
CC-BY-SA 2.0 Joachim S. Müller

Rainer Bendig
Der Konflikt zwischen den Verfechtern einer Konzentration auf Piraten-Kernthemen rund um Netzpolitik („Kernis“) und den Befürwortern einer thematischen Erweiterung bis zu einem Vollprogramm („Vollis“) gehört seit der Gründung der Piratenpartei zu den zentralen innerparteilichen Streitthemen. Dieser Konflikt wurde in der Vergangenheit mit einer derartigen Vehemenz ausgetragen, dass er für schwer zu heilende Risse in der Partei verantwortlich war. Der Grund dafür liegt nicht nur in unserer mangelnden Kommunikationskultur und einer Vorliebe für Shitstorms. Vielmehr spielten wahltaktische, ideologische und strukturelle Gründe eine große Rolle. Eine Analyse der Hintergründe kann dabei helfen, einen Lösungsansatz zu finden.
Die große Stellvertreterdebatte
Der erste Grund für die Häufigkeit und Intensität, mit der die Kernthemendebatte aufflammte, liegt darin, dass sie in vielen Fällen als Stellvetreterdebatte anstelle von inhaltlicher Auseinandersetzungen geführt wurde. Das Argument, wir bräuchten unbedingt ein breiter aufgestelltes Programm, erklang in allen denkbaren Variationen bei vielen programmatischen Anträgen abseits des bis dato bestehenden Programms. Die Antragsteller und Befürworter dieser Anträge erhofften sich daraus eine höhere Zustimmung für ihr Anliegen. Genauso wurde von den Antragsgegnern die Bedeutung der Kernthemen betont, die dadurch versuchten, die Unterstützung für den Antrag zu schmälern. Neben rein taktischen Überlegungen spielte dabei sicherlich die apolitische – wenn nicht gar antipolitische – Haltung vieler Piraten eine Rolle. Politische Polemik war und wird mit Skepsis beäugelt, da sie der vorwiegend naturwissenschaftlich und technisch ausgerichteten Denkweise der Piraten im Kern widerspricht. Außerdem konnten wir bei vielen für uns zentralen Themen beobachten, wie solche Polemik zu sachlich absurden Gesetzen führen kann. Das Zugangserschwerungsgesetz von „Zensursula“ von der Leyen 2009 kann als trauriges Paradebeispiel dafür gelten. Dadurch fühlten sich viele Piraten wohler damit, eine Diskussion auf der Metaebene zu führen, anstatt in einer inhaltlichen Debatte Für und Wider einzelne Anträge zu ideologischen Festlegungen gezwungen zu sein.
Wunschliste statt gemeinsamer Werte
Neue Programmstruktur als Chance auf Versöhnung
Obwohl die Programmdebatte viel verbrannte Erde hinterlassen hat und viele ehemals aktive Piraten dazu trieb, entnervt aufzugeben, ist es noch möglich, die Situation zu drehen. Neben der Schaffung eines inhaltlichen Markenkerns zur Überzeugung von potentiellen Mitgliedern und Wählern kann das Selbstverständnis der Piratenpartei als Partei des digitalen Wandels dabei helfen, auch innerparteiliche Gräben zu schließen. Einerseits würde dadurch nämlich ein Markenkern definiert, der unsere Kernthemen umschließt und der uns weiterhin unsere Kompetenz und Glaubwürdigkeit bei Fragen der Digitalpolitik ausspielen lässt. Gleichzeitig schließt die neue Struktur aber auch die meisten derjenigen nicht aus, die sich in Themenbereichen jenseits der klassischen Piratenthemen engagieren. Der digitale Wandel beschränkt sich längst nicht mehr auf wenige Themenfelder, sondern wirkt sich auf immer mehr gesellschaftliche Fragen aus. Diese Entwicklung wird weiterhin anhalten. Sie in der Politik zu vertreten und zu gestalten, ist eine Chance und eine Mission für die Piratenpartei, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.
Stimmen aus der Partei
Die kürzlich abgeschlossene Mitgliederbefragung stützt die These, dass das Selbstverständnis als Partei des digitalen Wandels eine breite Unterstützung an der Parteibasis erfährt. Die Aussage „Wir PIRATEN sind die Partei der digitalen Revolution“ hat knapp 90% Zustimmung erfahren, eine grundsätzlich positive Einstellung zu Technik sogar noch mehr. Das ist eine wesentlich höhere Zustimmung, als sie die Frage nach einer stärkeren Konzentration auf Kernthemen erfuhr, und eine Detailanalyse zeigt, dass sie von Befürwortern und Gegnern der Priorisierung von Kernthemen gleichermaßen getragen wird.
Auch Vertreter beider Strömungen im Bundesvorstand der Piratenpartei sind offen gegenüber einer solchen Grundsatzpositionierung, auch wenn die Gewichtung einzelner Themenbereiche weiterhin unterschiedlich ausfällt.
Der Bundesvorsitzende Stefan Körner, der immer für eine stärkere Betonung der Kernthemen gekämpft hat und diese Forderung auch zum zentralen Thema seiner Kandidatur machte, ist zurückhaltend, aber grundsätzlich positiv gestimmt:
„Das Gesamtpaket der politischen Gestaltung des digitalen Wandels ist das, was wir sind, was uns auszeichnet und wofür wir insgesamt kämpfen. Jedem, der im Ansatz das binäre Zahlensystem durchschaut hat, ist dabei klar, dass die Digitalisierung unsere gesamte Gesellschaft nachhaltig verändert. Allerdings wünsche ich mir in der kurz- und mittelfristigen Perspektive eine klare Priorisierung zugunsten der Kernthemen, die die Menschen zuallererst mit den Piraten identifizieren. Bei Wahlkämpfen müssen wir konkrete netzpolitische Themen wie die Vorratsdatenspeicherung in den Vordergrund stellen.“
Stellvertretender politischer Geschäftsführer Bernd Schreiner engagierte sich jahrelang bei den Umwelt- und Sozialpiraten und steht Programmerweiterungen grundsätzlich positiver gegenüber. Auch er erkennt die Möglichkeiten, die eine Grundsatzpositionierung dieser Art der Partei eröffnet:
„Wir sollten uns als Kraft des gesellschaftlichen Wandels verstehen, der durch die fortschreitende Digitalisierung und globale Vernetzung aller Lebensbereiche, überall um uns herum stattfindet. Wir können als Piraten punkten, wenn wir mit unserem Fachwissen kompetent auf die daraus resultierenden Probleme, Neuerungen und Möglichkeiten eingehen, und zwar im Gegensatz zu allen anderen politischen Kräften aus einer grundsätzlich positiven Haltung heraus sich für den Menschen als soziales Individuum einsetzen. Verbunden mit der Metaforderung, dass der Mensch an erster Stelle steht, ergeben sich daraus sofort unsere Kernthemen und grundsätzlichen Methoden, wie die Forderung nach mehr Transparenz und Mitbestimmung oder einer Stärkung der Bürgerrechte, wie durch eine digitale Privatsphäre. Aber auch in vielen weiteren Bereichen, die auf den ersten Blick nicht direkt mit der voranschreitenden Digitalisierung zu tun haben, in Wirklichkeit aber ebenfalls einen radikalen Umbruch erfahren, entstehen so klare Positionierungen. Das beste Beispiel dafür ist der Wandel des Arbeitsmarkts, der vollkommen neue Paradigmen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik erfordert. Auch werden wir als politische Partei an Wahlerfolgen gemessen und dazu müssen unsere Stärken herausgearbeitet werden. Eine Selbstbeschneidung und ein scheuklappenbehafteter Blick auf das Themenfeld Internet hilft uns nicht, den Weg in die Parlamente zu eröffnen und damit dort unsere Forderungen einzubringen.“
Diese Stimmen zeigen, dass ein Selbstverständnis als Partei des digitalen Wandels das Potential hat, die Piraten zu einen und die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Gemeinsamkeiten anstatt unserer Differenzen zu lenken. Zusammen mit der Funktion als klarer Markenkern in der Außendarstellung – laut Umfrage wird ein solcher von einer überwältigenden Mehrheit der Piraten gewünscht – kann so die Grundlage für einen neuen Aufschwung und erfolgreiche Wahlkämpfe in den kommenden Jahren gelegt werden.