Stefan Körner (@Sekor), Landesvorsitzender in Bayern, hat dem “Spiegel” beim Bundesparteitag (BPT) in Bochum ein Interview gegeben, das intern einigen Wirbel ausgelöst hat. Darin hieß es unter anderem:
Wir werden dafür gewählt, dass die Leute ihre Unzufriedenheit mit der bestehenden Parteienlandschaft äußern können. Meinetwegen können alle Anträge zum Wirtschaftsprogramm abgelehnt werden, weil wir mit Sicherheit nicht morgen als die Partei mit der wirtschaftspolitischen Kompetenz wahrgenommen werden. Da stehen sowieso nur Phrasen drin, jeder Werbeprospekt ist realitätsnäher.
Im Interview mit unseren Redakteuren Michaela Keupp und Michael Renner macht @Sekor deutlich, wie es dazu kam – und wie sehr er an seiner Arbeit für die Piraten hängt.
Flaschenpost: Du hast im Spiegel-Interview sehr deutlich Kritik am Wirtschaftsprogramm geübt. Gibts keinen anderen, konstruktiveren Weg?
Sekor: Okay, die Kritk kam sehr unverblümt und sehr öffentlich. Ich hätte das vielleicht auch einen Hauch netter sagen können. Aber: Letztlich geht es genau darum. Und ich habe bisher auch nie ein Geheimnis darum gemacht, wie ich zum Thema Programmerweiterung stehe.
Flaschenpost: Deine Kritik traf eigentlich das ganze Verfahren, das Wirtschaftsprogramm war nur ein Beispiel, oder? Dann muss die Frage aber lauten: Was genau läuft mit unserer Programmatik falsch?
Sekor: Vielleicht ist es sinnvoll, das mit etwas Abstand zu betrachten.
Einzig und allein die Tatsache, noch nie ein Wahlversprechen gebrochen zu haben, unterscheidet uns wirklich von allen anderen Parteien. Und: Ein großer Teil der Politikverdrossenheit kommt von der Tatsache, dass die Wähler sich immer mehr von den etablierten Parteien getäuscht fühlen.
Je mehr Versprechen wir nun nach und nach in unsere Papiere zimmern, desto eher kann es uns passieren, dass wir einfach nur eine weitere Partei werden die das eine sagt und das andere tut. Der Spiegel hatte mich gefragt, wie zufrieden ich mit dem bisherigen Verlauf des BPT sei; die Antwort bezog sich also nicht auf einen einzelnen Antrag.
Im Zuge der Diskussionen um den Antrag der AG60+ gab es ein Argument, das immer wieder wiederholt wurde, fast schon ein Mantra: In Deutschland gebe es 21 Millionen Rentner und diesen müssten wir unbedingt “etwas anbieten”, um wählbar zu sein.
Auch für die Anträge zur Wirtschaftspolitik wurde so geworben: Wir müssten endlich zur Wirtschaftspolitik etwas sagen, um wählbar zu sein. Das ist der falsche Ansatz.
Flaschenpost: Warum?
Sekor: Vor drei Jahren kannte die Piraten praktisch niemand. Aber wir haben damals aus dem Stand fast eine Million Menschen davon überzeugt, einer vollkommen unbekannten Partei mit nur einer Handvoll knackiger Forderungen ihre Stimme zu geben – das brachte uns über 2% der Stimmen. Heute wissen die meisten Wahlberechtigten wer die Piraten sind.
Wir haben glaubhaft dargestellt, dass wir für einen klaren Kern von Forderungen stehen: Wahrung der Bürgerrechte, Zugang zu Wissen und Bildung, Kampf um eine neue Politik mit mehr Beteiligung aller. Deswegen wurden wir gewählt. Und nicht wegen eines Wahlprogramms.
Flaschenpost: Also auch in Zukunft kein Wahlprogramm?
Sekor: Exakt. Denn Menschen wählen keine Wahlprogramme. Menschen wählen Parteien nach einem Lebensgefühl oder einem Wertekanon. Den kann man ohne Schwierigkeiten ausdrücken, ohne zum Beispiel ein Rentenprogramm zu haben: Denn das verspricht zwar allen Rentnern Geld, ist aber für den Großteil irritierend oder sogar verängstigend. Denn wie wollen wir den Wählern denn erklären, dass sie sich in vielen Jahren zwar einen überdurchschnittlichen Anspruch erarbeitet haben, wir die Renten zugunsten eines BGEs aber abschaffen wollen?
Flaschenpost: Wir Piraten sitzen in vier Landtagen, unsere Fraktionen leisten gute Arbeit. Trotzdem sind wir in der Wählergunst gesunken – auch ohne falsche Wahlversprechen und “richtige” Fehltritte. Wie erklärst Du Dir das?
Sekor: Die schlechten Umfrageergebnisse kommen im Wesentlichen daher, dass wir außerhalb der Wahlkämpfe in den Medien deutlich weniger vorkommen als die etablierten Parteien. Das ist nichts Neues, wir hatten zwischen den vier vergangenen Wahlen immer auch einen Rückgang in den Umfragen. Sobald der Wahlkampf in die heiße Phase geht, werden die Piraten auch im Wählerzuspruch wieder steigen.
Flaschenpost: Was läuft falsch, warum werden wir zwischen den Wahlen nicht wahrgenommen? Sicher machen wir einen guten Wahlkampf, aber auch dazwischen sind wir sehr aktiv.
Sekor: Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Gründe, warum eine Partei für die Medien interessant ist: Sie ist wichtig; aber das sind die Piraten leider halt nicht wirklich überall. Oder sie bietet einen Unterhaltungswert; da sind wir schon eher dabei. Aber das ist halt genau das, was wir nicht nicht wollen.
Flaschenpost: Lass uns noch einmal auf die Art und Weise zurück kommen, in der wir über Anträge bei Parteitagen abstimmen. Wer in einem Antrag einen Kritikpunkt oder auch nur ein Wort findet, dem er nicht zustimmen kann, lehnt ihn ab. Das führt zu Anträgen ohne wirklichen Inhalt. Was bleibt, sind Worthülsen, die keinen Widerspruch provozieren. Und die auch keinen Wähler aufmerksam werden lassen.
Sekor: Eine Lösung gibt es: Wir könnten die Einreichungsfristen für programmatische Anträge streichen und auch am Parteitag noch Änderungen zulassen. Aber damit wäre nichts gewonnen. Am Ende würden 2000 Mann um einzelne Kommata streiten.
Wir werden also künftig mehr Möglichkeiten schaffen müssen, Anträge im Vorfeld eines Parteitags besser gemeinsam ausarbeiten zu können. Leider ist die Software Liquid Feedback dazu allem Anschein nach nur sehr bedingt geeignet. Die Kritik daran wurde hinlänglich beschrieben und muss hier nicht noch einmal wiederholt werden.
Die Frage ist: Schaffen es die Piraten irgendwann, etwas Neues zu etablieren, was eben auch tatsächlich funktioniert?
Flaschenpost: Also geht es Dir darum, dass die Piraten im Programm kantiger werden?
Sekor: Wenn kantiger “eindeutig von Anderen zu unterscheiden” bedeutet, dann unbedingt ja. Die Demokratie in Deutschland hat ja nicht auf eine Partei gewartet, die sich kaum wahrnehmbar zwischen den Grünen und der Linken einkuschelt. Da muss eindeutig mehr kommen, um dauerhaft erfolgreich zu sein.
Flaschenpost: Wie sieht die Lösung aus?
Sekor: Wir brauchen klare, kernige, eindeutige Forderungen, die die anderen Parteien dazu zwingen, über Lösungen nachzudenken, die uns entgegen kommen. Wir brauchen Positionen, die sich so deutlich unterscheiden, dass es unserem politischen Gegner die Schweißperlen auf die Stirn treibt, wenn sich abzeichnet, dass die Wähler uns dafür unterstützen. Erst dann besteht die Chance auf eine Bewegung in den Positionen der anderen – und erst damit gestalten wir Politik wirklich mit. Das können wir allein wegen der fehlenden Manpower nicht auf allen Gebieten leisten. Deshalb plädiere ich dafür, wenige Positionen umso deutlicher herauszuarbeiten.
Flaschenpost: Ein altes Sprichwort sagt “Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es”. Wie wirst Du Dich beim nächsten BPT dafür einsetzen, dass wir ein Programm bekommen, mit dem wir Wähler anderer Parteien für uns begeistern?
Sekor: Wie gesagt: Nicht das Wahlprogramm ist es, das aus den Piraten die wählbare Alternative zu anderen Parteien macht. Wir müssen den Menschen glaubhaft versichern, dass wir für eine neue Politik stehen, dass uns Mitbestimmung tatsächlich wichtig ist, wir Transparenz nicht für ein Modewort halten und Bürgerrechte nicht nur gerne mal erwähnen, weil es gut klingt. Dann werden wir mit Leichtigkeit genügend Wähler davon überzeugen, uns ihre Stimme und ihr Vertrauen zu schenken und damit die Politik in Deutschland nachhaltig zu verändern.
Flaschenpost: In den letzten Wochen gab es einige Kritik an deinen Äusserungen in Interviews, nicht nur an dem Spiegel-Zitat aus Bochum. Tust Du das als Shitstorm ab? Oder beeinflusst Dich das Feedback?
Sekor: Ich nehme jede Kritik ernst, auch Shitstoms – das ist zwar manchmal nicht einfach, aber es gibt immer einen Kern, auf den man achten sollte. Leichter ist es mit fundierter und sachlicher Kritik.
Flaschenpost: Dann hoffen wir, dass es diese Interview nun entsprechende Reaktionen hervorruft. Der letzte Satz soll von Dir kommen.
Sekor: Die Piraten sind die wichtigste politische Veränderung unserer Zeit, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Wir alle bewegen zusammen etwas Großartiges. Und ich bin sicher, dass unsere – teilweise auch heftig geführten – Auseinandersetzungen wichtig sind, um die Richtung dieser Veränderung gemeinsam festzulegen. Darum bleibt für mich am Ende der Appell an alle gemeinsam: Klarmachen zum Ändern!
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.