Selbstbild und Fremdbild klaffen oft erstaunlich weit auseinander. Besonders krass sind die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung und der Realität, wenn ein “Wir hier in Deutschland” ins Spiel kommt. Im Vergleich zu anderen Ländern glauben wir, auf vielen Gebieten an der Spitze zu stehen. Der Vergleich dieses Glaubens mit belegbaren Zahlen führt jedoch zur Ernüchterung.
Korruption
Die “kleine” Korruption, die in einigen Ländern das öffentliche Leben ihrer Bürger lähmt, ist hier zum Glück weitgehend unbekannt. Schmiergelder fließen eher im großen Stil zwischen Unternehmen selbst und auch an Verwaltungsangestellte. Da die Regierung nichts unternimmt, um Gesetze dagegen zu erlassen, landet Deutschland im internationalen Vergleich auf einem der letzten Plätze. Immerhin: Anders als noch vor Jahren können beim Finanzamt nachgewiesene Bestechungsgelder nicht mehr von der Steuer abgesetzt werden. Und die Bestechung von Abgeordneten ist inzwischen immerhin dann verboten, wenn der Geldkoffer direkt im Plenarsaal übergeben wird. Damit endet aber schon jedes Bemühen Schmiergeld, das manche für das Schmiermittel der Wirtschaft halten, zu unterbinden. Abgeordnetenbestechung außerhalb des Parlamentsgebäudes ist in Deutschland noch immer nicht verboten. Schaut man sich um, sieht man auch so manches Großprojekt, an dem sich jemand eine goldene Nase verdient. Die Elbphilharmonie kostete die Hamburger Steuerzahler statt der versprochenen 0.- Euro tatsächlich über 600 Millionen Euro (Stand: Dezember 2012). Bei der frühen Planung des Neubaus des Stuttgarter Bahnhofs wurden 2.5 Mrd. Euro veranschlagt. Aktuelle Schätzungen gehen von 6.8 Mrd. Euro aus. Dabei ist der Bau noch lange nicht fertig, für einige wenige ist die Bauruine jedoch eine Goldgrube. Ob er überhaupt einen Vorteil gegenüber dem alten Kopfbahnhof bringt, ist dabei umstritten. Ähnlich der Kauf der EnBW (Energie Baden-Württemberg AG) durch das Land Baden-Württemberg. Das Versprechen lautete: Der Kauf koste letztendlich nichts, es könnte sogar ein kleines Plus für das Land und die Bürger heraus kommen. Ab 2015 wird das Land jährlich einen dreistelligen Millionenbetrag aus Steuergeldern zuschießen müssen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft. Doch ob es eine gesetzliche Handhabe gibt ist fraglich.
Frauen im Vorstand
Um die Chancengleichheit ist es bei uns nicht gut bestellt. Diese betrifft nicht nur Einwanderer und Arbeiterkinder, sondern auch Frauen, also gut 50% der gesamten Bevölkerung. In Führungspositionen werden Frauen selten gesehen, in Vorständen sind sie praktisch nicht sichtbar. Oft ist die Begründung zu hören, dass Frauen eben nicht so sehr in Führungspositionen strömen, da sie über andere Softskills verfügen. Ein Blick zu unseren Nachbarn zeigt jedoch: Es gibt große Unterschiede im Ländervergleich. Mit 2% das Schlusslicht: Deutschland.
Netzausbau
Wie modern Deutschland tatsächlich ist kann erzählen, wer in ländlichen Gebieten wohnt – gerade im Osten. Es gibt tatsächlich noch Ortschaften ohne DSL und Mobilfunkempfang. Während die Versorgung mit 100 Kabelfernsehkanälen keine Probleme zu bereiten scheint, steckt der Netzausbau in vielen Orten noch in den Kinderschuhen. Ähnlich sieht es entlang der Zugstrecken und auf den Autobahnen aus. UMTS ist oft nicht verfügbar, GPRS ist für heutige Anwendungen ungeeignet und hat bei bewegten Objekten wie Zügen und PKWs Probleme. In anderen Ländern sieht es besser aus. Hochgeschwindigkeitsnetze bis in die Häuser hinein sind in den nordischen Ländern Standard. Und ein Blick in das benachbarte Frankreich zeigt: Die ländlichen Gebiete müssen keine weißen Flecken auf der Landkarte sein. Um ein weiteres positives Beispiel zu nennen: Die Überlandbusse in Süd-Korea bieten ihren Reisenden WLAN an. Das ist im Preis enthalten und kann nur funktionieren, da der Netzausbau an den großen Straßen vorangetrieben wurde. Wie die Pläne deutscher Autobauer zur Vernetzung von Fahrzeugen untereinander, beispielsweise zur Stau- oder Unfallwarnung ohne zuverlässiges Netzwerk funktionieren sollen, bleibt deren Geheimnis.
Pressefreiheit
Die Pressefreiheit ist für Deutsche eine heilige Kuh, an der nicht gerüttelt werden darf. Doch seit Jahren sinkt unser Land im internationalen Ranking. Dieses Jahr ging es in der Beurteilung der Reporter ohne Grenzen wieder einen Platz nach unten auf die 17. Position. Im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn bedeutet das: Mittelfeld! Grund sind unzählige Hausdurchsuchungen bei Journalisten und in Redaktionen sowie die Behinderung der Berichterstattung über Polizeieinsätze.
Platz | Land | Region | Veränderung (Vorjahresrang) |
1 | Finnland | Europa/GUS | 0 (1) |
2 | Niederlande | Europa/GUS | +1 (3) |
3 | Norwegen | Europa/GUS | 2 (1) |
4 | Luxemburg | Europa/GUS | +2 (6) |
5 | Andorra | Europa/GUS | – |
6 | Dänemark | Europa/GUS | +4 (10) |
7 | Liechtenstein | Europa/GUS | – |
8 | Neuseeland | Ozeanien | +5 (13) |
9 | Island | Europa/GUS | -3 (6) |
10 | Schweden | Europa/GUS | +2 (12) |
11 | Estland | Europa/GUS | -8 (3) |
12 | Österreich | Europa/GUS | -7 (5) |
13 | Jamaika | Amerika | +3 (16) |
14 | Schweiz | Europa/GUS | -6 (8) |
15 | Irland | Europa/GUS | 0 (15) |
16 | Tschechien | Europa/GUS | -2 (14) |
17 | Deutschland | Europa/GUS | -1 (16) |
18 | Costa Rica | Amerika | +1 (19) |
19 | Namibia | Afrika | +1 (20) |
20 | Kanada | Amerika | -10 (10) |
Natürlich herrschen hier keine russischen oder gar chinesischen Verhältnisse, aber Durchsuchungen von Redaktionen sind nicht selten. Und während Polizeibesuch bei Printzeitungen wie der Cicero, der Berliner Zeitung und der Augsburger Allgemeinen noch etwas Beachtung finden, interessieren die Durchsuchungen bei freien Radios oder Internet-Streamern kaum jemanden. Als Begründung wird von der Polizei oft die Beweissicherung angeführt. “Wer war die Quelle einer Indiskretion”, oder, wie in Augsburg, “Welcher Kommentator hat dem Stadttat einen zweifelhaften Charakter attestiert”.
[Update 03.06.2013]: In Frankfurt demonstrierten am 02.06. 10.000 Menschen. Die Polizei stoppte den genehmigten Demonstationeszug nach 30 Minuten und kesselte einen Teil der Demonstranten ein. Die Polizei ging anschliessend nicht nur sehr ruppig mit den Demonstranten um, auch Journalisten wurden tätlich angegriffen. Ein Journalist musste wegen der erlittenen Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden, andere berichten von weiteren Übergriffen von Seiten der Polizei: Schuppsen, gestellte Beine, Abdrücken der Halsschlagader (!), “im Vorbeigehen” abgerissene Mikrophone an der Kamera eines Fernsehteams gehörte zum Repertoire der Gewalttätigkeiten gegen die Journalisten. Die Betroffenen weisen darauf hin, dass sie durch ihre Westen deutlich als Pressevertreter gekennzeichnet waren, einige hielten ihren Presseausweis hoch. Dass die Persionalien von vielen Journalisten augenonmmen wurde sei für ein Land, in dem die Pressefreiheit Verfassungsrang geniesst auch eher ungewöhnlich.
Freiheit im Internet
Ein geflügeltes Wort weiß: “Andere Länder, andere Sitten”. Das gilt auch für das Internet. In arabischen Ländern gehört der Islam zur Staatsräson. Viele Seiten, die damit nicht vereinbar sind, stehen dort auf der Sperrliste, sind also nicht erreichbar. Andere Länder legen auf die “nationale Einheit” großen Wert. Die Forderungen nach einem freien Tibet werden, da sie der Staatsdoktrin widersprechen, in China gesperrt. Nun gibt es in Deutschland keine Separatisten und auch keine Staatsreligion, die uns gesetzlich vorschreibt, wie wir leben sollen (auf die “stillen Tage”, für die der Gesetzgeber im Auftrag der christlichen Kirchen Tanz- und Versammlungsverbote ins Gesetz schrieb, soll hier nicht näher eingegangen werden). Das goldene Kalb, um das unsere Gesetze hier tanzen, ist der Kommerz. Und so wundert es nicht, dass die Begriffe “Internet” und “Urheberrechtsverletzung” in Deutschland immer gemeinsam gedacht werden. Das wirkt sich auch auf die Seiten aus, die aus Deutschland heraus nicht erreichbar sind! Von den Top-1000-YouTube-Videos sind in Deutschland 261 nicht erreichbar (andere Quellen sprechen gar von über 600). Zum Vergleich einige Zahlen aus anderen Ländern: Im Südsudan sind 39 dieser Videos gesperrt, in Vatikanstadt 16, in Afghanistan und Palästina je 15. In Deutschland gibt es noch keine flächendeckende Infrastruktur zur Sperrung von Webseiten (Websperren), wie diese in anderen Ländern existiert. Allerdings werden Internetprovider verpflichtet einzelne Seiten aus ihren Nameservern zu entfernen, womit der Aufruf dieser Seiten etwas erschwert wird. Suchmaschinen werden verpflichtet, einzelne Seiten aus ihrem deutschen Angebot zu löschen. Ein Umstand, der auffällt, wenn beispielsweise die Treffer von google.de und google.com verglichen werden.
Kultur
Deutschland versteht sich als Kulturnation. In Wirklichkeit ist von Kunst und Kultur im Land von Goethe und Schiller nur noch ein verkümmerter Rest wahrnehmbar. Die Museen fahren ein Notprogramm, zeitgenössische Kunst sucht man ohnehin vergebens – der Kunstbetrieb lebt von der Erinnerung an eine bessere Vergangenheit.
Pünktlich wie die Eisenbahn
Die Pünktlichkeit der Bahn ist ein Schenkelklopfer der Geschichte, kaum mehr als eine Erinnerung an bessere Tage. Ältere werden sich an “Es soll schneien, nimm lieber die Bahn” Situationen erinnern. Heute ist schon leichter Frost die Garantie für Verspätungen. Kurzfristiges Sparen, beispielsweise Schmierfett für Weichen, das schon bei -5°C zäh wird, führte zu großen Folgeschäden. Die Posse um nicht gelieferte ICE-Wagen, bei dem sich Bahn, der Hersteller und das Verkehrsministerium gegenseitig die Schuld zuweisen kennt jeder. Ein Blick in die Schweiz, ein Land mit extremen Wetterlagen, zeigt: Es geht auch anders. Doch wer von seinen Qualitätsstandards abrückt, zahlt letzten Endes drauf.
Fazit
Es ist nicht alles schlecht, doch Spitzenpositionen nimmt Deutschland in der Welt schon lange nicht mehr ein. Im Vergleich mit anderen Ländern ist sogar ein beständiges Zurückfallen in der Wertung zu beobachten. Das betrifft noch weitere Bereiche. Der “fleißige Deutsche” mit den “niedrigen Lohnstückkosten” gehört ebenso der Vergangenheit an wie ein Deutschland, das einmal Musterknabe der EU war. Für die Zukunft wäre es hilfreich, sich dessen bewusst zu sein um etwas ändern zu können. Wer den Mythen der Vergangenheit anhängt, wird die Notwendigkeit zum Gegensteuern kaum erkennen können.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.