Es ist nicht einfach, einen Interviewtermin mit Anja Hirschel zu finden. Zuhause ist sie nur zum Schlafen. Die restliche Zeit verbringt sie neben der Arbeit auch an Infoständen, bei Bürgerinitiativen, bei Podiumsdiskussionen – ganz gleich, ob sie im Publikum oder auf der Bühne sitzt und neuerdings auch in Radio- und Fernsehstudios. Ich bin froh, dass sich ein Termin findet, an dem sie ohnehin am Bahnhof vorbei kommt – für mich eine einmalige Gelegenheit, um zum eigentlichen Interview gleich noch eine Stadtführung zu bekommen.
Wir treffen uns an der Bushaltestelle am Bahnhof und überqueren gleich darauf in der Friedrich-Ebert-Straße. In der Hirschstraße, der Haupteinkaufsstraße von Ulm, kommen wir am McDonalds-Container und der Sedelhof-Baustelle vorbei. Als Journalist bin ich darauf trainiert, Erzählungen schnell in mich aufzusaugen, um sie später aufschreiben können. Doch Anja Hirschel zeigt mir meine Grenzen auf, es gibt wohl nicht viel über Ulm, das sie nicht bis ins kleinste Detail kennt.
Bei den Sedelhöfen, so erfahre ich, gab es keine echte Bürgerbeteiligung. Nach massiven Protesten und der Insolvenz des Investors wurden die Pläne komplett überarbeitet. Als Ergebnis steht nun mehr Wohnraum und freier Zugang zur Stadt mit öffentlichen Flächen in den Plänen. Mein Versuch, mir alle Details zu merken, scheitert bereits im Ansatz. Nur eines bleibt noch im Gedächtnis hängen: Die beiläufige Bemerkung “Ich war bei den Bürgerinitiativen und Protesten dabei, die das bewirkten – ein erster kleiner Erfolg”. Auf dem Weg zum Münsterplatz erfahre ich viel über die ältere und neuere Stadtgeschichte und bekomme Lust, diese schöne Stadt noch einmal bei Sonnenschein zu besuchen. Wobei dieser in Ulm doch schon recht selten sein soll.
Ihr Infostand wirkt – nicht nur im Vergleich mit denen anderer Kandidaten – bescheiden. Ein kleiner Stehtisch mit Plakat und Flyern. Die anderen Kandidaten fuhren auf, was gut und teuer ist: Wahlkampfgeschenke vom Kuli über Ballons, bis hin zu Einkaufstaschen und Feuerzeugen. Von den anderen Kandidaten wird berichtet, dass sie auf 20.000 Euro und in einem Fall sogar auf 120.000 Euro Wahlkampfbudget zugreifen konnten. Anja Hirschels Wahlkampfbudget betrug nicht einmal 1000 Euro. Von der Stadt gibt es eine Beschränkung bezüglich der Anzahl der Plakate, nachdem eine freiwillige Selbstbeschränkung nicht erfolgreich war. Die einzelnen Parteien entdeckten jedoch reichlich Interpretationsspielraum, um dies durch Anmietung von Werbeflächen zum Beispiel direkt an Haltestellen zu umgehen. Wer heute durch Ulm spaziert, entdeckt die Omnipräsenz von CDU und SPD und wundert sich in Anbetracht von so viel Lust am Umdeuten darüber, dass manche Kandidaten für sich den Begriff “ehrlich” verwenden.
Dass Anja Hirschel bei Wind und Wetter selbst am Infostand steht, statt bei Nieselregen Parteisoldaten abzustellen, erklärt sie so: Auf der Wahlpostkarte steht “I mag Ulm au bei Sauwedder”. Das sei nicht nur so hingeschrieben! Die Wähler sollen ja auch eine Möglichkeit haben mit ihr ins Gespräch zu kommen, um sich ein Bild zu machen. Und wer in Ulm wohnt, ist das Wetter gewohnt.
Wer sieht, wie Anja Hirschel mit Ulmern spricht, glaubt, sie hätte schon immer in und für diese Stadt gelebt. Dabei kam sie aus Ehingen, und dann aus einem kleinen Dorf “auf der Alb” nach Ulm, das ihr schnell zur lieb gewordenen Heimat wurde. Hier kämpft sie nun für eine transparente Verwaltung, für Bürgerbeteiligung, die Modernisierung der Beleuchtung mit LEDs und für einen umlagefinanzierten, fahrscheinlosen Nahverkehr.
Nach 24 Jahren mit Bürgermeister Gönner sind die Ulmer zum ersten Mal seit Langem gezwungen, sich mit den Wahlprogrammen der Kandidaten zu beschäftigen. Auf Diskussionspodien machte Anja Hirschel eine gute Figur – und konnte mit ihrem Programm “Parkettsicherheit” beweisen.
Erreicht kein Bewerber am Sonntag mehr als 50%, wird ein zweiter Wahlgang erfolgen. Dort tritt jeder an, der nicht bis 02.12. um 18 Uhr zurückzieht. Auch neue Bewerber sind theoretisch möglich. Gewählt wird dann erneut am 13.12. Ein Paukenschlag wäre es, stünde Anja Hirschel schon nach dem ersten Wahlgang als neue Bürgermeisterin von Ulm fest. Unmöglich ist es nicht. Als ich am Bahnhof in den Zug steige, tut es mir leid, in Ulm nicht wählen zu können. Die Stadt hat eine engagierte Bürgermeisterin wie Anja Hirschel verdient!
Redaktionsmitglied Michael Renner
Meine Karriere als Redakteur bei der Piratenpartei startete 2009 beim Bundesnewsletter, aus dem 2010 die Flaschenpost hervorging. Im Sommer 2012 wurde ich stellvertretender Chefredakteur, Anfang 2014 Chefredakteur. Da die unzähligen Aufgaben an der Spitze der Flaschenpost einen Vollzeitjob in der Freizeit mit sich bringen, machte ich nach zwei guten, aber auch stressigen Jahren zwei Schritte zurück und gab die Redaktionsleitung ab. Die gewonnene Freizeit wird in die Familie und mein zweites großes Hobby, den Amateurfunk, investiert.