Es ist kalt in Hamburg an diesem Montag, den 23. November 2015. Kalt, aber strahlend sonnig und klar — „Kanzlerwetter“ sagen sie im Radio. Auf dem Weg zur Michaeliskirche parken wir in St. Pauli und laufen wenige hundert Meter in Richtung Michel. Weit kommen wir nicht. Die Ludwig-Erhard-Straße (ehemals Ost-West-Straße) ist bald hinter der Reeperbahn ab Holstenwall mit großem Polizeiaufgebot gesperrt — auf einer der Hauptschlagadern Hamburgs ruht der Verkehr. Wir kommen über kleine Nebenstraßen und Hinterhöfe näher.
1982 war es, als wir Kinder spürten, dass in der großen Politik etwas passiert war. Wir waren noch zu jung, um die Zusammenhänge zu begreifen, aber die Reaktionen unserer Eltern und Großeltern zeigten uns, dass sich Vieles verändern würde. Ihre Enttäuschungen und Sorgen teilten wir mit kindlichem Trotz und rührig unschuldiger Loyalität. „Wenn der Schmidt mal stirbt, gehe ich auf seine Beerdigung!“ Letzten Montag habe ich ein vor über dreißig Jahren gegebenes Versprechen eingelöst.
Dankbar bin ich, dass meine Frau mich begleitet. Mit Dutzenden Passanten stehen wir in der Englischen Planke, durch Absperrgitter auf den Bürgersteig gepfercht – auf der anderen Straßenseite das weit offen stehende Seitenportal der Hamburger Hauptkirche. Zwischen uns liegt die gepflasterte Straße, auf der Staatskarossen aus Berlin und vielen Landeshauptstädten parken. Alle zwanzig Meter stehen Polizisten und bilden so die Straße entlang eine lange Reihe Staatsmacht. Es ist seltsam, wie still wir alle sind.
Mit seiner Politik Ende der 70er / Anfang der 80er waren wahrlich nicht alle einverstanden; an seiner klaren Haltung zum NATO-Doppelbeschluss schieden sich die Geister. Viele wären lieber „rot als tot“ gewesen. Was ich an Helmut Schmidt aber bewundere, ist seine Treue zum Standpunkt. Es war Verlass auf ihn. Man musste nicht seiner Meinung sein, aber wir wussten, wo er steht. Zuverlässig. Der Mann hatte die Klasse, auch in stürmischen Zeiten seine Überzeugungen zu vertreten. Mit Anstand und Argument.
Drinnen, im Michel, im Warmen, sitzen 1800 geladene Gäste aus aller Herren Länder, um Helmut Schmidt die letzte Ehre zu erweisen. Aus dem Hamburger Kongresszentrum waren sie mit Polizeibussen angekarrt worden – wie man hört nach ausführlichen Sicherheitschecks vor der Abreise in die Kirche. Die Anschläge von Paris, die Panik in Hannover und die Hysterie in Brüssel färben auch auf die Verantwortlichen hier in Hamburg ab. Ist das der Grund, warum wir normalsterbliche, ungeladene Bürger hier draußen im Kalten stehen und ohne die versprochene Videoübertragung aus dem Innenren der Kirche auskommen müssen?
Drei Reihen hinter uns, an der Hauswand, lässt uns eine junge Frau akustisch an der Übertragung teilhaben, die sie ihrem kleinen Mobilgerät entlockt. Jetzt singen sie „Der Mond ist aufgegangen …“ Mir wird bang ums Herz. Ich sah ihn gerne im Fernsehen, wie er auf seine unverkennbare Art die großen Zusammenhänge verständlich machte, dabei das Wissen der Vergangenheit nutzte, um in die Zukunft zu blicken. Er fand dafür stets jene druckreifen Formulierungen, die einem großen Geist Gehör verschaffen. Wenn ich in seinen Büchern und ZEIT-Artikeln lese, höre ich sie zuweilen, seine Stimme, in ihrer hanseatisch klaren, dabei fast liebevollen Hamburger Wortfärbung.
Drinnen beim Staatsakt halten sie ihre Reden. Der Erste Bürgermeister bedauert, dass wir einen Giganten verloren haben. Mir kommt in den Sinn, dass die Piratenpartei lange das Motto „Themen statt Köpfe“ propagiert hatte. Themen sollen von einzelnen Personen unabhängig nur auf sachlicher und fachlicher Ebene vertreten werden. Heute wird mir der fatale Denkfehler daran bewusst. Wir Menschen funktionieren nicht immer kühl und rational. Wenn wir ehrlich sind, tun wir das in den seltensten Fällen. Wir vertrauen lieber auf jene, in denen wir Kompetenz, Führungsstärke und Anstand zu erkennen glauben. Sturmflut, Ölkrise und RAF-Terror waren die großen Krisen, in denen Millionen darauf vertraut haben, dass er sie bewältigt.
Frau Merkel spricht „Helmut Schmidts Tod ist für uns alle eine herbe Zäsur.“ Was sie damit wohl wirklich meint? Sie sagt auch, er sei eine „Instanz“ gewesen. Eine Instanz, ein Fixpunkt. Wie der Vater, zu dem die Kinder an den Strand zurückblicken, wenn sie sich zu weit ins Wasser gewagt haben – den Blick ins Sichere suchend. Spürt die politische Kaste, dass nun ein Fixpunkt fehlt? Jene Agierenden, die schon längst nicht mehr nachhaltig weitsichtig planen, nur noch von einer Krise zur anderen, von einem Krisengipfel zum nächsten stürzen, zum Geschrei des Tagesgeschäftes nicht schweigen, sondern selbst in „Talkshows“ immer lauter krakeelen, um von ihrem kurzsichtigen Aktionismus abzulenken. Sein analytisch klarer Verstand konnte ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig Rat und Tadel zugleich erteilen. Seinesgleichen werden wir schmerzlich vermissen. „Lieber Helmut Schmidt, Sie werden uns fehlen.“ schließt die Bundeskanzlerin.
Auf dem Bürgersteig, vorne am Absperrgitter, komme ich mit einem Mann ins Gespräch, der heute früh aus dem Wendland angereist war. Vor Jahren war er Schmidt einmal kurz vor dessen Reihenhaus in Langenhorn begegnet. Wir sprechen über diese persönlichen Erinnerungen, die wir mit Schmidt verbinden, über Anekdoten, die hundertfach schon erzählt sind und dann über das Vertrauen, das wir einem Mann entgegen bringen, den die wenigsten tatsächlich persönlich gekannt haben. Der Mann aus dem Wendland war heute nach Hamburg gekommen, um sich respektvoll vor dem Sarg zu verneigen.
Sein Tod erscheint so unwirklich. So lang wie sein Leben währte, so präsent ist er uns. Mit Gesten und Bildern. Mit Stimme und Worten. Mit Weitsicht und Weisheit. Und mit seiner Glaubwürdigkeit. Für mich waren der respektvoll liebevolle Umgang zwischen Loki und ihm, ihrer beider natürliche Herzlichkeit und ihre grundehrliche Bescheidenheit Ausdruck höchster Glaubwürdigkeit. Heute müssen wir machtgierige Egomanen ertragen, die nach der Politikerkarriere übergangslos zu jenen Wirtschaftskonzernen wechseln, deren Interessen sie längst vertreten und deren Gesetzesvorlagen sie willfährig durchgedrückt hatten. Politikerverdrossenheit, Vertrauenskrise, Marionettentheater. Keine Redlichkeit mehr erkennbar.
Henry Kissinger bezeichnet Helmut Schmidt als „Weltgewissen“ und beendet seine sehr persönliche Rede mit „Helmut wird bleiben – ein großer und guter Mensch.“ Mein Gigant schläft nur. Er wird mir wach, wenn ich ihn brauche. Es beruhigt und tröstet mich, darauf kann ich hoffen. Wenn es gar zu schlimm wird, und die moralisch Korrupten, die machtbesessen Gierigen und die lügnerischen Blender beginnen, populistisch sogar am rechten Rand zu fischen – dann wird er kommen, mein Gigant, seine Stimme erheben und die Kinder zur Räson bringen.
Wir am Seitenportal können nur in der Ferne den Sarg sehen, wie er aus der Kirche getragen wird – auf ausdrücklichen Wunsch der Familie von kirchlichen Trägern, nicht von Soldaten. Wir hören die Ehrenformation der Bundeswehr musizieren und ihm das letzte Geleit geben. Zwei Leichenwagen waren zuvor mit abgeklebten Nummernschildern an uns vorbeigefahren, um ihm seine letzte Fahrt anzudienen.
Die Hamburger stehen zu Tausenden an der Wegstrecke, um sich mit kleinen und großen Gesten von ihm zu verabschieden. Einige verneigen sich still, andere werfen Blumen vor die schwarzen Wagen, die zum Ohlsdorfer Friedhof unterwegs sind. Uns allen wird in diesen Momenten bitterlich bewusst, dass es in Hamburg so einen großen Abschied nie wieder geben wird. Doch Pathos war ihm suspekt. Das hält aber meine Tränen nicht zurück.
Ein bewegender, sehr persoenlich gehaltener Artikel von Hans vom Schloss, der zeigt, dass man dem grossen Mitmenschen Helmut Schmidt die Ehre erweisen kann, ohne in hohles Pathos abzugleiten, wie es so mancher Politiker anlaesslich seines Ablebens leider wieder tat, Henry Kissinger ausdruecklich ausgenommen.
1982, als das Misstrauensvotum Helmut Schmidt zu Fall brachte und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger machte, war ich gerade in Hong Kong, wo die damals fuehrende englischsprachige Zeitung in Ostasien, die South China Morning Post, schrieb, man werde sich nun leider daran gewoehnen muessen, statt eines Intellektuellen mit scharfem Verstand und klarem Hamburger Akzent jemanden vor sich zu haben, der sich in polterndem provinziellen Akzent artikuliere.
Dass Letzterer dann 16 lange, bleierne Jahre an der Macht blieb, hatte damals wohl kaum jemand geahnt…
Schon waehrend der Flutkatastrophe im Februar 1962 hatte sich der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt als spontan handelnder, umsichtiger und entschlossener Krisenmanger bewaehrt, der damals sehr viele Menschen, so auch mich, beeindruckte, als er in der Not ueber alle Zustaendigkeitsgrenzen hinweg den Bundeswehreinsatz organisiert und so, zusammen mit dem zustaendigen, ebenfalls ausserordentlich faehigen Vizeadmiral Bernhard Rogge (frueherer Kommandant des legendaeren Hilfskreuzers „Atlantik“), tausenden Menschen das Leben retten half.
Dass Helmut Schmidt eigentlich erst nach seiner aktiven Politikerzeit zu Beratungsinstanz wurde, war 1962 oder auch 1982 sicher noch nicht abzusehen gewesen, rundete dann aber das Leben dieses ausserordentlichen Politikers und Menschen sehr angemessen ab.
Dieser Lotse ist nun von Bord gegangen.
Schön geschrieben! Menschen mit Charakter, mit verlässlichen Werten und mit einer gewissen Ausstrahlung von Aufrichtigkeit, gedeihen nur, wenn deren Umfeld dazu förderlich gewesen ist! Unter den derzeitigen Bedingungen fehlen solche Menschen auch in Zukunft, wahrscheinlich deshalb, weil schon seit längerer Zeit das entsprechende Umfeld, um solche Menschen hervorzubringen, nicht mehr förderlich ist. Also sollte sich was ändern, wenn wir Menschen wie Helmut Schmitt nicht für immer vermissen wollen. Was damals für einige die Flut war, ist heute die misteriöse Zuwanderung für alle! Nur mit dem Unterschied, dass diese Flut keiner abwendet und höchst dilettantisch abläuft!
Nun ja, Helmut Schmidt hat schlecht über Willy Brandt geredet – dafür gibt es Zeugen –, dem er weder intellektuell noch politisch das Wasser reichen konnte, und er hat seine Frau Loki betrogen. Diese andere Frau, die Ehefrau eines CDU-Politikers, hat, als er sich, da er Kanzler wurde und Angst vor einem Skandal hatte und sich von ihr trennte, an Selbstmord gedacht. Der Wehrmachtsoffizier Schmidt hat bei Sandra Maischberger gesagt, er habe von den Verbrechen der Nazis nichts gewusst („Schmidt machte in Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus teils widersprüchliche Angaben.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Schmidt#Ausbildung_und_Wehrdienst), und er hat sich öffentlich über die Konvention des Nicht-Rauchens permanent hinweggesetzt. Im Fernsehen. Das sollte man wissen, wenn man diese Hommage liest.
Moin, den Vorwurf der „Untreue zu Loki“ möchte ich kurz in Relation setzen. Willy Brand, der von mir so geschätze Kanzler des „Wandels durch Annäherung“ gilt was „Frauengeschichten“ betrifft als der JFK der Bundesrepublik. Da ist das letzte Kapitel das wir kennen (Willy Brandt verlässt seine Frau Ruth für eine Jüngere) nur die Spitze des Eisbergs. Über Helmut Kohls Liebensleben wissen wir nicht viel. In einem Artikel zu seiner 2. Heirat war ein süffisanter Satz zu lesen Jahreszahlen nennt die klar machen, dass er mit der „Neuen“ noch zu Lebzeiten seiner ersten Frau zusammen war. Schauen wir zu FJS. Seine öffentliche Äffäre mit der Abiturientin fiele heute unter den Begriff „underage“. Gerhard Schröder ist inzwischen zum 4. mal verheiratet – ob es da fliessende Übergänge gab? Das prangere ich nicht an, es sei nur aufgeführt weil du den einen Seitensprung von Herrn Schmidt zum Thema machtest. Zuletzt nach Bayern und Herrn Seehofer. Seinem ausserehelichen Verhältnis sprang ein Kind. Es entspricht nicht dem christilichen Selbstverständnis seiner Partei beide sitzen zu lassen. Allerdings drängte ihn die CSU damals genau dies zu tun. Bei Vergleich all dieser Fehltritte gilt mir der verstorbene Helmut Schmidt noch immer als moralische Instanz, die weit über allen anderen steht.
Nun gut jeder hat wohl seine Licht und Schattenseite. Viele trennen auch zwischen Berufsleben und Privatleben. Wo das Auge eben hinsieht. Helmut Schmitt hat ganz offen von den Bilderbergern und dem Bohemia Grove geschrieben. Dennoch hat er Werte und Verlässlichkeit vorgelebt. Die meisten wussten bei ihm wo sie dran sind. Ob sie ihn verehrten oder nicht. Im Grunde ging er aus so mancher Kriese stärker raus als er zuvor hinein gegangen war! Aussitzen war nicht seine Handschrift. Und dass er eine Marionette war, wird ihm wohl auch keiner vorwerfen. Obgleich die stark zunehmende Staatsverschuldung mit ihm anfing und nicht von ihm verhindert werden konnte, kritisierte er viel später mal: Die Banken hätten eine ungeheuere Macht! Damit hat er noch immer recht!
Alkohol, Kaffee, Zigaretten, Frauen und andere Dinge gehören bei sehr vielen Politikern zur Tagesordnung! Ich bin ja der Meinung, dass zumindest in der höheren politischen Liega, welche ja zudem gut vergütet wird, auf sämtliche Süchte verzichtet werden sollten! Eine Nüchterne Politik täte uns allen gut und würde die Korupption verhindern helfen! Die Welt wäre eine ganz andere. Willi Brand hatte natürlich ebenfalls Charisma, obgleich er dem Alkohol überhaupt nicht abgeneigt gewesen sein soll.
Leider stehen wir heute vor ganz anderen Herausforderungen, welche ich schon jetzt für außerordentlich gefährlich halte! Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass Deutschland das Land seiner eigenen Zuwanderer bekriegt. Und dazu noch mit einer ein monatigen Vorankündigung! [Amn. d. Redaktion (Steve)] Letzter Satz entfernt. Bitte keine unhaltbaren Behauptungen aufstellen, denn das ist einfach nur das Schüren von Gerüchten – und in diesem Fall auch Angst.
Aussagen Schmidts, wie „Wertegebundene Außenpolitik ist abwegig …“ und „wer Visionen hat sollte zum Arzt gehen …“, sind, wenn man seine politischen Äußerungen im größeren Zusammenhängen verfolgt, sicher nicht ganz so ernst zu nehmen. Ersteres Zitat hat er im Gespräch teilweise selbst relativiert und das zweite hat er wohl selbst nicht ganz so ernst gemeint, dass man es ihm zum Vorwurf machen könnte, wenngleich er sicher pragmatischerer Natur war als Brandt und damit in bestimmten Situationen sicher auch gerade darum die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Dennoch war mir Brandt immer näher und lieber als Schmidt. Er hat auf andere Weise agiert, er hatte sicher eine politische Vision und er hat mit seiner Art Politik zu machen Großes bewegt, ich würde sogar behaupten mehr noch als Helmut Schmidt. Vielleicht gibt es keine Politiker mehr von Schmidts Format. Es gab und gibt aber noch weniger Politiker von Brandts Format. Und das bedaure ich vor allem als jemand, der gerne auch heute noch an die Demokratie glauben würde.