
Freie Universität Berlin | CC BY 2.0 <a href="https://www.flickr.com/photos/hinkelstone/">quapan </a>

Carsten Koschmieder ist Politologe am OSI, dem Otto-Suhr-Institut für Poltikwissenschaft an der FU in Berlin. Auf die Piratenpartei wurde er 2009 aufmerksam, als eine Freundin ihn zu einem Piratenstammtisch mitnahm. Durch Besuche von Stammtischen und Parteitagen, das Anhören von Podcasts sowie dem Lesen von Mailinglisten, Blogs und Twitter lernte er die Partei immer besser kennen. Inzwischen gilt er als Kenner in Sachen Piratenpartei und schreibt Artikel und Aufsätze dazu, beispielsweise über die Arbeit der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, die Gründe für das schlechte Wahlergebnis bei der Bundestagswahl oder die Europäischen Piratenparteien. Nebenbei versucht er, über Partizipation in der Piratenpartei zu promovieren.
Flaschenpost: Der Burgfriede, auf den viele Piraten bis zur Wahl setzten hat nicht gehalten. Es geht zerstritten in den Wahlkampf. Kann das gut gehen?
Carsten Koschmieder: Nein. Und für diese Antwort braucht es auch kein langes Studium.
Aber ausführlicher: Die Wählerinnen in Deutschland strafen sich streitende (oder öffentlich diskutierende) Parteien mit Stimmenentzug. Zwar kann man argumentieren, dass in einer Demokratie Diskussionen über die Richtung in einer Partei richtig und wichtig sind, aber sobald die Partei dabei nicht mehr „geschlossen“ wirkt, schlägt sich das in Wahlergebnissen (oder Umfragen) nieder. Und die Piraten streiten sich schon so lange öffentlich, dass die Partei von vielen überhaupt nicht mehr ernst genommen wird.
Zweitens kommt bei den Piraten noch dazu, dass die Medienaufmerksamkeit sehr gering ist und nur noch selten über die Partei berichtet wird. Wenn dann diese wenigen Berichte für Streit und Rücktritte verwendet werden, hilft das der Partei natürlich nicht. Weder die eigenen Inhalte, noch die handelnden Personen können so bekannt gemacht werden.
Drittens aber ist eine Partei, die über so geringe materielle Ressourcen verfügt, besonders auf die tatkräftige Unterstützung ihrer Mitglieder im Wahlkampf angewiesen. Natürlich gibt es keine Zahlen darüber, inwieweit dieses Engagement durch den Streit tatsächlich zurückgegangen ist, aber in jedem Fall stecken einige ihre Energie in die innerparteiliche Auseinandersetzung oder propagieren „keinhandschlag“ – und nur wenige dürften durch diesen Streit zusätzlich motiviert worden sein. Ganz abgesehen von den vielen engagierten Piratinnen, die in den letzten Monaten die Partei verlassen oder sich zumindest aus ihr zurückgezogen haben.
Flaschenpost: Trotz der Rück- und Austritte, dem #keinHandschlag-Boykott und der Kritik an den Plakaten findet der Wahlkampf statt. Die Kandidaten befinden sich auf Wahlkampftour und statteten dem EU-Parlament in Brüssel einen Besuch ab. Mit welchem Ergebnis rechnen sie für den 25. Mai?
Carsten Koschmieder: Ich glaube eigentlich nicht, dass die Piraten es noch schaffen, den Einzug wenigstens von Julia Reda und vielleicht auch Fotios Amanatides zu verhindern, auch wenn sich einige große Mühe geben. Die aktuellen Umfrageergebnisse legen diese Vermutung nahe, und die Bedingungen bei dieser Europawahl sind auch sehr gut: Keine Fünfprozenthürde, die Wählerinnen von den Kleinparteien abschreckt, kein „Kanzlerduell“, bei dem es auf prominente Spitzenkandidatinnen ankommt, das generelle Gefühl der Wähler, die Europawahl sei nicht so wichtig und sie könnten ihre Stimme „auch mal den Piraten geben“, und schließlich die Tatsache, dass viele der für die Partei wichtigen Themen auf EU-Ebene entschieden werden. Insofern bleiben die Piraten durch ihren innerparteilichen Konflikt vielleicht sogar etwas unter ihren Möglichkeiten bei dieser Wahl. Und das, obwohl die beiden Spitzenkandidaten eine sehr gute Arbeit machen und der Wahlkampf insgesamt sehr klug vorbereitet wurde; entscheidend ist hier, dass die Partei wenige klare Botschaften gefunden hat, die sich auch noch gut unter einer gemeinsamen Überschrift fassen lassen.
Andere Piratenparteien in Europa haben von dem Hype um die deutschen Piraten profitiert, und sofern sie es nicht geschafft haben, jeweils eigene Gründe zu kreieren, weswegen die Wählerinnen in den jeweiligen Ländern sie wählen sollten, ist für sie der Absturz der deutschen Piratenpartei natürlich auch ungünstig.
Flaschenpost: Vier Wochen nach der Wahl findet der außerordentliche Bundesparteitag statt. Die Erwartungen reichen von „kommt eh keiner mehr“ bis zu „das wird Bingen 2.0“. Die meisten Piraten verbinden mit dem dort zu wählenden Vorstand aber große Hoffungen. Wie kann in Halle die Trendwende geschafft werden?
Carsten Koschmieder: Ein schlüssiges Konzept wäre etliche Seiten lang, teuer – und würde von Teilen der Partei mit persönlichen Beschimpfungen kommentiert. Insofern belasse ich es bei allgemeineren Bemerkungen… 🙂
Es liegt, das haben sicher die meisten schon erkannt, nicht an konkreten Personen. Der aktuelle BuVo ist genauso wenig Schuld wie der davor. Das hält viele nicht davon ab, den BuVo in einer unangemessenen Weise anzugehen, aber selbst wenn von ihnen niemand mehr antreten würde – und einige wurden ja schon vergrault -, änderte das nichts. Stattdessen sind es die Strukturen, die sich ändern müssen. Allerdings würden viele dieser Strukturänderungen die Partei stärker in Richtung der etablierten anderen Parteien bewegen. Und das ist vielen Piraten nicht recht.
Ein Beispiel wären die Wahlen zum BuVo: Wenn im Vorfeld sich Kandidaten absprechen und sich eine Gruppe findet, die aus allen Richtungen. Flügeln und Lagern Personen enthält, die sich untereinander verstehen, in der Partei angesehen sind, die für die verschiedenen Aufgaben jeweils die Kompetenzen mitbringen, dann würde das dem Ansehen des BuVo und seiner Arbeitsfähigkeit dienen. Aber natürlich würden viele Piraten das als Politik 1.0, als Klüngel, ansehen.
Aber das funktioniert ja schon deswegen nicht, weil es – das wäre ein zweites Beispiel – in der Partei keine organisierten Flügel gibt. Dadurch aber verschwinden die ja nicht, sie sind nur nicht sichtbar, nicht organisiert, und informelle Strukturen entstehen.
Das dahinterstehende Grundproblem scheint mir hier zu sein, dass viele Piraten die „anderen Parteien“ und ihre Strukturen und Prozesse verachten – aber häufig ohne zu wissen, warum sie so organisiert sind. Kritisieren und ändern kann ich aber nur, was ich zunächst selber verstanden habe. So aber bleiben die Lösungsansätze der Piraten zu oft naive Träumereien, die zwar sympathisch klingen, das gewünschte Ziel aber nicht zu erreichen vermögen.
Und den Richtungsstreit kann man auf dem Parteitag, sei es durch Personenwahlen oder Diskussionen, schon überhaupt nicht beenden.
Flaschenpost: Ist das als Plädoyer für ein Delegiertensystem zu verstehen? In der Partei wurden in letzter Zeit immer wieder Rufe laut, neben einer Ständigen Mitgliederversammlung oder dem Basisentscheid auch über Delegierte nachzudenken.
Carsten Koschmieder: Als Wissenschaftler schaue ich von außen auf die Piraten und plädiere für nichts. Ich kann aber natürlich die Vor- und Nachteile deutlich machen: Das jetzige System ermöglicht es in der Theorie jeder, am Parteitag teilzunehmen, dort mitzureden, abzustimmen und Anträge einzubringen. Die aktuelle Debatte um den Ort des aBPT zeigt aber, dass offensichtlich nicht alle gleich in der Lage sind, teilzunehmen. Und es geht ja nicht nur um den Ort: Von zehn Alleinerziehenden kann vielleicht einer kommen. Beim Delegiertensystem könnte er die anderen vertreten, so bleiben sie unterrepräsentiert. Unabhängig von den großen Fragen nach Demokratie und Gerechtigkeit bietet das Delegiertensystem auch strategische Vorteile: Delegierte sind besser vorbereitet (auf Parteitagen gibt ja oft mehr als die Hälfte zu, lange Anträge überhaupt nicht gelesen zu haben), und es lassen sich im Vorfeld besser Absprachen treffen. Aber dafür geht natürlich der Anschein – oder sagen wir die theoretische Möglichkeit – der basisdemokratischen Mitbestimmung ein Stück weit verloren.
Klar ist, dass das jetzige Modell nicht funktioniert. Ob die Piraten eine konventionelle, erprobte Lösung wählen, oder aber eine neue, funktionierende erfinden, darauf bin ich selber gespannt. Bisher gibt es aber noch keinen Ansatz für letzteres.
Flaschenpost: Vielen Dank für die ausführlichen Antworten. Geben wir dem noch zu wählenden Vorstand 100 Tage Zeit und schauen dann was sich verändert hat.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.