„Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen“ von Ulrich Schneider bietet dem Leser eine pointierte und scharfzüngige Analyse der Situation in der Sozialwirtschaft.
Schneider ist kein Unbekannter, denn als Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes ist er maßgeblich an der Veröffentlichung der jährlich erscheinenden Armutsberichte beteiligt.
Die Ergebnisse der Armutsberichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 2013/2014 stellten der Bundesregierung ein Armutszeugnis in Sachen Sozialpolitik aus. Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander und dramatische Einsparungen (z.B. bei der Förderung zu Wiedereingliederung für Langzeitarbeitslose) bei ungünstig konzipierten Neuausgaben (z.B. Betreuungsgeld für Eltern, die auf einen Kita-Platz für ihr Kind verzichten) haben unübersehbare Spuren hinterlassen: Seit 2006 ist die Armutsquote in Deutschland kontinuierlich gestiegen und zwar jüngst auf 15,2 %. Das heißt, 15,2 % der Menschen in Deutschland gelten als arm. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die Quote sogar bei 22, 9 Prozent und steigt weiter.
Ulrich Schneider macht sich in seinem 146 Seiten starken Buch an die Ursachenforschung und beleuchtet kritisch mehrere Jahrzehnte Sozialpolitik. Beginnnend mit der Wohlfahrtsbewegung des späten 19. Jahrhunderts führt er den Leser über die Professionalisierung der Wohltätigkeit bis zu den Anfängen der zunehmenden Ökonomisierung sozialer Einrichtungen.
Maßgeblich für das „neoliberale Wirtschaftsdenken“ in diesem Bereich ist der Wertewandel unserer utilitaristischen Gesellschaft, die in jedem Menschen nur das Potential für Wirtschaftswachstum und Nützlichkeit sieht. In diesem Sinne prangert Schneider die Auswüchse im Bereich der Pflege an, denn die Bedürftigkeit des Menschen richtet sich längst nicht mehr nach seinen individuellen Bedürfnissen, sondern nach einer Bewertung der Pflegedauer, die es ermöglicht, auch hier potentielle Einsparungen zu errechnen, die sich danach richten, in welch effizienter Geschwindigkeit ein Pfleger arbeitet.
Die Analyse Schneiders geht bis in die Entlarvung der Denkstrukturen durch die Sprache, z.B. werden Menschen, die Hartz IV beziehen müssen, euphemisierend „Kunden“ genannt. Ulrich Schneider erinnert in diesem Zusammenhang an G. Orwells unvergessenes Werk „1984“. Die sogenannten Kunden sind nämlich weder freiwillig, wie der Begriff suggeriert, noch unabhängig, sondern auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, die ihnen allzu häufig verweigert wird, weil sie zu viel kostet. Sprache ist ein Ausdruck des Denkens , erklärt der Autor. So wird der Mensch zum „Humankapital“ und der „Mehrwert“ zum wichtigsten Wert.
Über diese scharfsichtigen Analysen entlarvt Ulrich Schneider das Sozialsystem als wenig erfolgreich und längst nicht mehr hilfreich oder wohltätig. Das Versprechen in Paragraph 1 SGB II : „Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.“ ist kaum das Papier wert auf dem er steht, wenn nicht bald ein Umdenken stattfindet. Ulrich Schneider plädiert unnachgiebig dafür, den einzelnen zu sehen und seine individuellen Bedürfnisse zu erkennen. „Deutschland ist nicht nur ein Wirtschaftsstandort. Deutschland ist ein Lebensstandort“, lautet der Schlusssatz seines Buches.
Erst die Abkehr von utilitaristischen Denkstrukturen wird soziale Arbeit wieder möglich machen. „Mehr Mensch!“, fordert Ulrich Schneider nicht zu Unrecht. Solange Kindergärten, Krankenhäuser, Pflegeheime und alle soziale Einrichtungen nur auf Ökonomie ausgerichtet sind, bleibt der Mensch auf der Strecke.
Das Buch fordert den intellektuellen Leser, dem die feinen ironischen Wendungen und der pointierte Abriss der Sozialpolitik gefallen. Ulrich Schneider selbst widmet sein Werk mit subtilem Humor „allen Gutmenschen, Bedenkenträgern und Sozialromantikern, wie er selbst einer sei.
Auch wenn man Ulrich Schneider nur zustimmen kann, stellt sich zum Schluss die Frage, warum der Autor seine Forderung nicht weiter fasst und sich zu wirklichen Reformvorschlägen durchringt, die ein radikales Umdenken erfordern. Wirkliche gesellschaftliche Teilhabe, ein Leben in Würde sowie eine grundsätzliche Abkehr von dem Denken, dass Arbeit nur Geld wert ist und nicht auch über ehrenamtliche oder künstlerische Tätigkeiten als Selbstverwirklichung etwas wert sein kann, wäre z.B. die konsequente Einführung des BGE. Schon vor Jahren haben nämlich Wissenschaftler durchgerechnet, dass das BGE keine Utopie bleiben muss. Doch soweit mag sich der Autor trotz seiner kritischen Bestandsaufnahme der Grundproblematik eben nicht vorwagen.
Am 3. September wird das Buch im Westend Verlag erscheinen. Dieses Ereignis ist mit einer besonderen Präsentation verbunden. Bundesministerin Manuela Schwesig und Ulrich Schneider stellen gemeinsam das Werk der Öffentlichkeit vor.
Die Buchpräsentation findet um 11:00 Uhr im „Grünen Salon“ (Rosa-Luxemburg-Platz 2, 10178 Berlin) statt.