahlprogramm
vorliegen. Die Erarbeitung ist also ebenfalls ein kontinuierlicher
Prozess. Und das Wahlprogramm ist es auch, worauf es am Ende des Tages
ankommt. Und da haben wir sehr wohl weiße Flecken die wir schließen müssen.
Wie genau diese programmatische Arbeit organisiert werden sollte (und
auch abgestimmt wird), steht dabei natürlich auf einem anderen Blatt und
soll nicht Thema dieses Textes sein.
== 7.) Abschluss ==
Uns wird bzgl. der programmatischen Ausrichtung viel vorgeworfen. Und
ich hoffe, dass wir durch diesen Text diese Vorwürfe etwas besser
einordnen und ihnen so besser begegnen können.
- Uns wird vorgeworfen, dass wir zu vielen Sachen überhaupt nichts
sagen. Stimmt. Müssen wir aber auch nicht. - Den Piraten wird vorgeworfen, dass sie unberechenbar sind, da sie
verschiedene Themen nicht angesprochen haben. Unsinn! Niemand kann alle
Themen ansprechen. Aber der Wertekanon ist definiert. - Die Piraten sind zu wage? Stimmt! Deshalb ist es auch ein
Grundsatzprogramm einer Partei und kein Gesetzesentwurf einer Fraktion.
Wer das nicht unterscheiden kann, sollte sich ggf. überlegen nicht für
eine überregionale Zeitung Texte zu verfassen. - Die Piraten sind bei der Programmerarbeitung hoch effizient. Dazu
schreibe ich aber lieber eine eigene Mail, um das hier nicht noch weiter
auszudehnen. Lasst euch nichts anderes einreden.
Die Piraten haben mittlerweile das weitreichendste und ausdefinierteste
Programm alle größeren Parteien. Also verstecken wir uns nicht. Gehen
wir lieber in die Offensive. Wir sind in diesem Kampf die stärkeren.
Viele Grüße
Wilm