Sandra Leurs, Piratin aus Krefeld, ist examinierte Pflegefachkraft. Sie hat einiges in ihrem Beruf erlebt. Genug, um ihren Beruf aufzugeben und bei den Piraten ein Auge auf die Pflegepolitik zu werfen.
Total überlastet
“Doppeldienste, tagelanges Durcharbeiten ohne freie Zeit, hetzen über die Flure und das im Drei-Schichten-System. Die immerwährende Frage: Schaffe ich die Arbeit? Zwei Stunden nach Feierabend kommt der Anruf: Samstag Spätdienst, Sonntag Frühdienst. Das ist die Normalität in den Pflegeheimen.” sagt Sandra Leurs. Und weiter: “Schlimm ist ja nicht nur das Einspringen am Wochenende, sondern auch die Schichteinteilung: Samstags Spätdienst bis 21.00 Uhr (bei Notfällen auch gerne mal bis 22.00 Uhr) und dann Sonntags zum Frühdienst, Beginn offiziell um 6.30 Uhr. Aber weil am Wochenende nur mit 2 Pflegekräften gearbeitet wird, musste ich den Dienst als Pflegefachkraft früher antreten, um die Aufgaben einer Examinierten mit zu erledigen: Medikamente bereitstellen, Blutzucker oder Blutdruck messen. Da habe ich immer eine Stunde eher angefangen.”
Es wurde in schöner Regelmäßigkeit gegen das Arbeitsschutzgesetz verstoßen. Sandra Leurs sei ja selbst Schuld daran, dass sie den Frühdienst eher angetreten habe, so die Caritas auf ihre Beschwerde. Sie solle sich die Zeit doch besser einteilen, dann brauche sie nicht so früh anzufangen. Aber bei drei Pflegekräften und 27 Bewohnern auf der Station, da konnte Sandra Leurs keine bessere Einteilung finden. Es hat sogar Wochenenden gegeben, an denen sie allein für 90 Bewohner verantwortlich war.
Deshalb fühlen sich viele Fachpflegekräfte überlastet und ausgebrannt – und verlassen ihren Beruf nach durchschnittlich zehn Jahren.
Unzumutbare Arbeitsbedingungen
Die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, egal ob in der Kranken-, Kinder- oder Altenpflege sind unzumutbar geworden. Manchmal arbeiten Pflegekräfte bildlich bis zum Umfallen, weil die Arbeitgeber wissen: Pflegekräfte fühlen sich immer den Patienten bzw. Bewohnern verpflichtet.
Dazu kommt der Druck der Heimleitung oder der Pflegedienstleitung: “Der Versorgungsauftrag der Einrichtung MUSS erfüllt werden!”
Dabei sind Pflegekräfte sowieso schon immer im Einsatz, ob an Samstagen, Sonntagen oder Feiertagen, eben an all den Tagen, an denen sich andere mit ihrer Familie treffen.
Übermäßige Dokumentationspflichten führen dazu, dass die Arbeit am Patienten weniger wird. “Jeder einzelne Schluck Wasser muss dokumentiert werden,” so Leurs.
Die Pflege findet nur noch im Laufschritt und unter Zeitdruck statt. Dies macht Pflegekräfte und Ärzte, ja eigentlich alle Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten, selbst krank – bis zum Burnout.
Renditeorientierte Personalführung
Die Abwanderung aus den Pflegeberufen ist der renditeorientierten Personalführung zuzuschreiben.
Beispiel: Die Asklepios-Kliniken. Deren Prinzip: weniger Personal – mehr Gewinn.
Gemessen an Konkurrenzunternehmen die publikationspflichtig sind, kann man bei Asklepios von einer Eigenkapitalrendite von rund 15 % und einer EBITDA-Rentabilität von rund 10 % ausgehen. Dies entspricht einem Gewinn von 230 Mio. Euro pro Jahr. In einer Investorenschrift rühmt sich Asklepios für seine im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlichen operative Ertragskraft. Das ist das Asklepios-Modell: Nach der Privatisierung wird meist die Bettenzahl erhöht und gleichzeitig Personal abgebaut. Stellen werden nicht neu besetzt und Zeitverträge nicht verlängert. Mit weniger Personal werden dann mehr Patienten versorgt. Obwohl die Fallzahlen steigen und der Arbeitsdruck ständig wächst, nimmt der Personalschlüssel kontinuierlich ab.
Natürlich sorgt die permanente Unterbesetzung für Unmut beim Personal und führt zu einer qualitativ schlechteren Patientenversorgung. Mitarbeiter von Asklepios, die mit Journalisten nur inkognito sprechen, berichten von eingekoteten Patienten, die ungewaschen auf die Station eingewiesen werden. Von Nachtschichten auf Stationen, auf denen nur noch eine einzige Pflegekraft Schwerkranke und Frischoperierte betreut. Von Arzthelferinnen aus Zeitarbeitsfirmen, die anstelle von ausgebildeten Kräften in der Notaufnahme eingesetzt werden.
Die Pflege ist ein großer Wirtschaftszweig geworden, der Manager mit dubiosem Geschäftsgebaren anlockt, um eine Pflegefabrik nach der anderen zu bauen. Dabei wissen diese Manager gar nicht, was pflegebedürftige Menschen wirklich brauchen: Zeit, Zuwendung und eine Einrichtung, in der ein menschenwürdiges Leben möglich ist.
Dazu kommt der demographische Wandel. Die Alterspyramide kippt, es gibt immer mehr pflegebedürftige Menschen und immer weniger Pflegekräfte. Der Arbeitsmarkt für Pflegefachkräfte ist leergefegt.
Verbale und nonverbale Gewalt in der Pflege
Der Psychiatrie-Professor Karl Beine von der Uni Witten-Herdecke sagt: “Es gibt eine zynische Erstarrung der Pflegenden gegenüber ihrem Beruf, die sich schon früh bemerkbar macht, nämlich in der verrohten Sprache gegenüber den zu Pflegenden. Dieser Zynismus ist ein Symptom von Burnout. Die verbale Gewalt findet tagtäglich in vielen Einrichtungen statt, in denen Menschen gepflegt werden.”
Dazu gehört das Duzen der Bewohner und Sätze wie: “Meine Güte, haste schon wieder alles vollgeschissen!” oder “Mach schneller, das Aufstehen muss schneller gehen!”
Aber auch die Verletzung des Schamgefühls, Mangelernährung, verbale Attacken, die ungenehmigte Fixierung, der Entzug von Zuwendung und die Erteilung von Redeverbot sind weitere Beispiele.
Sandra Leurs berichtet: “Schon 1998, während meiner Ausbildungszeit, haben der Deutsche Berufsverband Altenpflege und das Kuratorium Deutsche Altenhilfe eine Initiative gegen die Gewalt in Pflegeheimen gestartet und schätzten die Dunkelziffer von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen sehr hoch ein.”
Und über selbst erlebte Gewalt: “Die Bewohnerinnen sitzen, wie jeden Vormittag, auf dem Gang vor der Wand aus Glasbausteinen. Mehrere Damen sitzen dort und rauchen, rätseln, stricken oder dösen nur. Eine Mitarbeiterin hält ihre Arme so, als wenn sie ein Maschinengewehr in den Händen hat, zielt auf die alten Damen und ruft ganz laut: Bam, bam, bam, ihr wart zu lahmarschig heute morgen. Das rüttelt die alten Damen aus ihrer Ruhe und einige schreien laut (Kriegsgeneration). Ich habe damals meine Kollegin bei der Pflegedienstleitung gemeldet, aber ohne Konsequenzen.”
Gewalt in der Pflege kann auch die medikamentöse Ruhigstellung oder die Fixierung sein. Oft werden heute Psychopharmaka zur Beruhigung Demenzkranker verabreicht, um z. B. eine Weglauftendenz oder das aggressive Verhalten der Erkrankten einzudämmen.
“Aber auch ohne Medikamente wäre dieses Verhalten von Demenzkranken zu bewältigen, nämlich mit Aufmerksamkeit, Beschäftigung und Nähe. Dazu fehlt es aber in vielen Einrichtungen an Personal und so wird dann die Pharmakeule eingesetzt,” erläutert Leurs.
Die Fixierung muss von einem Richter angeordnet werden, aber auch ohne diese Genehmigung wird fixiert, weil nicht genug Personal zur Beaufsichtigung schwieriger Patienten vorhanden ist. Das ist Freiheitsberaubung und kann strafrechtlich verfolgt werden. Dazu kommt die Unerfahrenheit mancher Pflegekräfte im Umgang mit Fixierungsgurten. Es gab in Deutschland deswegen schon einige Todesfälle. Die Menschen haben sich in den nicht sachgemäß angelegten Gurten stranguliert. Auch ein Bettgitter zur Sturzprophylaxe ist Freiheitsberaubung, wird aber ebenfalls eingesetzt.
Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Straßburg hat Ende 2001 massive Kritik an den deutschen Pflegeheimen geübt. Bis zu 85 % der deutschen Heimbewohner seien unterernährt und ausgetrocknet, weil ihnen zu wenig Nahrung und Flüssigkeit verabreicht werde.
Der medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) sieht diese Qualitätsdefizite nicht als Einzelfälle, sondern als strukturbedingtes Problem.
Überfällige Reformen
“Die von der Bundesregierung geplante Erhöhung des gesetzlichen Pflegeversicherungsbeitrages um 0,1 % reicht nicht aus, um den Pflegenotstand und den Personalmangel in Pflegeeinrichtungen abzudecken,” so Leurs.
Der Beitragssatz müsse von zur Zeit 2,0 % auf mindestens 3,0 % angehoben werden, damit eine adäquate Ausbildung gewährleistet und die notwendige Erhöhung der Personalschlüssel zur unmittelbaren Verbesserung der Arbeitsbedingungen finanziert werden können.
Die Niederlande, Dänemark und Schweden machen es vor: Dort ist nicht nur die Finanzierung der Pflege besser geregelt.
So berichtet ein deutscher Krankenpfleger aus den Niederlanden: “Die Patienten haben ein Recht auf Privatsphäre. An jedem Bett sind Bettgardinen angebracht. Die Patienten gehen zur Visite, zu Gesprächen mit der Familie oder der Krankenschwester in einen separaten Raum. Man kommuniziert hier viel mehr auch mit der Familie, bezieht diese mehr in alle Prozesse und Entscheidungen ein. Es gibt offizielle Absprachen mit den Patienten, sie gegebenenfalls nicht zu reanimieren, nicht künstlich zu beatmen oder keine Intensivbehandlung vorzunehmen. Darüber sind selbstverständlich auch die Angehörigen informiert. Wir bieten auf Wunsch Sterbehilfe. Medikamentenausgabe und Infusionen sowie Transfusionen und die Gabe von Opiaten müssen IMMER von zwei Examinierten abgezeichnet werden. Krankenpflegepersonal ist IMMER angeschlossen bei der BIG, einer Kammer für medizinisches Personal zur Qualitätssicherung. Jeder hier hat ein Recht auf eine Fachweiterbildung alle zwei Jahre, voll finanziert.”
“Wir dagegen sind ein Pflegeentwicklungsland!” meint Leurs.
Vorschläge für die Pflegeausbildung
Sandra Leurs hat hierzu ein Positionspapier entwickelt und für den Bundesparteitag in Neumarkt zur Abstimmung eingereicht. Wir stellen es in Auszügen vor:
Alle Pflegeschüler sollen in den ersten zwei Jahren gemeinsam den fachtheoretischen Unterricht besuchen, ab dem dritten Jahr soll eine Spezialisierung in einem bestimmten Fachgebiet erfolgen.
Die Ausbildung soll auch in Teilzeit möglich sein und mit einem einheitlichen Berufsabschluss und der Berufsbezeichnung “Pflegefachkraft” mit Schwerpunkt im jeweiligen Fachgebiet abschließen.
Der Zugang zur Pflegeausbildung darf wegen des Pflegenotstandes nicht verschärft werden, also entgegen der für Europa angedachten Akademisierung kein Abitur voraussetzen.
Zusätzlich sollen entsprechend qualifizierte Fachärzte die Berufseignung der Schüler(innen) – sowohl die physische als auch die psychische – ermitteln.
Leurs fordert darüber hinaus eine angemessene Zahl an Lehrkräften, die über eine pflegepädagogische Hochschulausbildung verfügen. Die bereits bestehenden Arbeitsverträge für bisherige Schulleitungen und Lehrkräfte an Altenpflege- und Krankenpflegeschulen sollen aber bestehen bleiben.
Die Pflegeschulen sollen eine übergeordnete Verantwortung für die Lernziele während der Ausbildung tragen, auch wenn es um die Koordination der praktischen Einsätze geht.
Die Mindestanforderungen an die praktische Ausbildung sollen in einer Prüfungsordnung manifestiert werden.
Eine angemessene und gleichgestellte Ausbildungsvergütung muss in einem Tarifvertrag verankert sein. Nach zwei Jahren Berufstätigkeit soll es Pflegefachkräften ermöglicht werden, an akademischen Weiterbildungen teilzunehmen.
Die Finanzierung der Ausbildung soll über ein Fondssystem erfolgen, wobei die Ausbildung für die Schüler kostenlos sein soll. Jede Pflegeeinrichtung soll in diesen Fonds einzahlen, auch wenn sie nicht ausbildet.
Sandra Leurs kann sich auch neue Tätigkeitsfelder und Berufsbilder in der Pflege vorstellen, um die Qualität der Pflege nach ausländischem Vorbild maßgeblich zu erhöhen: Präventive Hausbesuche, Patienten- und Genesungshotels oder sogenannte Telepflege, z. B. ein computergestütztes System zur Blutdruckmessung am PC mit Übermittlung der Daten direkt zum Arzt oder Fachkrankenpfleger.
Transparentes System der Pflegestufenbegutachtung
“Ein Mensch ist nicht nach Minuten zu berechnen. Das ist menschenunwürdig und kann nicht für jeden Menschen gleich sein. Die Individualität jedes einzelnen Menschen hört im Alter nicht auf. Der Pflegeaufwand kann nur über individuelle Biographiearbeit und direkte Pflegehandlungen durch eine Pflegefachkraft errechnet werden,” so Leurs.
Bei der Einstufung in eine Pflegestufe wird bisher bei allen Senioren für Verrichtungen des täglichen Lebens derselbe Zeitaufwand berücksichtigt, beispielsweise 5 Minuten für einen Toilettengang. Das trifft aber nicht auf jeden Menschen zu. Manche Menschen benötigen für dieselbe Verrichtung mehr Zeit, etwa weil sie beim Toilettengang ein Buch oder die Zeitung lesen.
Wichtig ist, dass der Mensch sich als ganzheitliches Individuum fühlen kann. Und das funktioniert nicht im Minutentakt.
Vorschlag: Pflegekammer
Während es in verschiedenen EU-Staaten bereits Pflegekammern gibt, existiert in Deutschland bislang noch keine. In einigen Bundesländern wird aber über die Errichtung nachgedacht.
Eine Pflegekammer könnte der Sicherstellung einer bedarfsgerechten pflegerischen Versorgung der Bevölkerung, der strukturierten Weiterentwicklung des Berufsstandes und der demokratisch legitimierten berufspolitischen Vertretung der Pflege dienen.
Aufgaben und Ziele einer solchen Pflegekammer könnten beispielsweise sein:
- Schutz der Bevölkerung vor Pflegefehlern und Gewährleistung von qualifizierter Pflege und Versorgung einschließlich Schiedsgerichtsbarkeit
- verbindliche Berufsordnung und Berufsethik
- Bedarfsplanung zur pflegerischen Grundversorgung der Bevölkerung
- Aufsicht und Kontrolle der Aus- und Fortbildung
- Beteiligung an der Gesetzgebung in Kooperation mit den Ausbildungsstätten, soweit es um die Ausbildung von Pflegekräften geht
Einige Berufsverbände – darunter der Deutsche Pflegerat oder der DVfK – fordern schon länger eine bundesweite Pflegekammer. Konkrete Bestrebungen gibt es in Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen. In Bayern ist die eine entsprechende Initiative an der FDP gescheitert. Der Deutsche Berufsverband Altenpflege lehnt die Bildung einer Pflegekammer ab und fordert stattdessen eine Erweiterung der Kompetenzen einer examinierten Pflegekräfte. Die Ablehnung wird unter anderem mit der gesteigerten Bürokratie einer solchen Kammer begründet.
Neue Wohnformen für die ältere Generation
Quartierhäuser, also Hausgemeinschaften mit ambulanter Betreuung von Pflegediensten, sind eine der neuen Wohnformen für ältere Menschen.
Leurs fordert, die Fördermittel für Einrichtungen in der Form von Quartierhäusern oder Mehrgenerationenhäusern transparenter und schneller zu genehmigen und auszuzahlen.
Insgesamt liefert Leurs zahlreiche Anregungen, welche die Pflegesituation in Deutschland durchaus verbessern könnten.