Ein Gastartikel von Ingo Höft und Sebastian Degenhardt
Seit Jahren gibt es eine wichtige und intensive Debatte über basisdemokratische Abstimmungsverfahren innerhalb der Piratenpartei. Oder sollten wir es Liquid Democracy nennen? Das Reizwort heißt jedenfalls “Liquid Feedback”.
Begonnen hat alles am 16. Mai 2010 auf dem Bundesparteitag in Bingen. Bereits bei den Abstimmungen zum Antrag zeigte sich die Kontroverse, es reichte nicht wie üblich eine Abstimmung per Handzeichen, nein – es musste geheim abgestimmt werden. Das Ergebnis zeigte eine Zustimmung von 80 % der Anwesenden zur bundesweiten Einführung von Liquid Feedback – also doch nicht so kontrovers? Mitnichten! Die Debatte um Basisdemokratie, Direkte Demokratie, Liquid Democracy, Delegationen, geheime Wahlen, Nachvollziehbarkeit und Persönlichkeitsschutz beherrscht bis heute alle Medien der Partei.
Das Unbefriedigende an dieser Debatte ist vor allem, dass sie bisher zu wenig greifbaren Ergebnissen geführt hat. Es gab einen Stau von über 800 Anträgen, die offensichtlich nicht mehr von den wenigen stattfindenden Bundesparteitagen bewältigt werden können. Nach dem Mitgliederansturm im Frühjahr 2012 war der Bundesparteitag in Bochum für viele Piraten die erste Versammlung, die sie erwartungsvoll besuchten – und ebenso frustriert verließen, weil in 2 Tagen “nur” 29 Anträge abgehandelt wurden. Für ein paar engagierte Piraten aus Rheinland-Pfalz war dies Anlass, auf Abhilfe zu sinnen.
Man war sich schnell einig, dass es mit Liquid Feedback kurzfristig nicht voran geht, also suchte man nach einer Alternative. Diese sollte sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern akzeptiert werden können, denn gerade in Rheinland-Pfalz haben die Mitglieder große datenschutzrechtliche Bedenken bei Tools, mit denen Abstimmungen online umgesetzt werden, und mit denen Abstimmungsergebnisse allen teilnehmenden Pseudonymen über die einzelnen Abstimmungen hinweg zugeordnet werden können.
Für eine schnelle Lösung wurde auf ein seit Jahrzehnten anerkanntes und bekanntes Verfahren zurückgegriffen: der geheimen Stimmabgabe per Urnenwahl. Wichtig war, dass ein mit dem Parteiengesetz konformes Organ für verbindliche Entscheidungen zum Einsatz kommt und das ist nun mal der Parteitag. Es sollten also vergleichbare Vorgaben wie auf einem Parteitag gelten, allerdings wollte man sich dazu nicht an einem zentralen Ort treffen.
Am 27. Januar beschlossen die rheinland-pfälzischen Piraten auf ihrem Parteitag in Oppenheim daher, die zeitlich begrenzte Einführung einer ständigen dezentralen Mitgliederversammlung (SDMV). Dazu hatten wir uns eine reguläre Mitgliederversammlung als Vorbild genommen und deren Regelungen auf das neue dezentrale Verfahren abgebildet.
Dieses sogenannte Vergleichsprinzip gilt bis heute, wenn es Unklarheiten bei der Abwicklung der SDMV gibt. So trat z. B. zuletzt die Frage auf, wie denn das vorgesehene Kommunikationsmedium für die Antragsdiskussion – hier eine Mailingliste – moderiert werden soll, öffentliche Zurechtweisung eines renitenten Teilnehmers, ausschließlich private Kommunikation mit ihm, oder eine Mischform. Mit Bezug auf den Versammlungsleiter einer Mitgliederversammlung wird dazu vermutlich eine Regelung in Mischform gefunden und kurzfristig per SDMV in ihre Geschäftsordnung aufgenommen werden. Die Diskussion dazu ist zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht abgeschlossen.
Doch nun von Anfang an: Zur Rechtswirksamkeit und nach dem Vergleichsprinzip sollte es sich bei der SDMV um eine Form des Landesparteitags (LPT) handeln, die in der Satzung verankert wird. Neben der bekannten Variante der Landesmitgliederversammlung (LMV) gibt es nun auch die Ständige Dezentrale Mitgliederversammlung. Das führt zur Zeit noch etwas zu Verwirrungen, weil viele “Landesparteitag” sagen, aber die Landesmitgliederversammlung meinen. Die Unterscheidung wird aber deshalb wichtig, weil ein Antragsteller festlegen kann, auf welcher Form des Landesparteitags (LMV, oder SDMV) seine Anträge abgestimmt werden sollen.
Die SDMV wurde knapp einen Monat nach ihrer Einführung eröffnet. Sie tagt seit dem 01.03.2013 und endet voraussichtlich am 30.06.2014. Diese Daten sind in der Satzung festgelegt. Somit gibt es einen klar definierten Zeitraum für dieses demokratische Experiment und für die Verlängerung bedarf es einer 2/3 Mehrheit. Als “Versammlungsleitung” ist die Abstimmungsleitung festgelegt, die die SDMV verwaltet und organisiert.
Im Prinzip handelt es sich also um eine sehr lange Versammlung, die nicht an einem zentralen Ort, sondern über das ganze Bundesland verteilt, tagt. Zu dieser Versammlung wird man einmal akkreditiert, wobei die Akkreditierung wie üblich für die Dauer der Versammlung gilt (Vergleichsprinzip), in diesem Falle also bis zum 30.06.2014. Als Nachweis seiner Akkreditierung erhält man vom Generalsekretär eine Stimmkarte. Auf der Stimmkarte steht übrigens nicht der Klarname des Eigentümers, sondern eine frei generierte Nummer.
Was kann man nun mit einer Stimmkarte anfangen? Sie berechtigt einen Piraten zur Abstimmung an einer bestimmten Urne. Welche das ist, kann jeder selbst festlegen – Urnen in Wohnortnähe sind natürlich bevorzugt.Hier erhebt sich nun die Frage, wie das mit den Urnen organisiert ist, da sie ja sinnvollerweise über das ganze Land verteilt sein sollen. Wenn man diese Aufgabe zentral dem Landesvorstand aufbürdet, dann kommt man schnell zu einem organisatorischen Aufwand, der für das Verfahren nicht mehr sinnvoll und finanzierbar ist. Wir haben deshalb schlicht auf Selbstorganisation gesetzt. Jeder Pirat, der mit abstimmen möchte, kann eine Urne gründen. Damit ist nicht nur die eigentliche Abstimmungsurne gemeint, sondern auch die räumliche Zuordnung und das organisatorische Drumherum. Es ist explizit so gedacht, dass dafür die sowieso mehr oder weniger regelmäßigen Treffen der Piraten auf
Stammtischen, Crew-Treffen, Piratentreffen usw. mitbenutzt werden.
Das alles erfordert natürlich eine durchdachte Organisation, deren Darstellung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Immerhin füllt sie Teile unserer Satzung und eine umfangreiche Geschäftsordnung. Durch den Vergleich mit der Urnenabstimmung auf Mitgliederversammlungen ist das Verfahren jedoch auch für Neulinge leicht verständlich.
Wer näheres zur SDMV erfahren möchte, findet einen Einstieg im Wiki. Auch steht die Abstimmungsleitung des Landesverbandes Rheinland-Pfalz unter E-Mail-Adresse Antrag@piraten-rlp.de gerne für Fragen und Anregungen zur Verfügung.
Die Details und Fakten in der Kurzfassung:
- Parteitag beschließt GO- und Satzung der SDMV
- Stimmberechtigte Mitglieder lassen sich einmalig bei ihrem GenSek akkreditieren und bekommen eine personalisierte Abstimmungskarte
- Mindestens fünf stimmberechtige Mitglieder gründen eine Urne,
dazu wird eine Absichtserklärung per Info-/Haupt- und/oder
Ankündigungsmailingliste verschickt - Mitglieder gründen Urne und ernennen die Abstimmungshelfer
- Urnengründungen werden per Info-/Haupt- und/oder
Ankündigungsmailingliste bekannt gegeben - Abstimmungsleitung gibt Termin per Info-/Haupt- und/oder
Ankündigungsmailingliste für die SDMV bekannt, gleichzeitige
Verkündung der Einreichungsfristen für Anträge - Eingereichte Anträge werden bekannt gegeben
- Stimmberechtigte Piraten können an ihrer Urne über die Anträge
abstimmen (alle Urnen wählen parallel in einem mindestens
2-stündigen Zeitraum, wobei die Urnen zum gleichen Zeitpunkt
geschlossen werden) - Die Abstimmungshelfer geben die Ergebnisse an die Abstimmungsleitung
bekannt - Die Abstimmungsleitung veröffentlich die Ergebnisse im Wiki und per
Info-/Haupt- und/oder Ankündigungsmailingliste - Nach Eintreffen aller Wahlprotokolle bei der Abstimmungsleitung wird
das offizielle Endergebnis veröffentlicht.