
Das ist eine Frage, die nicht nur wir deutschen Piraten uns stellen. Auch außerhalb von Deutschland, insbesondere bei den europäischen Piraten, bemerkt man die Unruhen innerhalb der Partei. Andrew Reitmeyer, Pirat und Redakteur bei der Pirate Times, hat sich dem Thema allgemein angenommen. Entstanden ist dabei dieser Beitrag, der Aufmacher für eine Artikelserie sein soll. Um zu zeigen, wie die Sicht auf die Piratenpartei Deutschland von außerhalb aussieht, haben wir den Beitrag für euch übersetzt. Die englische Originalfassung findet ihr hier.
Nach dem kometenhaften Aufstieg der Piratenpartei Deutschland zwischen 2009 und 2013 scheint die Partei wieder im Abstieg zu sein und stolpert von einer Krise in die nächste. Die letzte davon war das sogenannte „Bombergate“, bei der zwei junge Frauen sich an einem Protest gegen Neo-Nazis beteiligten. Ihre Gesichter waren maskiert, der Oberkörper frei – ganz im Femen-Stil. Eine von ihnen hatte die Worte „Thanks Bomber Harris“ über ihren Oberkörper geschrieben.
Bombergate

Eine der Frauen wurde von der Presse als Anne Helm identifiziert, die auf dem fünften Platz auf der Liste der deutschen Piraten für das Europäische Parlament kandidierte. Der Vorstand der Piratenpartei stand dabei geschlossen hinter Anne, als Neo-Faschisten begannen, sie zu bedrohen. Sie von der Liste zu nehmen stand dabei für den Vorstand nicht zur Diskussion. Doch selbst wenn sie das gewollt hätten, war es dafür schon zu spät. Diese Entscheidung rief Empörung bei vielen Piraten hervor und fünf Landesverbände distanzierten sich in Pressemitteilungen von der Position des Vorstands. Viele Mitglieder verließen die Partei. Zudem gab es noch einen Streik der IT- und Verwaltungsmitglieder der Piratenpartei Deutschland, die damit den Vorstand zwingen wollten, einen politischen Standpunkt einzunehmen. Diese Aktionen führten schließlich zum Rücktritt der Hälfte des Vorstands. Dadurch wurde der Vorstand handlungsunfähig und ein kommissarischer Vorstand wurde eingesetzt, bis beim außerordentlichen Bundesparteitag vom 27. – 29. Juni 2014 in Halle ein neuer gewählt wird.
Im deutschen Kontext

Das Bombergate war nicht der einzige Grund für diese Reaktionen. Beim „Fahnengate“ wurden 2013 anti-faschistische Flaggen auf dem Gelände des Bundesparteitags in Bochum aufgehängt. Im selben Kontext fand die „Rote Flora“ in Hamburg statt, bei der Anarchisten mit der Polizei um das Recht kämpften, ein Gebäude zu besetzen. Der Vorstand sprach sich dabei für die Anarchisten aus. Bei einem weiteren Vorfall warf eine andere, im Femen-Stil verkleidete Piratin (eine Kandidatin für den Vorstand der Berliner Piraten) einen falschen Molotov-Cocktail auf die russische Botschaft. Diese Aktionen lösten ein Gefühl des Unbehagens im liberalen Flügel der Partei aus. Dieser fühlte sich regelmäßig überwältigt vom linken Flügel.

Wichtig ist es auch zu wissen, wer Bomber Harris war und warum er immer noch solche starken Emotionen bei den Deutschen hervorruft, damit man die provozierten Reaktionen verstehen kann. Arthur Harris war verantwortlich für die Massenbombardierung von Städten, die absichtlich auf Zivilisten zielten und bei denen ein Maximum an zivilen Opfern das Ziel war. Bei vielen gilt er noch heute als Kriegsverbrecher. Im Hamburg verloren 42.600 Menschen ihr Leben, in Dresden – wo der Vorfall mit Anne Helm stattfand – waren es 25.000. Moderne Deutsche haben gespaltene Gefühle gegenüber dem Krieg – zum einen die Schuldgefühle wegen der Gräueltaten der Nazis und zum anderen die Wut über die Bestrafung, die sie wegen der Generation ihrer Eltern und Großeltern zu erdulden haben.
Eine politische Persönlichkeit, selbst wenn sie die Nazi-Zeit nur erwähnt, beschwört Gefahr herauf. Es ist immer noch illegal, Nazi-Propaganda zu verbreiten und die Deutschen sind weiterhin empfindlich bei diesem Thema. In einem anderen Vorfall verglich ein Vertreter der Piratenpartei Deutschland den raschen Aufstieg der Partei mit dem der Nationalsozialisten und erntete dafür heftige Kritik. Die Bombergate-Aktion sollte rebellisch sein, aber es war nicht gewollt, dass der Effekt auch die Piratenpartei betraf.
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende Sebastian Nerz beschrieb die Partei als sozial-liberal. Diese Bezeichnung kombiniert – ziemlich gut – die humanitären und gemeinschaftlichen sowie die individualistischen und wirtschaftsliberalen Tendenzen des linken und des rechten Flügels der Partei. Dadurch präsentiert sich die Partei gegenüber den Wählern mit einem neutralen Gesicht, obwohl die Mitglied teils sehr unterschiedliche Meinungen vertreten.
Spannungen
Während der Zeit des rapiden Wachstums zog die Piratenpartei Menschen aus allen Teilen des politischen Spektrums an. Die meisten davon waren dabei beunruhigt über den wachsenden Einfluss, den der Staat und Unternehmen auf das Internet ausübten. So zum Beispiel Anarchisten und Liberale, die zwar beide weniger Einfluss durch den Staat auf das Privatleben befürworteten, jedoch völlig unterschiedliche Weltansichten vertraten. Das Ergebnis ist eine anhaltende, interne Spannung. Meistens ist das vorteilhaft, denn so können neue Ideen in einer intellektuellen Diskussion mit begründeten Argumenten und gegenseitigem Respekt geprüft werden. Das Ergebnis davon sind gute, durchdachte und innovative Grundsätze und Strategien. Die Gefahr allerdings besteht, dass sich die alten Lager wieder spalten und gegenseitig attackieren. In einer Atmosphäre, in der Trolling als legitime Form der freien Rede angesehen wird und Rufmord und Schikane ignoriert werden, gestaltet sich die konfliktfreie Lösung von Differenzen oftmals schwierig.
Ein demokratisches Defizit?
In einer Parteistruktur ist es das Ideal, sich zusammenzusetzen und einen Konsens über Grundsätze und Manifeste zu finden, um diesen dann gemeinsam der Öffentlichkeit vorstellen zu können. Auf Landes- oder Kommunalebene zu einem Konsens zu kommen gestaltet sich dabei relativ einfach im Vergleich zur Bundesebene. Um über bundesweite Grundsätze und Parteivertreter abstimmen zu können, muss man bei einem Bundesparteitag anwesend sein. Das gestaltet sich oft schwierig für viele Mitglieder, da Distanzen und Kosten sich erhöhen, je weiter weg die Versammlungen gehalten werden. Das bedeutet, dass auf Parteitagen oft die wohlhabenderen Mitglieder der Partei und jene, die sich von der beruflichen und familiären Verantwortung frei nehmen können, zu finden sind.
Instanzen von Liquid Feedback wurden auf Landes- und Bundesebene bereits implementiert und dienen der Parteiführung und den Kandidaten als Probeabstimmung. Die Instanz auf Bundesebene wird jedoch nicht genutzt, da nicht alle Mitglieder abstimmen können und somit die demokratische Legitimität fehlt. Der Versuch, online eine ständige Mitgliederversammlung zu etablieren, schlug letztes Jahr knapp fehl; dadurch bleibt die Entscheidungsgewalt bei den physischen Bundesparteitagen.
Es scheint, als ob es ein demokratisches Defizit in der Piratenpartei gäbe. Für eine Partei, die sich für mehr Bürgerbeteiligung in der Politik einsetzt, ist das natürlich eher unglücklich. Dies führt auch zu einer Menge Frustration, die man nur schwer zum Ausdruck bringen kann. Das resultiert in politischen Aktivitäten innerhalb der Partei um jeden Preis, einschließlich Trolling und bösartige Attacken gegenüber Einzelpersonen, wie das Androhen von Mord und Vergewaltigung. Ein Teil davon kann auf Sabotage durch Trolle und Eindringlinge von anderen Parteien und Organisationen zurückgeführt werden, die sich durch die Politik der Piraten bedroht fühlen. Jedoch existiert auch ein Problem im System, das den internen Aufbau der Partei verwundbar gegenüber diesen selbstzerstörerischen Streitigkeiten macht.
Von einem chaotischen Anfang
Während der Wachstumsphase der Partei formulierte diese innovative Grundsätze unter einer Führung, die selbst auch noch ihren Weg finden musste. Das resultierte in einer Partei, die nicht ideologisch fixiert war, sondern deren Ideen aus einer großen Auswahl an verschiedenen Sichtweisen stammten. Die Führung reflektierte dies nach innen an die Mitglieder und nach außen an die Öffentlichkeit und die Presse. In einer der darauffolgenden Bundesparteitage wurde die gemeinsame Entscheidung getroffen, die Partei auf einen eingeschränkteren Pfad zu führen. Dafür gab es einen guten Grund. Größere Versammlungen kamen zu keinen Ergebnissen mehr, da immer mehr einzelne Stimme gehört werden wollten.
Zu einer chaotischen Gegenwart
Jetzt steht die Partei am Scheideweg. Welche Richtung sie einschlagen will, und welche nicht, entscheidet sich in Halle. Die Mitglieder werden einen neuen Vorstand wählen, doch die neuen Vorstandsmitglieder müssen die Partei durch einen Prozess des Miteinanders, des gegenseitigen Respekts und des Verständnisses führen. Nur die Partei selbst kann die notwendigen Änderungen durch einen offenen und demokratischen Prozess umsetzen. Eine Sache, die sie vielleicht in Betracht ziehen sollte, ist ein Verhaltenskodex. Einer, der die Punkte „die Partei in der Öffentlichkeit nicht in Misskredit bringen“ und „Höflichkeit und Respekt untereinander“ enthält.

Unser Gründer [Anm. d. Redaktion: der schwedischen Piratenpartei], Rick Falkvinge, sagte:
„Ab und zu wird gefragt, warum die Piratenpartei den politischen Weg zur Sicherung von Privatsphäre und anderen Freiheiten wählte und außerdem für eine Reformierung der Monopole eintritt, die diesen Dingen im Weg stehen, wie beispielsweise das Urheberrechts-Monopol. Die Antwort ist einfach: Aktivismus ist nicht genug.“
Wir sind eine Partei, die möchte, dass unsere Kandidaten gewählt werden und, dass andere Parteien unsere Grundsätze übernehmen.
- Wir brechen das Gesetz nicht, können aber mit denjenigen sympathisieren, die es müssen.
- Wir nehmen nicht an Aktionen teil, die den Namen der Piraten in Verruf bringen.
- Wir weichen nicht von unseren Grundsätzen und Richtungen ab, die wir demokratisch beschlossen haben.
- Wir hindern unsere gewählten Führungskräfte nicht daran, den Job zu machen, für den wir sie gewählt haben.
- Wir wollen keine Hierarchie von oben nach unten wie in den meisten anderen politischen Parteien.
Wir sind eine internationale Basisbewegung und sind verantwortlich unter- und füreinander.
Wie stellen wir das sicher?
Wir werden diese Frage in einer Artikelserie aufgreifen und uns anschauen, wie wir für unsere Standpunkte argumentieren können, wie wir andere Piraten davon überzeugen können, dass unsere Sichtweisen richtig sind und wie wir lernen können, andere Sichtweise zu akzeptieren. [Anm. d. Redaktion: Im Original dann natürlich zu finden bei der Pirate Times, eventuell auch als Übersetzung bei uns.]
Anmerkung des Autors Andrew Reitemeyer:
Dieser Leitartikel ist eine Meinung zu einer komplexen Situation. Ich bin Teil des linken Flügels und – trotz des Versuchs, objektiv zu bleiben – ist es unmöglich, Subjektivität zu vermeiden. Einige Punkte können anders interpretiert werden, als ich sie hier dargestellt habe.