Der zweite Tag der Gesundheitskonferenz begann mit zwei Vorträgen von Matthias Blum (Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft NRW) und Michael Süllwold (Verband der Ersatzkassen e. V.) über die Krankenhausversorgung in Deutschland und NRW.
Krankenhausversorgung in Deutschland und NRW
Die Ansichten von Blum und Süllwold zur momentanen und zukünftigen finanziellen Situation der Krankenhäuser gingen in großen Teilen sehr weit auseinander. Blum sprach von Arbeitsverdichtung in den Krankenhäusern seit 1995 (durch weniger Mitarbeiter, mehr Krankenhausfälle, schnellere Durchlaufzeit von Patienten in der stationären Behandlung) von Ärzte- und Pflegekräftemangel, sowie einer Unterfinanzierung der Krankenhäuser, weil der Gesetzgeber seiner Pflicht, die Investitionskosten vollumfänglich abzudecken, nicht nachkomme. Ein Gutachten der Bundesregierung bestätigt das auch (Investitionskosten müssten nach Blums Ansicht mit 1,2 Milliarden Euro finanziert werden, momentan sind es aber nur 500 Millionen Euro). Eine Klage sei allerdings nicht erfolgversprechend, da der Gesetzgeber in dieser Hinsicht sehr autonom sei.
Krankenhausversorgung zukunftssicher?
Süllwold relativierte die Angaben Blums beispielsweise mit der Aussage, dass Krankenhäuser, die teilweise Aktiengesellschaften sind, hohe Gewinne generieren und Aktionäre mit Beiträgen der Versicherten füttern. Diese Gewinne fließen dann nicht in das deutsche Sozialsystem zurück, sondern zur weiteren Gewinnmaximierung ins Ausland. Krankenhäuser finanzierten, so Süllwold, fehlende Investitionsförderung mit Erlösen, die eigentlich für die Patientenversorgung vorgesehen seien. Der Entwicklung, dass Dividenden Gelder aus dem Gesundheitssystem ziehen, könne bei der momentanen Rechtslage nicht entgegengewirkt werden. Das war ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl an die Piraten, an dieser Stelle programmtisch anzusetzen. Darüber hinaus gäbe es überflüssige Standorte von Krankenhäusern, notwendige Kapazitäten fehlten an anderer Stelle. Die Ausgaben der GKV seien von 2005 bis 2011 um 24 % gestiegen, in den Jahren 2012 und 2013 sei ein weiterer Ausgabenschub zu erwarten. Die Krankenhausversorgung sei also auch zukünftig gewährleistet.
Diskussionsrunde mit Matthias Blum und Michael Süllwold sowie Lukas Lamla, Simon Kowalewski und Olaf Wegner
In der anschließenden Diskussionsrunde stellten die Piraten sowohl Fach- als auch grundlegende Systemfragen, ob das momentane Gesundheitssystem noch zeitgemäß sei. Insbesondere die Frage, ob weiterhin finanzielle Anreize und Wettbewerb die Patientenversorgung bestimmen solle und ob die Qualität der Gesundheitsversorgung vom Geldbeutel der Patienten abhängig sein darf, beschäftigten die Piraten. Eine klare Antwort von Blum: „Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt.“ In dieser Hinsicht sah er also keinen grundlegenden Handlungsbedarf. Ob sich die Piraten damit zufrieden geben, darf getrost bezweifelt werden.
Podiumsdiskussion zur Gesundheitskarte mit Prof. Arno Elmer (gematik), Dr. Ing. Lutz Martiny (achelos GmbH) und Dietmar Schulz (MdL)
Eine hoch emotional geführte Diskussion um die elektronische Gesundheitskarte (eGK) folgte. Die Piraten verfolgen die Entwicklung zur eGK seit ihrer Gründung 2006. Das größte IT-Projekt der Welt hat das Ziel, die Leistungserbringer und Kostenträger besser zu vernetzen und die Qualität der Gesundheitsversorgung insgesamt zu erhöhen und ist mittlerweile bei dem Stand, dass die eGK zur Zeit an die Versicherten ausgerollt werden, allerdings ohne das Ziel der besseren Versorgungsqualität (und damit Menschenleben zu retten) erreichen zu können. Die Daten, welche auf der eGK momentan gespeichert werden, gehen nicht über das hinaus, was bisher auf der Gesundheitskarte gespeichert war (abgesehen vom Lichtbild zur Identifizierung des Patienten).
Ein wirtschaftlicher Nutzen der eGK sei, das Adressänderungen direkt auf der Karte geändert werden können und somit weniger Neuversorgungen angestartet werden müssen. Die eGK kostet allerdings in der Produktion um ein Vielfaches mehr als die normale Gesundheitskarte, womit die eingesparten Kosten sich wieder relativieren. Dietmar Schulz gibt daneben zu bedenken: Es werden auch bestimmte Industriezweige oder Dienstleister vernetzt, die mit der Gesundheitsversorgung gar nichts zu tun haben und trotzdem wirtschaftlichen Nutzen aus dem Datenmaterial ziehen. Wenn Gesundheitsdaten verarbeitet werden sollen, um dem hehren Ziel dieses Projektes gerecht zu werden, dann sollten ausschließlich die Patienten Zugriff auf die Kartendaten haben. Die Daten würden nur zwischen Ärzten und Apothekern verschlüsselt versandt, aber nicht in großen Datenbanken gespeichert.
Am Ende liegen die Daten aber unverschlüsselt in den lokalen Netzen der Ärzte und Apotheker vor, in denen die Anforderungen nach SGB X § 78 (technische und organisatorische Maßnahmen) häufig nicht umgesetzt und deren Einhaltung nicht von den Aufsichtsbehörden kontrolliert werden. Die Piraten fordern einen Stopp des Rollouts, da der momentane Entwicklungsstand keinen Nutzen hat. Weder für den Patienten noch ist die Karte wirtschaftlich, weil sie um ein Vielfaches teurer ist als die bisherige Karte. Und die Sinnfrage darf hier auch gestellt werden: Nach einem Testverfahren mit 82 Millionen Usern ohne Aussicht darauf, die gesetzten Ziele mit der momentanen eGK zu erreichen – warum wird das Produkt nicht erst einmal fertig entwickelt und dann im Kleinen getestet?
Psychische Störungen – Situation in Deutschland und Stigmatisierung mit Xenija Wagner und Reinhard Schaffert (beide von der AG Psyche)
Der letzte Vortrag des zweitägigen Gesundheitskongresses beleuchtete die Situation von Menschen in Deutschland, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben.
Definition (psychische Gesundheit): „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen (WHO).“ Eine psychische Störung sei demnach eine deutliche Abweichung von der Norm.
Ein Drittel aller Bürger nimmt psych. Behandlungsangebote in Anspruch. Langzeitbetroffene: 750.000 Menschen in Deutschland. Psychische Störungen sind demnach keine Randerscheinung in unserer Gesellschaft. Unter anderem fallen Depressionen, Angststörungen und Süchte in den Bereich von psychischen Störungen. Arbeitslosigkeit und niedriges Bildungsniveau stellen einen Risikofaktor für psychische Störungen dar.
Probleme in der Versorgung ergeben sich durch eine zu niedrige Facharztdichte, die nicht ausreichende Bettenanzahl und die Anzahl der psychologischen Fachabteilungen. Die damit verbundenen Wartezeiten auf ein Erstgespräch betragen durchschnittlich drei bis fünf Monate. Ausbaubedarf ergibt sich für psychologische Fachabteilungen in Krankenhäusern sowie teilstationäre Plätze. Darüber hinaus sorgt die Konkurrenz zwischen Psychiatrie und Psychosomatik für Verunsicherung bei den Patienten.
Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben Menschen mit psychischen Störungen große Probleme Fuß zu fassen.
Stigmatisierung: Es gibt deutliche Vorbehalte in der Gesamtbevölkerung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen. Laut einer Studie von Angermeyer & Matschinger halten 49,6 % der Befragten Menschen mit psychischen Störungen für unberechenbar. Woher diese Vorbehalte kommen, so Wagner, erklärt sich u. a. aus der Medienberichterstattung: 51 % aller BILD-Artikel in Bezug auf psychische Störungen haben einen Zusammenhang mit Straftaten. Gegen diese Stigmatisierung sollte nach Ansicht von Xenija Wagner Aufklärungsarbeit geleistet werden. Auch die Medien sollten sich ihrer Verantwortung im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen und deren Auswirkungen bewusst werden. Die Mitglieder der AG Psyche haben bereits mehrere Programmanträge (PA109-PA113 – diese haben es in Bochum nicht auf die Tagesordnung geschafft) erstellt, welche zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung und der gesellschaftlichen Situation von Menschen mit psychischen Störungen mit sich bringen würden. „Aber auch der Leistungsdruck auf den Menschen sollte verringert und sonstige Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und im gesellschaftlichen Zusammenleben verbessert werden, um psychische Erkrankungen zu vermeiden. Dies wäre eine Lücke, welche die Piraten als politische Schnittstelle füllen könnten.“ so Pirat Ulrike Mös.
Es bleibt insgesamt abzuwarten, welche Schlüsse die Piraten aus dieser Veranstaltung ziehen und welche Anträge ihren Weg ins Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September finden werden.
Zum guten Schluss noch ein Veranstaltungstipp:
Das nächste Treffen der AG Gesundheitspolitik findet am 7. Februar um 19 Uhr im Mumble statt.