
Kampagnenbilder der Gegner und Befürworter (Verwendung mit Genehmigung der Komitees)
Bald steht es in der Bundesverfassung: Die Einwanderung in die Schweiz wird eingeschränkt – denn so wollten es 50.3% der Schweizerinnen und Schweizer, die am 9. Februar 2014 über die Masseneinwanderungsinitiative abgestimmt haben. Während der Debatte sprachen die Befürworter von Masseneinwanderung, die Gegner von Abschottung. Das Resultat ist insofern brisant, als dass eine weitere Volksabstimmung ansteht, die noch weiter geht.

Thomas Haemmerli ist Koautor des Buchs Der Zug ist voll und gehört zu den Gegnern, also zu den Verlierern. Er ist Präsident der Gesellschaft offene & moderne Schweiz (GomS) und zeigt sich im Gespräch besorgt: «Es schmerzt, so knapp zu verlieren. Es schmerzt besonders, weil es bei Abstimmungen nur schwarz oder weiss gibt. Es schmerzt, weil es so eine wichtige Abstimmung war. Und es schmerzt, weil wir ja wussten, dass das Resultat den Xenophoben in ganz Europa Auftrieb geben würde.»
Ein Blick auf Twitter bestätigt diese Vermutung. So liess Marine Le Pen, Vorsitzende des französischen rechtsextremen «Front National», am Tag der Annahme verlauten: «Die Schweiz sagt Nein zur Masseneinwanderung, bravo! Wird die EU nun Panzer schicken?» Die britische «United Kingdom Independence Party» (UKIP) ist erfreut. Und der Rechtspopulist Geert Wilders von der Partei für Freiheit (PVV) in den Niederlanden meinte: «Was die Schweizer können, das können wir auch.»

Auch der parteilose Ständerat Thomas Minder ist zufrieden mit dem Resultat: «Ich bin ein Gegner des ungebremsten und ungezügelten Wachstums.» Als Gründe führt er gegenüber der Flaschenpost «die Zubetonierung der Landschaft und die Überbelastung der Infrastruktur» an. 80’000 Einwanderer pro Jahr seien einfach zuviel. Er ist froh, dass «der Stimmbürger die Notbremse gezogen» hat und ergänzt: «Die Personenfreizügigkeit hatte doch realistisch betrachtet schon länger keine Zukunft mehr. Wir sind wieder souverän.»
Haemmerli lässt die Argumente der Befürworter nicht gelten: «Die meisten Probleme, die angesprochen worden sind, sind keine.» Denn zwei Drittel der Züge fahren halb leer durch die Gegend und dort, wo man Ja gesagt hat, gebe es kaum Zuwanderung. Ein reales Problem hingegen seien hohe Mieten und die hohe Nachfrage nach Wohnungen in Zentren wie Zürich oder Genf. GomS enthält sich da einer Meinung. Haemmerli findet aber, man müsse endlich Ernst machen mit der Verdichtung unserer Städte. «Man kann problemlos die knappe Ressource Boden schonen und in die Höhe bauen.» Statistische Erhebungen lassen diesen Schluss zu, denn 90% aller Wohnungen sind Parterre bis dritter Stock, in Zürich sind es 86%.
Soll die Einwanderung auf 0,2 Prozent beschränkt werden?
Eine Seite jubelt, die andere ist konsterniert. Doch Zeit zum Ruhen gibt es keine, denn es steht eine zweite Einwanderungsinitiative vor der Abstimmung. Sie heisst Ecopop und geht weiter als die Masseneinwanderungsinitiative: Sie will die Zuwanderung auf 0,2 Prozent im dreijährigen Schnitt beschränken. Die Staatspolitische Kommission des Ständerats hat sie kürzlich für gültig erklärt, empfiehlt aber, sie abzulehnen.
«GomS haben wir aus der Taufe gehoben wegen der Ecopop-Initiative», blickt Haemmerli zurück. «Wir gingen davon aus: Die Masseneinwanderung gewinnen wir eh. Wir bauten dabei auf den Anti-SVP-Reflex und sammelten für die Ecopop-Schlacht.» Er spricht damit an, dass die Masseneinwanderungsinitiative von der SVP angestossen wurde und alle anderen Parteien von links bis rechts die Ablehnung empfohlen haben. Nun gelte es, sich zusammenzuraufen und herauszufinden, «wo die grossen Fronten verlaufen, wer in den strategischen Fragen Freund und wer Feind ist», so Haemmerli.
Einen Feind hat Ständerat Minder bereits in der Wirtschaft ausgemacht: «Weite Teile der Wirtschaft denken doch nicht mehr an unser Land und die Gemeinschaft, sondern ganz egoistisch an die Eigeninteressen.» Er hält die Ecopop-Initiative für «eine sehr gute Vorlage, weil sie die Zuwanderung deckeln würde.» Im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungsinitiative war die Frage nach der Höhe der jährlichen Zuwanderung zentral. Ecopop liefere die Antwort darauf. Minder fügt an: «Damit kämen Fachkräfte wie Ingenieure, Pflegepersonal oder Ärzte doch noch in die Schweiz. Ich habe in der Staatspolitischen Kommission an vorderster Front dafür gekämpft, dass die Ecopop-Initiative nicht für ungültig erklärt wird.»
Minder ist zuversichtlich, dass die Zustimmung gross sein wird. Angesprochen auf einen allfälligen Gegenvorschlag zu Ecopop führt er an, in der Staatspolitischen Kommission viele Anträge eingebracht zu haben, wie etwa Sofortmassnahmen zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative oder die Reduktion der Zuwanderung via Familiennachzug oder beim Grenzgängerwesen. Werde dem Anliegen nichts gegenübergestellt, werde es mit grosser Wahrscheinlichkeit vom Volk angenommen. «Weil ihm nicht das SVP-Label, sondern eine ökologische Absicht anhaftet, dürfte die Zustimmung sogar noch grösser sein.»
Auch Haemmerli hat eine Vorstellung davon, wie die Fronten wohl verlaufen werden. Er befürchtet eine Zustimmung aus verschiedenen Lagern: «Ecopop ist viel extremer und wird deshalb auch bei der SVP nicht unumstritten bleiben.» Trotzdem werde der Grossteil der SVP-Basis für Ecopop votieren. Dazu kommen die nationalistisch eingestellten Grünen, die auch andere Grüne im Schlepptau haben werden. Dann sind da noch die Wachstumskritiker. «Zwar gibt es dort viele, die sagen: Mit der grünbraunen Ecopop-Geschichte wollen wir nix zu tun haben. Trotzdem gibt es diverse Exponenten, die genau auf dieser Tonalität spielen werden.» Urs Gasche etwa, der lange Jahre Moderator und Chef der hochbeliebten Konsumentensendung Kassensturz war, ist ein Ecopop-Sympathisant.
Kleiner Verhandlungsspielraum

Die Tendenz zur Xenophobie hat letzten Samstag um die 12.000 Menschen auf die Strasse bewogen – für die Schweiz eine beeindruckende Zahl. Die Demonstranten plädierten vor dem Bundeshaus für eine offene und solidarische Schweiz. Ein zentrales Thema war die akademische Einbindung der Schweiz. Denn die Schweiz hat nach Aussetzung der Verhandlungen mit Brüssel die Termine für die Verleihung der Erasmus-Stipendien verpasst und nimmt deshalb dieses Jahr nicht am Studentenaustauschprogramm teil. Ausserdem ist die Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon 2020 gefährdet.
Die volle Tragweite des Volksentscheids ist so unklar wie umstritten; erste Reaktionen aus der EU sind durchweg negativ. So hat das Europaparlament bereits klar gemacht, dass die EU eine Abspaltung der Personenfreizügigkeit von den anderen Freiheiten nicht akzeptiert. Ausserdem hat die EU-Kommission Gespräche über ein geplantes Energieabkommen ausgesetzt.
Für Jürgen Stock von der AG Aussen- und Sicherheitspolitik der Deutschen Piraten sind die Reaktionen übertrieben. «Denn im Vergleich zur NSA-Ausspähung, die im Grunde den gesamten Westen und seine Werte in Frage stellt, ist das Schweizer Referendum kein Problem, das man so hoch hängen muss.» Mit der Schweiz sieht er die Möglichkeit, einen für alle gangbaren Weg zu finden. Seitens USA hingegen fehle eine Gesprächsbereitschaft völlig. «Nur in der NSA-Affäre kneifen sämtliche EU-Regierungen.»
Der Bundesrat hat gemäss Vorlage drei Jahre Zeit, eine Lösung mit der EU zu finden. Diese Verhandlungen müssen nun erst einmal anlaufen. Doch Haemmerli sieht da wenig Spielraum: «Die EU kann nicht von der Personenfreizügigkeit abrücken. Auch weil das ein Signal wäre an die Fliehkräfte innerhalb der Union, die mit den nächsten Europawahlen gestärkt werden.» Sein Fazit: Die Schweizer Politelite muss sich in der nächsten Zeit mit Problemen herumschlagen, die keine gewesen wären.