Wir haben uns daran gewöhnt, ständig beobachtet zu werden. In öffentlichen Verkehrsmitteln, an öffentlichen Plätzen, in Parkhäusern und Geschäften haben uns Kameras im Auge. Was wir kaufen, fließt in große Datenbanken und hat Einfluss auf den Werbemüll, der täglich unsere Briefkästen verstopft. Die großen Internetkonzerne, deren Infrastruktur wir scheinbar ohne dafür zu zahlen nutzen dürfen, analysieren unser Mails, was wir chatten, welche Bilder und Filme wir anschauen oder selbst hochladen, und nach welchen Dingen wir suchen. Auch das fließt in große Datenbanken, die darüber bestimmen, welche Werbung wir auf Webseiten am Computer und auf dem Mobiltelefon zu sehen bekommen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass mit unserem Verhalten ständig Datenbanken gefüttert werden. Wir können, ja, wir wollen nichts daran ändern, denn wir haben all die kleinen Annehmlichkeiten lieben gelernt und uns mit ihnen kuschelig warm eingerichtet. Die Bewertungen des Restaurants, vor dem wir gerade stehen, kann es eben nur dann geben, wenn wir erlauben, dass unser Standort angepeilt wird. Die Sprachsteuerung erfordert es, dass ein Mikrofon jedes gesprochene Wort zur Analyse an eines der großen Datenzentren schickt. Und wollen wir unsere Adressbücher und Passworte nicht händisch zwischen Computer, Notebook, Pad und Mobiltelefon abgleichen, nehmen wir gerne das Angebot von Clouddiensten in Anspruch, dies automatisch für uns zu erledigen.
Dass all das datenschutzrechtlich bedenklich ist, wissen wir längst. Denn Hand aufs Herz: Wer hat bei seinen Freunden gefragt, ob sie damit einverstanden sind, dass Name, Anschrift, E-Mail-Adresse und die Telefonnummern in irgendwelchen Datenbanken landen – als Futter für die Werbebranche? Wir bekommen Werbung für teure Dinge, falls unser Standort über längere Zeit als „edles Restaurant“ erkannt wird. Aber können wir sicher sein, dass es keinen Punktabzug bei der Kreditwürdigkeit gibt, wenn wir nicht in diese edle Restaurant gehen, nachdem wir lange davor standen? Wer über Stunden im Internet nach dem günstigsten Preis sucht, kann sicher sein, bald Werbung für Kredite zu bekommen. Und wen die Algorithmen als Raucher und Trinker erkannt haben, braucht sich über Werbung für Glücksspiele nicht zu wundern.
Da erscheint die Abhörpraxis der Geheimdienste fast ohne Folgen zu sein. Zwar sammeln die amerikanische NSA und die britische GCHQ alles, was sie bekommen können und speichern es für lange Zeit oder gar für immer, doch Folgen dieser Datensammelwut scheint es für uns selbst kaum zu geben. Der Mann, der etwas über die NSA-Zentrale in Wiesbaden twitterte und deswegen Besuch von der Polizei bekam, ist weit weg. Noch weiter entfernt ist der Musiker, der nicht nach Neuseeland einreisen durfte, da dem Grenzer seine kritische Haltung zu sozialen Schieflagen ganz offensichtlich bekannt war. Am weitesten jedoch ist für uns Edward Snowden entfernt, der die Praktiken öffentlich machte und sich nun vor den amerikanischen Strafverfolgern verstecken muss.
Wegen der für uns scheinbaren Folgenlosigkeit waren auch die „#StopWatchingUs“-Demonstrationen erstaunlich schwach besucht. Nicht wenige der Teilnehmer waren wohl schon 1983 bei den Demonstrationen gegen die große Volkszählung dabei. Damals ging man wegen Fragen wie „Wie viele Zimmer hat ihre Wohnung?“ oder „Wie weit ist ihr Weg zur Arbeit?“ auf die Strasse. Heute, 30 Jahre später, stört sich nur eine kleine Minderheit daran, dass erfasst wird, wer wann mit wem telefoniert und was dabei gesagt wird, wer wem Briefe oder Päckchen schickt oder gar E-Mails, bei denen sogar der Inhalt auf Verdächtiges untersucht wird.
Dass erfasst und gespeichert wird, wer sich in unserer Nähe befindet, egal ob im Fußballstadion, in Kneipen, Bussen oder am Badestrand, blenden wir gerne aus. Selbst unsere Regierung signalisiert Gelassenheit über den Umstand, dass unsere amerikanischen Freunde sich mit Hilfe ihrer überlegenen technischen Möglichkeiten Informationen über europäische Verhandlungsspielräume und Verhandlungsstrategien für politische Gespräche besorgten. Dass uns Englands GCHQ rücksichtsloser abhört als die NSA selbst, wird ebenfalls erfolgreich verdrängt. Ohnehin ist uns England fremd geworden. Das Land erweckt eher den Eindruck eines Brückenkopfes der USA zu Europa, als den eines EU-Mitgliedslandes. Da überrascht es auch nicht mehr, dass in England die Glasfaserleitungen, die unseren Kontinent mit der Welt verbinden, angezapft wurden um jedes Byte zu belauschen das Europa verlässt – und an die NSA weiter zu leiten.
Deutschlands Parteien fehlt es am Willen, dem Abhören ein Ende zu setzen. Deswegen blenden sie die Angelegenheit einfach aus; sie tun so, als handele es sich um einen Unfall, dessen Spuren nur noch zu beseitigen sind. Die ganz Dreisten in der Regierung erklären die Angelegenheit sogar für eine Massenhysterie, ein Hirngespinst von Verschwörungstheoretikern und versuchen das unangenehme Thema mit einem „Basta“ unter den Teppich zu kehren.
Die meisten Politiker von Rot-Grün oder Schwarz-Gelb liegen mit dem, was NSA und GCHQ tun, ohnehin auf einer Linie. Sie wirken ja selbst kräftig am Ausbau der Überwachung mit. Sie beschlossen die Vorratsdatenspeicherung, verabschiedeten die Telekommunikationsüberwachungsverordnung, forderten Internetzensur unter dem harmlosen Begriff „Websperren“, erzwangen die zentrale elektronische Speicherung sämtlicher Einkommensdaten von Arbeitnehmern, führten den Personalausweis mit kontaktlosem RFID-Chip, Fingerabdrücken und biometrischem Foto ein, sie erfanden die Online-Durchsuchung und den Bundestrojaner, führten den Identifizierungszwang für Handykarten ein und gaben der Polizei den IMSI-Catcher in die Hand, mit dem jedes Telefonat abgehört werden kann, auch wenn der Mobilfunkprovider nicht mitspielt.
Und immer wieder wurden auch Gesetze erlassen, die als Basis für die Weitergabe der Daten von Bundesbürgern an andere Geheimdienste dienen: Die Fluggastdaten gehen an die USA, DNA- und Fingerabdrücke kann haben, wer sie anfordert, auf die Anti-Terrordatei, die zum Großteil von Gipfel-Demonstranten bevölkert wird, darf zugreifen, wer gerade ein Gipfeltreffen ausrichtet. Unsere Kontobuchungen schließlich finden über den Umweg des SWIFT-Systems ihren Weg in die USA.
Die Linke schimpft derweil lautstark gegen die stattfindende Überwachung und hat die wenig realistische Parole „Geheimdienste abschaffen“ ausgegeben. Dabei hofft sie inständig, dass niemandem auffällt, welche Gesetze unter ihrer Regierungsbeteiligung in einigen Bundesländern erlassen wurden. Vom flächendeckenden Kennzeichenscanning bis zu den verschärften Polizeigesetzen mit Handy-Ortung und weitreichenden Befugnissen für die Videoüberwachung in Brandenburg und Berlin ist alles dabei, was in die Gesetzgebungskompetenz der Länder gehört.
Wir PIRATEN dagegen, in Umfragen konstant bei 3%, sind die einzige Partei, bei der Bürgerrechte und Datenschutz schon im Gründungsprotokoll stehen. Schaffen wir es bei der Wahl im September einige der harten Sitze auf der Oppositionsbank einzunehmen, ergeben sich damit Chancen, den Abfluss von abgehörten Daten zu verhindern. Das Mooresche Gesetz sagt, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computern alle 16 Monate verdoppelt. In Legislaturperioden gesprochen bedeutet das: Bis zur nächsten Bundestagswahl sind die Überwachungssysteme acht mal so leistungsfähig wie heute. Und das, was heute erfasst wird, erscheint uns bis zum nächsten Wahltermin fast als harmlos.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.