Wer hätte das gedacht? Die Piraten haben seit dem Bundesparteitag in Bochum ein gesundheitspolitisches Grundsatzprogramm.
Dies ist deshalb bemerkenswert, weil es der Antrag PA 140 in die Tagesordnung geschafft hat, obwohl Gesundheitspolitik bisher kein
Kernthema der Piraten war. Um so erfreulicher also, dass sich die monatelange Arbeit der AG Gesundheitspolitik und der AG Gesundheit am Ende ausgezahlt hat. Wo noch im vergangenen Jahr die Gesundheitsgruppierungen “Reformer” und “Solidarier” das Bild im Mumble prägten und keine wesentlichen Ergebnisse für das piratige Programm entwickeln konnten, haben sich die an Gesundheitspolitik interessierten Piraten zusammengerauft und durch Zustimmung der Basis eine für “Vollies” störende Lücke im Grundsatzprogramm geschlossen.
Die PIRATEN stehen demnach ab sofort “für eine zukunftsfähige und solidarische Gesundheitspolitik mit folgenden Zielen: Bei den PIRATEN steht der Mensch im Mittelpunkt des Gesundheitssystems” und “streben eine am Patientennutzen orientierte Gesundheitsversorgung an.” Das Gesundheitswesen soll “über solidarische Beiträge finanziert und effizient organisiert” werden.
Während der Debatte und auch im Anschluß auf den Mailingslisten thematisierten die Piraten insbesondere die Finanzierung. Im Antrag heisst es: “Alle Bürger beteiligen sich an der Finanzierung des Gesundheitswesens. Die individuelle finanzielle Leistungsfähigkeit wird berücksichtigt. Privilegien der Privaten Krankenversicherungsunternehmen sind im Interesse einer einkommens- und vermögensunabhängigen Gesundheitsversorgung abzuschaffen.” Bedeutet das, dass die PIRATEN eine Bürgerversicherung und die Abschaffung der Privaten Krankenversicherung fordern?
Die Flaschenpostredaktion hat mit zweien der Antragsteller gesprochen: Reinhard Schaffert und Wolf Trenner, beide Mitglied in beiden oben genannten Gesundheits-AGs.
Reinhard Schaffert, konkretisiert zum Thema Finanzierung: “Das Gesundheitswesen soll in erster Linie solidarisch finanziert sein, d.h. nach individueller, finanzieller Leistungsfähigkeit des Beitragszahlers. Dies bedeutet nicht, das die Piraten eine Bürgerversicherung fordern. Eine Bürgerversicherung kann ein Modell sein, welches sich aus den Grundsätzen unserer Gesundheitspolitik ableitet, muss aber nicht. Ich kann mir durchaus auch andere Modelle vorstellen.”
Trenner ergänzt: “Unter Privilegien, die wir abschaffen wollen, könnte z. B. auch gehören, dass Rückerstattungen und die steuerliche Anrechenbarkeit von privaten Krankenversicherungsbeiträgen in Zukunft nicht mehr möglich ist.”
Schaffert weiter: “Wenn wir von der Abschaffung von Privilegien sprechen, heisst das nicht, das wir die PKV abschaffen wollen, sondern lediglich die offensichtlichen Vorteile für Privatpatienten, welche beispielsweise durch ihre Einkommenssituation Vorteile genießen (Arzttermine), die gesetzliche Versicherte nicht haben.”
Während der Debatte kritisierte ein Heilpraktiker, dass das Grundsatzprogramm die freie Therapie- und Therapeutenwahl einschränke.
Schaffert relativiert: “Wir sind der Meinung, das der Patient in Bezug auf Form, Intensität und Reichweite der Behandlung so weit wie möglich selbst bestimmt sein soll. Allerdings sollen nur Behandlungen in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen werden, die empirisch belegt den gewünschten Heilungsprozess erreichen.”
Einen wesentlichen Punkt, der in der Debatte nach Ansicht von Schaffert zu kurz gekommen ist, stellt Schaffert noch heraus: “Uns ist ebenfalls wichtig, dass eine gesellschaftliche Diskussion notwendig ist, dass gesundheitliche Bildung bereits in der Schule thematisiert wird, um das Wissensgefälle zwischen Arzt und Patient auszugleichen.”
Trenner denkt hier an nahezu revolutionäre Maßnahmen: “Wir sind der Ansicht, das der wesentliche Indikator für den Erhalt von Gesundheit der Faktor Bildung ist. Deshalb sollten wir konkret darüber nachdenken, die verfügbaren Mittel umzuverteilen und hiervon einen ordentlichen Anteil direkt in Gesundheitsaufklärung zu investieren.” Trenner ist der Meinung, dass es viele überversorgte Regionen gibt und viel Geld durch falsche finanzielle Anreize durch Ärzte verschwendet wird: “Wenn ein Patient in München mit Herzschmerzen ohne Herzkatheter die Praxis verlässt, ist das eine Seltenheit. Viele Patienten erhalten Behandlungen, die medizinisch nicht sinnvoll und in vielen Fällen sogar gefährlich für die Gesundheit des Patienten sind.”
Nicht zuletzt spricht sich Trenner für die Abschaffung der sogenannten Sektorgrenzen aus: “Die Sektorgrenzen führen einerseits dazu, dass Patienten nicht optimal versorgt werden und zum Anderen zu gelinde gesagt unschönen Steitigkeiten zwischen Leistungserbringern. Keine andere Partei fordert das, da sind wir mutig und revolutionär.”
Insgesamt scheint das neue gesundheitspolitische Grundsatzprogramm der PIRATEN rund zu sein. In den folgenden Monaten werden sich die Gesundheits-AGs darum bemühen, daraus konkrete Inhalte für das Wahlprogramm abzuleiten. Einfach wird dies nicht, denn die Piraten, welche sich hier an der Meinungsbildung beteiligen, sind sowohl Patienten, als auch Ärzte, Apotheker und sonstige Leistungserbringer, alle mit unterschiedlichen Interessen.