Viele Piraten machen „Politik aus Notwehr“. Das bringt einen eigenen Stil mit sich: ausprobieren, schauen ob es funktioniert und anschließend, möglicherweise, die Strategie ändern. Dabei kann es bei der Suche nach einer Linie nicht schaden, sich Feedback von außen zu holen. Carsten Koschmieder, Parteienforscher am Otto-Suhr-Institut für Poltikwissenschaft an der FU in Berlin, gilt als Kenner der Piratenpartei. Wir fragen nach seiner Einschätzung der derzeitigen Lage der Piratenpartei.
Flaschenpost: Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Piratenpartei?
Carsten Koschmieder: Nicht besonders gut. Bei den letzten Wahlen fiel das Ergebnis ernüchternd aus, in Sachsen hat die Partei nur etwas mehr als halb so viele Stimmenanteile bekommen wie 2009 – lange vor dem Hype. Die Mitgliederzahlen gehen zurück, immer weniger Menschen engagieren sich für die Partei – wegen der Erfolglosigkeit, aber auch aufgrund des Umganges miteinander. Die Quote derer, die ihren Beitrag zahlen, ist nicht ermutigend. Dementsprechend scheint die Partei finanzielle Schwierigkeiten zu haben. Organisatorisch sind die Piraten auch noch nicht weiter: Parteitage laufen immer noch chaotisch und vergleichsweise unproduktiv ab, einen Mechanismus zur Konsensbildung gibt es weiterhin nicht, und die Online-Mitbestimmung findet zunächst per Briefwahl statt, was in den Medien für Spott sorgt – wenn die Piraten denn überhaupt noch in den Medien vorkommen, was selten genug geworden ist. Momentan aber schaffen sie es wieder: aufgrund der öffentlichkeitswirksamen Austritte einiger prominenter Mitglieder sowie von Amts- und Mandatsträgerinnen. Öffentlich verfestigt sich so das Bild, die Partei sei am Ende.
Flaschenpost: Wieso gibt es gerade so viele Austritte?
Carsten Koschmieder: Lassen Sie mich zur Beantwortung der Frage ein bisschen ausholen. Die Piraten wurden gegründet von Menschen, die im Internet Musik tauschen wollten, und sie beschäftigten sich in den ersten Jahren ausschließlich mit Themen wie Urheberrecht, Überwachung im Netz und so weiter. Einige Mitglieder sagten von sich selbst, dass sie unpolitisch seien und „Politik aus Notwehr“ betrieben, weil sie ihren „Lebensraum“ bedroht sahen. Sie hatten explizit keine Ambitionen, irgendwelche anderen Politikfelder zu bearbeiten. Andere Mitglieder waren vorher in den unterschiedlichsten Parteien und hatten dementsprechend zu vielen Themen ganz unterschiedliche Positionen. Sie alle einte nur, dass sie bei den sogenannten Kernthemen im Großen und Ganzen einer Meinung waren.
Spätestens seit dem Parteitag in Chemnitz 2010 weitete die Partei ihr Programm jedoch nach und nach aus. Zunächst nur langsam und so allgemein, dass nur vereinzelt (wie beim BGE) Streit entstand. Nach dem Einzug in vier Landtage beschleunigte sich dieser Prozess aber aus zwei Gründen: zum einen, weil es für eine in Parlamenten vertretene Partei unprofessionell wirkte, immer mit „Dazu haben wir noch keinen Beschluss“ zu antworten, zum anderen, weil die Abgeordneten sich eben zu allen politischen Themen verhalten mussten. Auch wenn rückblickend manche Piraten die Ausweitung der Themen für einen Fehler halten, ließ es sich nicht vermeiden – zu den meisten Themen nichts zu sagen, hätte bedeutet, keine politische Partei zu sein.
Da nun aber die Mitglieder der Partei zu allen Nicht-Kern-Themen unglaublich heterogene Positionen vertreten haben, musste eine Festlegung bei politischen Themen innerparteilichen Streit verursachen – und letztlich zu Austritten eines Teiles der Partei führen. Ein radikaler Marktliberaler und ein Verfechter einer staatlich gelenkten Wirtschaft, um zwei fiktive Positionen zur Verdeutlichung heranzuziehen, können zwar in einer NGO gegen die Überwachung zusammenarbeiten, aber sie können nicht (lange) in derselben politischen Partei Mitglied sein. Auch bei den Grünen konnte man das beobachten: Zunächst waren viele eingetreten, die sich für Umweltschutz engagieren wollten. Als sich später in gesellschaftspolitischen Fragen linke Positionen durchsetzten, traten die extrem Rechten aus der Partei aus.
An dieser Stelle stehen nun auch die Piraten: Es scheint sich eine bestimmte Position innerhalb der Partei durchzusetzen, und die, die mit dieser Position überhaupt nicht einverstanden sind und nicht mehr daran glauben, sie in ihrem Sinne verändern zu können, verlassen die Partei oder denken zumindest laut darüber nach.
Flaschenpost: Einige der ausgetreten Piraten prägten das Gesicht der Partei. Bei öffentlichen Auftritten wie auch bei öffentlichen Streitereien und Dummheiten. War das Motto „Themen statt Köpfe“ aus den Anfangsjahren der Partei doch richtig?
Carsten Koschmieder: „Themen statt Köpfe“ klingt erstmal gut, funktioniert aber in der Realität nicht. Während des Europawahlkampfes waren mehrfach Katharina Nocun und Marina Weisband in Talkshows zu Gast, obwohl sie kein Parteiamt mehr innehatten und auch für kein Mandat kandidierten. Die Redaktion von Günther Jauch ruft aber nicht bei den Piraten an und sagt: schickt uns mal eure beste Frau zum Thema „Überwachung“; die Partei kann sich also nicht aussuchen, wer in den Medien präsent ist. Und darum kann sie auch nicht dafür sorgen, dass es jedes Mal ein anderer kompetenter Pirat ist und niemand zu prominent wird.
Gerade die Piraten als eine kleinere Partei können also entweder mit einer Handvoll Personen immer mal wieder in den Medien auftauchen, die dadurch eine gewisse Prominenz erlangen – oder sie kommt überhaupt nicht in den Medien vor. Da aber Medienberichterstattung für eine Partei essentiell ist, scheint mir das keine sinnvolle Lösung zu sein.
Bei der Bundestagswahl gab es ja den Versuch, mit sechzehn Spitzenkandidatinnen, einem Dutzend Themenbeauftragten und dem Bundesvorstand in die Öffentlichkeit zu dringen. Dieser Versuch aber kann als gescheitert gelten. Die Mehrzahl der Wähler verbindet eben Themen mit Personen und entscheidet beispielsweise auch danach, ob er den prominenten Vertreterinnen einer Partei vertraut.
Und zu guter Letzt: Wenn der gewählte Parteivorstand durch öffentliche Auftritte eine gewisse Prominenz erlangt, dann ist er immerhin gewählt, also legitimiert. Nimmt er diese Rolle bewusst nicht wahr, dann landen vielleicht Piraten im Fernsehen, die überhaupt nicht gewählt und damit auch weder legitimiert noch abwählbar sind.
Dass ein Parteivorsitzender durch Medienpräsenz auch seine innerparteiliche Machtstellung stärken kann, muss die Partei dafür natürlich in Kauf zu nehmen bereit sein.
Flaschenpost: Beim Bundesparteitag in Halle fand eine Entscheidung über die zukünftige Ausrichtung statt, bei der Kernthemen und Bürgerrechte den Zuschlag bekamen. Seitdem agiert der Bundesvorstand als Team und weiß einen großen Teil der Basis hinter sich – das gab es seit 2012 nicht mehr. Wie kann aus dieser neuen Einigkeit heraus die Trendwende geschafft werden?
Carsten Koschmieder: Da in Deutschland streitende Parteien an Zustimmung verlieren, ist es für die Piraten tatsächlich erstmal gut, dass der BuVo harmonisch zusammenzuarbeiten scheint. Wenn ich davon ausgehe, dass es zwischen den unterschiedlichen Strömungen in der Partei keine Einigung und kein Miteinander geben kann, dann ist es tatsächlich besser, wenn eine Seite die Partei verlässt (oder herausgedrängt wird) und der Rest der Partei in Ruhe arbeitet. Und natürlich kann eine Partei, die sich über ihr Programm einig ist und sich nicht streitet, leichter die Trendwende schaffen, als eine Partei, die sich über ihr Programm uneinig ist und die sich ständig öffentlich und unschön streitet.
Das Problem bei dieser Trendwende ist meines Erachtens, dass die Fokussierung auf die sogenannten Kernthemen (also Urheberrecht, Internetthemen, Bürgerrechte) keinen Erfolg bringen wird. Natürlich kann die Partei sich aus Überzeugung auf diese Themen konzentrieren, aber wenn Sie mich nach den Erfolgsaussichten fragen: Die Piraten sind immer nur von vielleicht zwei Prozent der Wähler wegen ihrer Kernthemen gewählt worden. Umfragen zeigen, dass diese Themen die Menschen kaum interessieren und dass sie selbst für die Interessierten keinesfalls wahlentscheidend sind – selbst dann nicht, wenn die NSA-Affäre monatelang in allen Zeitungen steht. Darum gehe ich davon aus, dass auch mit einer besseren Organisation, weniger Streit, einem strukturierterem Wahlkampf und so weiter die Wahlergebnisse auf dem Niveau der letzten Wahlen bleiben werden.
Das heißt aber natürlich nicht, dass ich den Piraten empfehlen würde, Themen nur deshalb zu vertreten, weil sie vielleicht einen Wahlerfolg bringen könnten. Der Weg aber, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Themen der Piraten nicht nur wichtig, sondern wahlentscheidend sind und dass die Piratenpartei sie kompetent vertritt, ist ein sehr weiter.
Flaschenpost: Das klingt ja fast so, also ob den Piraten seit Halle die sozialen Themen weniger am Herzen lägen. Abgewählt wurde dort der Streit und die fehlende gute Kinderstube einiger Piraten. Das Humanistische, das Mitmenschliche oder, um einen großen Begriff zu bemühen, das Idealistische, hat in einem kernigeren Vorstand nicht weniger Gewicht.
Carsten Koschmieder: Auch unter dem neuen Vorstand setzt sich die Partei weiterhin für „linke“ Themen ein, das ist richtig: Sie beteiligt sich beispielsweise an der Aktion „aufRecht bestehen“, wo es um Sanktionen gegen Sozialhilfeempfängerinnen geht, und Stefan Körner wirbt in der Jungen Welt dafür.
Ich halte es aber für einen Fehler, die internen Streitigkeiten auf Personen und deren fehlende Sozialkompetenz zu schieben. Die Personalisierung von Problemen verhindert meist, die eigentlichen strukturellen Ursachen zu verstehen. Wenn ich an den Streit um Johannes Ponader im Bundesvorstand erinnern darf: Viele sagten damals, es läge vor allem an ihm und mit seinem Rücktritt würde alles wieder besser. Wurde es dann aber natürlich nicht, weil er gar nicht das Problem war. Und auch jetzt gibt es, wie oben schon beschrieben, in der Partei einfach völlig unterschiedliche Interessen – und nicht nur schlechte Umgangsformen.
Die Strömung innerhalb der Partei, die sich jetzt durchgesetzt hat, macht an vielen Stellen deutlich, dass sie die Partei in gesellschaftspolitischen Fragen weniger „links“ aufstellen möchte. So ist sie gegen die Blockade rechtsextremer Demonstrationen, eine progressivere Asyl- und Flüchtlingspolitik oder die klare Distanzierung von Parteimitgliedern, die ihre Meinungsfreiheit für diskriminierende Aussagen nutzen – alles Punkte, die den „Linken“, die jetzt die Partei verlassen, sehr wichtig waren.
Ich möchte hier gar nicht darüber urteilen, welche der Positionen nun die richtigen sind. Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass die Partei in Halle eben auch eine Richtungsentscheidung getroffen hat.
Flaschenpost: Welche Möglichkeiten bleiben Progressiven oder Parteilinken, in der Piratenpartei Politik zu machen?
Carsten Koschmieder: Die Mehrheit der Partei hat ja wie erläutert sehr deutlich gemacht, dass sie bestimmte „linke“ Positionen nicht nur nicht unterstützt, sondern ablehnt oder gar bekämpft. Insofern ist es schwer für Parteilinke zu sagen: Ich setze mich in der Piratenpartei für die Kernthemen ein und in einer anderen Gruppe XY für linke Themen, da mir beide wichtig sind. Denn: Eine Parteilinke, die sich innerhalb der Partei für die Kernthemen engagiert und auch sonst ein vorbildliches Mitglied ist, würde für ihr privates Engagement für allzu linke oder feministische Themen von anderen Parteimitgliedern trotzdem angegangen und beschimpft. Natürlich könnten sich „Progressive“ in Zukunft ausschließlich auf die Kernthemen beschränken und „linke“ Themen überhaupt nicht mehr verfolgen, um ohne Streit in der Partei bleiben zu können. Ich bezweifle aber, dass es viele gibt, die das wollten. Und abgesehen davon: Die Gräben in der Partei sind so tief, die Stimmung so feindselig, dass vermutlich selbst das nicht funktionieren würde.
Wenn ich mir auf Veranstaltungen anhöre, wie abfällig über die jeweils „andere Seite“ geredet wird, wenn ich höre und lese, was der jeweils „anderen Seite“ zugetraut wird, wenn ich mich an die Stimmung auf dem aBPT erinnere und an die Buh-Rufe, die es für Menschen gab, die für einen fairen Umgang miteinander warben – dann glaube ich einfach nicht, dass es da einen Modus vivendi geben kann. Zumal immer seltener noch auf das Verhalten einzelner Personen geschaut wird, sondern eine vermeintliche Gruppenzugehörigkeit bereits ausreicht – nicht unüblich bei Vorurteilen und Feindbildern. Ich selbst wurde ja auch schon angegriffen, nicht für den Inhalt meiner Äußerungen, sondern weil ich vermeintlich dem „anderen“ Lager angehören würde und darum das, was ich sage, falsch sein muss – absurd.
Der Rückzug in einen „progressiven“ Berliner Landesverband ist übrigens auch keine Option. Abgesehen davon, dass ein Landesverband sowieso nicht unabhängig von der Bundespartei ist (beispielsweise die Ordnungsmaßnahme gegen Christopher Lauer, aber auch finanziell): auch Berlin besteht ja nicht nur aus Piraten, die sich den Progressiven“ zurechnen.
Flaschenpost: Welche Möglichkeiten des politischen Engagements bleibt den Piraten, die die Partei jetzt verlassen?
Carsten Koschmieder: Diejenigen unter den Ausgetretenen, die nicht zu desillusioniert oder zu ausgebrannt sind, können sich natürlich außerhalb von politischen Parteien engagieren, da gäbe es genug Möglichkeiten. Die Gründung einer neuen Partei hingegen halte ich für sehr schwierig. Innerhalb der „Parteilinken“ wurde darüber ja jetzt seit Monaten diskutiert. Eine neue Partei hätte kein Geld, keine Mitglieder und keine Strukturen. Auch in Berlin müsste eine neue Partei zur Wahl wieder Unterschriften sammeln, selbst wenn ein Teil der Fraktion mit übertreten würde. Auch die staatlichen Zuschüsse gingen weiter an die alte Piratenpartei. Den Namen „Piraten“ dürfte die neue Partei wohl nicht im Namen führen, dann könnte sie aber nicht mehr Teil der internationalen Piratenbewegung sein. Bei Wahlen hätte die neue, unbekannte Partei erstmal keine Chance, zumal sie sich dann ja mit der ebenfalls antretenden Piratenpartei um ähnliche Wählergruppen streiten würde. Ich rechne also nicht mit einer neuen Partei.
Bleibt noch der Beitritt in eine andere Partei. Es gibt sicher einige, die sich bei den Grünen oder den Linken wiederfinden könnten, aber letztlich gab es ja bei den jetzt Ausgetretenen Gründe, warum sie Piraten geworden sind.
Flaschenpost: Vielen Dank Herr Koschmieder für die ausführlichen Antworten. Was Sie sagen macht nachdenklich, die Politik wird noch Überraschungen für uns Piraten bereit halten – und wir für sie.
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.