Einige Monate nach der Bundestagswahl 2013 ist der Prozess zur Regierungsbildung nun endlich zu Ende: Die Verhandlungen von CDU und SPD über den Koalitionsvertrag sind vorbei, die Mitglieder der SPD haben abgestimmt und sich mit knapp 76% für das Bündnis mit der Union entschieden. Das Fundament für die Große Koalition, liebevoll GroKo genannt, steht. In den nächsten Monaten und Jahren erwarten uns damit einige Änderungen, denn diese Regierung hat neue Pläne geschmiedet, zu finden natürlich im Koalitionsvertrag. Die Flaschenpost hat ihn deswegen mal ein wenig durchstöbert und interessante Kapitel und Abschnitte hier für euch analysiert und alphabetisch sortiert.
Atomausstieg (S.59)
Hierzu findet sich ein Versprechen im Vertrag, an der bisherigen Planung zum Automausstieg festzuhalten. Demnach soll das letzte Kernkraftwerk im Jahr 2022 vom Netz gehen. Bundeskanzlerin Merkel möchte mit dieser Festlegung wieder ein wenig Boden gut machen, da ihre Stimmungswechsel bezüglich dieses Themas bereits berühmt-berüchtigt sind.
Bildung und Forschung (ab S.26)
Ein doch nicht unbeachtlicher Teil des Koalitionsvertrags (immerhin 13 Seiten) ist dem Thema Bildung und Forschung gewidmet. Problematisch dabei ist jedoch an vielen Stellen, dass es an konkreten Aussagen fehlt. So steht zum Beispiel im Abschnitt Finanzierung des Wissenschaftssystems (S.26), dass die Förderung der Wissenschaft durch die „drei Pakte“ beibehalten werden soll, Details zu Summen oder Daten, wie sie in anderen Abschnitten zu finden sind, findet man hier nicht.
Auch die Bestrebungen der SPD, eine Reform des Bologna-Abkommens, trugen Wohl keine Früchte. Es findet im Koalitionsvertrag keine Erwähnung. Lediglich ein Abschnitt Internationalisierung der Wissenschaft (S.29) berührt das Thema leicht am Rande. So möchte man dafür sorgen, dass bis zum „Ende des Jahrzehnts die Zahl ausländischer Studierender […] auf etwa 350.000 gesteigert wird.“ Auch die Mobilität deutscher Studenten möchte man erhöhen. Doch fehlt auch hier jegliche Information, wie genau man diese Ziele umsetzen möchte.
Datenschutz (S.147)
Eine positive Überraschung hier wären klare Statements zum Thema Spionage-Affäre gewesen. Da sie mit immer neuen Meldungen auf ihre Unaufgeklärtheit aufmerksam macht, müsste man sogar meinen, dies müsse ein Pflichtpunkt im Koalitionsvertrag sein – doch weit gefehlt. Gestreift wird das Thema allemal, zum Beispiel wenn wieder betont wird, wie wichtig die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit sei. Oder wenn geplant wird, die IT-Netze des Bundes in eine einheitliche Plattform „Netz des Bundes“ zu bündeln, um die Daten des Bürgers besser schützen zu können. Es wird viel darüber geschrieben, wie IT-Sicherheit einen höheren Stellenwert bekommen soll. Solange die Regierung aber mit Handlungsunfähigkeit beim größten Datenschutzbruch bis dato präsentiert, sind Zweifel weiterhin durchaus angebracht.
Doppelte Staatsbürgerschaft (S.11)
Laut SPD-Parteichef Sigmar Gabriel sollte die doppelte Staatsbürgerschaft unbedingt mit in den Koalitionsvertrag. Sie hat es auch geschafft, aber Dank der CDU nur in abgeschwächter Form: Eine doppelte Staatsbürgerschaft dürfen laut der Präambel des Vertrags nur Menschen mit Migrationshintergrund besitzen, die bereits in Deutschland geboren wurden. Für neue Zuwanderer gibt es an dieser Stelle demnach keine Besserung.
Energiewende (ab S.49)
Die Entscheidungen bezüglich der Energiewende im Vertrag sind ziemlich durchwachsen. Auf der einen Seite steht man natürlich weiterhin zum ökologischen Umdenken, doch mancher Beschluss scheint dies zu behindern. Am schwersten wiegt dabei wohl, dass die EEG-Umlage zukünftig auch für eigenproduzierten Strom gezahlt werden muss (S.53). Dadurch wird bspw. der Strom von den Solarzellen auf dem Dach des Eigenheims teurer und verliert an Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit.
Zudem bekräftigt der Koalitionsvertrag noch einmal, dass konventionelle Energiequellen (Braunkohle, Steinkohle, Gas) auch in Zukunft vorerst unverzichtbar bleiben werden. Der Bestandschutz für Kraftwerke, die Energie aus fossilen Brennstoffen erzeugen, bleibt also bestehen (S 56).
Europäische Union (ab S.156)
Fast jeder kennt sicherlich die Redensart „Politiker können viel reden ohne etwas zu sagen.“ Wenn es einen Teil in diesem Vertrag gibt, auf den dieser Satz zutrifft, dann ist es der über die EU. Es wird ausschweifend darüber geschrieben, wie wichtig die europäische Zukunft ist, dass die demokratische Legitimation gestärkt werden soll und, dass Deutschland sich für die EU einsetzen muss und wird. Doch wie genau das umgesetzt werden soll, erwähnt der Vertrag nicht. Es scheint so, als habe man sich über diese Punkte keine detaillierten Gedanken gemacht. In Sachen Europapolitik macht es die Koalition spannend.
Fracking (S.61)
Das Thema Fracking ist laut dem Koalitionsvertrag vom Tisch, aber erst einmal nur zurück in den Aktenschrank. Generell lehnen Union und SPD zwar den Einsatz der Technik zur Erdgasgewinnung, die die Verwendung von umwelttoxischen Substanzen beinhaltet, ab. Doch noch möchte man deswegen keine endgültige Entscheidung treffen. Denn es gibt nach Meinung der beiden Parteien keinen hinreichenden, wissenschaftlichen Nachweis, dass keine negative Auswirkungen auf die Umwelt (insbesondere auf die Beschaffenheit des Trinkwassers) zu befürchten sind. Man will zusammen mit den Ländern, der Wissenschaft und Unternehmen weiter daran arbeiten, Forschungsergebnisse darüber auszuwerten.
Frauenquote (S.102)
Die Koalition entscheidet sich für eine Regelung zur Frauenquote für Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen. Ab 2016 muss diese je 30% betragen. Weitere Quoten für andere Betriebsebenen werden nicht festgelegt. Nur eine Ankündigung von weiteren Maßnahmen zur Förderung von Frauen in allen Ebenen der Privatwirtschaft findet man noch vor.
Gesundheit (S.82)
Die größte geplante Neuerung in diesem Bereich dürfte wohl die Änderung der Berechnung der Kassenbeiträge sein. Die pauschalen Zusatzbeiträge werden abgeschafft und demnächst einkommensanteilig abgerechnet. Der Anteil des Arbeitgebers allgemein wird dabei auf 7,3% beschränkt – somit ergibt sich ein Mindestsatz von 14,6%. Damit ist er geringer als die aktuellen 15,5%, doch nur die Anteile vom Arbeitgeber sind festgeschrieben, d.h. dessen 7,3% werden nicht mehr erhöht.
Mietpreisbegrenzung (S.115)
Die „Mietpreisbremse“ soll dazu dienen, dass auch in Gebieten mit angespannten Mietsituationen (insbesondere in Städten) der Wohnraum bezahlbar bleibt. Dies war zumindest die Forderung der SPD, doch auch hier konnte die CDU stark bremsen: Den Ländern wird für fünf Jahre die Möglichkeit gegeben, neue Mietpreise auf maximal 110% der ortsüblichen Vergleichsmieten zu begrenzen. Neubauten und Vermietung nach einer umfassenden Modernisierung sind allerdings davon ausgeschlossen. Eine deutschlandweite Begrenzung, wie zuerst von der SPD gefordert, konnte damit nicht erreicht werden. Ob eine Umsetzung durch die Bundesländer wirklich stattfinden wird, bleibt offen.
Mindestlohn (S.67)
Auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen wird man wohl in dieser Legislaturperiode vergeblich hoffen, doch zumindest auf einen deutschlandweiten Mindestlohn konnten sich Union und SPD einigen. Dieser soll ab 2015 8,50 Euro pro Stunde betragen, allerdings mit einigen Ausnahmen, die bis spätestens 2017 beseitigt werden sollen. Auch Abweichungen in Tarifverträgen sind, unter bestimmten Bedingungen, für maximal zwei Jahre möglich. Der Stundensatz steht zwar fest im Koalitionsvertrag, gilt aber vorerst nur für höchstens drei Jahre: Am 10. Juni 2017 wird er von einer „Kommission der Tarifpartner überprüft und gegebenenfalls angepasst“ – mit Wirkung Anfang 2018.
Netzausbau (S.48)
Die Koalition konnte sich auch festlegen, wie es mit dem Breitbandausbau in Deutschland vorrangehen soll: Bis 2018 sollen flächendeckend 50 Mbit/s zur Verfügung stehen. Ein sehr kühnes Versprechen, denn ein Blick in den Breitbandatlas verrät, dass wir davon selbst im Jahr 2014 noch weit entfernt sein werden – besonders im Osten Deutschlands ist ein Ausbau mit dieser Geschwindigkeit bis auf wenige Ballungszentren so gut wie nicht vorhanden.
Netzneutralität (S.49)
An dieser Stelle scheint – wie an vielen anderen auch – das Orange der Piraten ein wenig auf Union und SPD abgefärbt zu haben. Der Koalitionsvertrag verspricht doch tatsächlich eine gesetzliche Festlegung der Netzneutralität. Man hat anscheinend bemerkt, dass den Menschen dieses Thema nicht ganz egal zu sein scheint (wie man besonders an der Aktion gegen die Drosselung der Telekom sehen konnte).
Doch noch ist Vorsicht geboten. Zwar spricht sich die Koalition für ein Best-Effort-Netz aus, will allerdings Ausnahmen an Stellen zulassen, an denen es technisch notwendig ist, damit „bandbreitensensible Daten und Anwendungen verlässlich und ohne Verzögerung übertragen werden bzw. zum Einsatz kommen können.“ Wie genau diese Ausnahmen abgegrenzt werden sollen, steht noch nicht fest. Eine schwammige Formulierung im Gesetz könnte zu einem Schlupfloch werden, gewollt oder ungewollt.
Rüstungsexporte (S.16)
Auch die immer wieder kritisierten Rüstungsexporte haben Einzug in den Koalitionsvertrag gefunden. Wer allerdings auf schärfere Bestimmungen oder gar eine Einstellung gehofft hat, wird enttäuscht: Es wurde nur festgelegt, dass der Bundestag über Genehmigungen für Rüstungsexporte unverzüglich informiert wird. Dazu soll dieser ein entsprechendes Gremium wählen, das für eine bessere parlamentarische Kontrolle sorgen soll. Ob diese Maßnahme wirklich wirksam sein wird, bleibt abzuwarten, besonders, da der Bundessicherheitsrat, der die Genehmigungen erteilt, aus der Kanzlerin und verschiedenen Ministern besteht. Deren Parteien stellen auch die Mehrheit im Bundestag. Ein Kontrollgremium wäre durchaus sinnvoll, aber nur, wenn dieses aus unabhängigen Experten bestehen würde.
Soziale Sicherheit im Alter (ab S.71)
Rente ist ein weiteres Thema, dass im Koalitionsvertrag natürlich nicht fehlen darf. Ins Auge sticht dabei die teilweise Herabsetzung des Mindestalters – wer mindestens 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, darf ohne Abzüge mit 63 in Rente gehen (S.72). Damit schafft man ein nur geringes Zeitfenster, und das Mindestalter 63 können sicher nur die Wenigsten in Anspruch nehmen. Doch es ist zumindest ein kleiner Schritt weniger als die momentanen 67 Jahre Untergrenze.
Ähnlich verhält es sich mit der Entscheidung zur Mindestrente: Wer 40 Jahre lang eingezahlt hat (bis 2023 reichen auch 35 Jahre), und weniger als 30 Rentenentgeltpunkte (aktuell ca. 850 Euro) bekommt, wird vom Staat bezuschusst (S.73).
Urheberrecht (S.133)
Gleich im ersten Satz dieses Abschnitts verspricht der Koalitionsvertrag eine Anpassung des Urheberrechts an das digitale Zeitalter. Doch die Hoffnung auf eine richtige Reform verblasst sehr schnell. In dem entsprechenden Text sind kaum neue Ansätze zu finden, es findet mehr oder weniger eine Fortführung der bestehenden Politik statt. Der Ton geht eindeutig in Richtung „Raubkopierer“, und was man unternehmen möchte, um entsprechende Rechteinhaber vor ihnen zu schützen. Ob das immer vorteilhaft für den Verbraucher ist, muss bezweifelt werden.
Zum Beispiel schreibt die Koalition, dass sie die Verwertungsgesellschaften stärken und damit die Wahrnehmung des Urheberrechts verbessern möchte. Gerade an dieser Stelle wird dabei so mancher Nerv getroffen. Die GEMA selbst hat mit der starken und sehr einseitigen Einschränkung der Verwertungsrechte in den letzten Jahren viel Unmut beschworen. Auch für die VG Wort sieht es momentan nicht rosig aus – bereits zwei Gerichte haben der Klage von Martin Vogel stattgegeben und bescheinigt, dass die automatische Verteilung der Urheberrechtseinnahmen an den Verleger einer journalistischen Arbeit rechtswidrig ist.
Vorratsdatenspeicherung (S.147)
Ein trauriger Tag für die digitalen Bürgerrechte: Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung soll umgesetzt werden. Der Grund: „Dadurch vermeiden wir die Verhängung von Zwangsgeldern durch den EuGH [Europäischen Gerichtshof]“. Es klingt entschuldigend, als ob sie sagen würden: „Eigentlich wollen wir ja nicht, aber niemand möchte doch noch Strafen an die EU zahlen, oder?“. Das klingt vorgeschoben, genau wie die immer wieder gemeldeten angeblichen Erfolgsfälle.
Und, als ob es wirklich noch immer darum ginge, verspricht die neue Koalition auch, dass sie auf eine Verringerung der Speicherfrist auf drei Monate in der EU „hinwirken“ wird. Genaueres sucht man leider vergeblich.
Fazit
Bei vielen, durchaus positiven Ansätzen im Koalitionsvertrag, durchzieht vor allem die Unentschlossenheit durch einen großen Teil der Texte. Zwar werden Verbesserungen in vielen Bereichen in Aussicht gestellt, doch an konkreten Ideen und Vorschlägen zur Umsetzung mangelt es oft. Einige Entscheidungen dagegen, wie beispielsweise die Einführung der Vorratsdatenspeicherung, sind eindeutig negativ zu bewerten, ein paar wenige auch als eindeutig positiv. Doch Fragen bleiben an vielen Stellen leider offen: Was wird umgesetzt? Wie wird es umgesetzt? Welche Auswirkungen wird das haben? Die Antworten darauf bekommen wir leider oft noch nicht.
Falls euch einige dieser Punkte wütend machen sollten, könnt ihr diese Wut gerne dazu nutzen, etwas Konstruktives zu schaffen: Caro Mahn-Gauseweg, beim BPT 13.3 zur Stellvertretenden Vorsitzenden in den Vorstand gewählt, hat angekündigt, dass sie zusammen mit dem politischen Geschäftsführer Björn Niklas Semrau den Koalitionsvertrag auseinandernehmen will. Dazu benötigen sie so viele Freiwillige wie möglich, die sich mit den verschiedenen Abschnitten des Vertrags beschäftigen und den Inhalt analysieren. Dadurch ist bereits ein beachtliches Pad mit sehr viel Inhalt und umfangreichen Informationen und Daten entstanden – wer es lesen oder sich daran beteiligen möchte, findet es hier.
Es ist möglich, dass ein wichtiger Punkt nicht oder nicht ausreichend behandelt wurde. Leider setzen der schiere Umfang des Vertrags und Zeitknappheit uns hier Grenzen. Eine Zusammenfassung aller Punkte (die zum Teil auch als Quelle für diese Artikel diente) findet ihr bei der Zeit Online.
Beitragsbild:
CC BY 2.0 | Aktionsbündnis Freiheit statt Angst via Flickr